Lieber Papa
Erinnerst du dich? Als du 66 wurdest, schenkte ich dir zum Geburtstag eine CD von Udo Jürgens, die «Mit 66 Jahren» hiess. Seine grössten Hits waren drauf, Lieder, die ich natürlich von viel früher kannte und doch nicht mehr präsent hatte. Bevor ich sie dir gab, hörte ich selbst rein. Und war gefesselt. Von da an ging ich an jedes seiner Konzerte in Zürich. Und ich hörte seine Lieder. Immer wieder hatte ich andere Lieblingslieder, aber eines war speziell für mich:
«Gib mir deine Angst»
So viele Zeilen sprachen mir aus dem Herzen. Täglich hörte ich es am Morgen, immer wieder fühlte ich mich gehalten. Irgendwie verstanden. Da sang mir einer aus dem Herzen. Der musste kennen, was in mir vorging.
Ich habe mich gefragt, wovor ich mich als Kind gefürchtet habe. Was machte mir Angst? Zum Beispiel mussten meine Füsse im Bett immer in die Decke eingeschlagen sein. Nie durften sie irgendwo hervorschauen. Was dachte ich, könnte passieren? Glaubte ich an Monster? Unterm Bett? Die hervorkämen und meine Füsse abbissen? Ich kann es kaum glauben, ich erinnere mich auch nicht daran. Manchmal rief ich nach dir in diesen Momenten. Du kamst, gingst auf die Knie und schautest unters Bett. Dann hatte ich Angst um dich. Das weiss ich noch. Wenn du wieder hochkamst, war ich doppelt erleichtert.
„Da ist nichts. Schlaf jetzt!“
Ich erinnere mich, dass ich mich ab und zu selbst über den Bettrand nach unten beugte und kopfüber unters Bett schaute, um zu sehen, ob da wirklich nichts und niemand ist. Mutig oder dumm? Ich meine, was wäre gewesen, wenn sich da wirklich jemand versteckt hätte. Wenn das Monster mit Gebrüll auf mich gestürzt wäre. Was hätte ich getan? Wohl das, was ich immer tue, wenn ich erschrecke: Ich wäre mit schrillem Schrei aufgesprungen – oder aber vom Bett geplumpst. Beides nicht sehr heldenhaft und mutig.
Ich war schon immer schreckhaft. Und dann schreie ich. Laut. Schrill. Durchdringend. Manchmal musstest du nur zur Tür reinkommen, wenn ich mit dem Rücken zu dieser am Pult sass. Ich hatte deine Schritte im Flur nicht gehört, da klang es hinter mir:
„Sandra?“
Meine Sirene ging los.
„Das bin doch nur ich! Stell dich nicht so an!“
Es half nichts. Ich habe das noch heute. Heute ärgere ich mich selbst darüber. Und schäme mich. Finde mich peinlich. So gesehen war ich doch mutig, als ich mich meinen Monstern unter dem Bett stellen wollte. Vielleicht hätte ich sie in die Flucht geschrien.
Eine weitere Angst, die ich hatte, war die, abgelehnt zu werden. Wie oft hatte ich von dir gehört, dass man mit mir nichts zu tun haben wolle, weil ich sei, wie ich war. Wie oft hörte ich, ich sei anders. Eben nicht genehm. Nicht normal. Mit solchen wolle keiner zusammen sein. Und die Verachtung in deiner Stimme, wenn du von denen sprachst, die anders sind, die fürchtete ich, im Blick anderer zu erkennen. Oder in ihren Worten zu hören.
Ich hatte Angst, ausgelacht zu werden. Ich erinnere mich an eine Singstunde in der Schule. Das Mädchen neben mir, Barbara hiess sie, sagte, mit meiner Stimme könne man nicht singen. Die sei schrecklich. Von da an sang ich nie mehr freiwillig. Zumindest nicht, wenn mich wer hörte. In der Umkleidekabine wurde ich ausgelacht, weil mein Bauch rausstand. Ich sei dick, sagten sie, und lachten. Ich sei wohl ein Fresssack. Sagten sie. Der Bauch blieb mein wunder Punkt. Obwohl ich heute schlank bin, beäuge ich ihn immer argwöhnisch. Und ich vertrage keine Kommentare zu meinem Essen. Weil ich mich gleich getroffen fühle. Das Thema ist ein Minenfeld geworden. Du weisst es. Wir hatten schwere Zeiten. Aber das ist nun nicht das Thema.
Ich wurde auch ausgelacht, weil ich die falschen Kleider trug. Auf meinen standen keine Marken. Sie waren brav. Langweilig. DU sagtest, sie seien toll. Die anderen seien nur neidisch. Niemand war neidisch. Ich schämte mich. Vor den anderen. Und dann vor dir, weil du enttäuscht warst über meine fehlende Dankbarkeit dir gegenüber.
Ich wurde ausgelacht, weil ich vieles nicht durfte. Zum Beispiel abends lange draussen bleiben. Oder über Mittag rausgehen. Oder auf der Strasse spielen. Oder bei der Garageneinfahrt spielen. Oder auf andere Spielplätze gehen. Oder… Die anderen waren so frei und sie lebten mir diese Freiheit vor. Sie gingen überall hin und ich blieb zurück. Allein. Und wenn sie zurückkamen, gehörte ich nicht mehr dazu. Ich war nicht dabei gewesen. Ich fühlte mich allein.
Manchmal fühlte es sich an, als sässe ich in einem Gefängnis mit zwei Wärtern. Beide bedacht, Regeln zu setzen und auf deren Einhaltung zu achten. Weil alles seine Ordnung haben musste. Egal, was andere durften oder taten. „Die haben keine Ordnung“, sagtest du mit Verachtung in der Stimme. Deine zu überdenken kam nicht in Frage. Sie stand ausser Diskussion.
Weisst du, ich bin sicher, du wolltest das Beste für mich. So wie du es sahst. Und doch habe ich darunter gelitten. Ich fühlte mich allein in einer Ordnung, die nur für mich zu gelten schien. Das Gefühl, allein zu sein, kenne ich auch heute noch. Es hat sich in mir eingenistet.
„Du sagst du bist frei und meinst dabei, du bist alleine.“
So singt Udo Jürgens weiter. Wenn ich ihn höre, fühle ich mich für einen Moment weniger allein. Und oft denke ich dann auch an dich.
(«Alles aus Liebe», XXVI)
Entdecke mehr von Denkzeiten - Sandra von Siebenthal
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
