Lieber Papa
Wenn du zu Hause warst, hiess das: Familienzeit. Ich hatte zu Hause zu sein, wir machen Dinge gemeinsam. Einerseits waren da die Ausflüge am Wochenende. Die, für die ich dankbar sein musste, da ihr sie ja nur für mich machtet. Damit ich am Montag etwas zu erzählen hätte in der Schule. Dass sich niemand für diese ständigen Wanderungen interessierte, wolltest du nicht hören. Dass ich sie nicht machen wollte, auch nicht. Die anderen wären neidisch. Sagtest du. Und von mir warst du enttäuscht.
Auch eine wichtige gemeinsame Sache war das Essen. Bei anderen Familien ist das ungesittet. Sagtest du manchmal. Die kochen nicht mal richtig. Sagtest du. Keine Ordnung haben die. Wir hatten eine. Ich höre heute oft, das gemeinsame Essen sei wichtig. Da könne man sich austauschen. Ich kann mich nicht erinnern, dass bei uns geredet oder gar gelacht wurde. Wenn wir assen, liefen im Radio die Nachrichten. Die wolltest du hören.
«Pscht!»
Sagtest du, wenn ich etwas erzählen wollte. Du wolltest wissen, was in der Welt vor sich ging. Dazu last du auch täglich die Zeitung. Von vorne bis hinten. Schautest die Tagesschau, auf allen möglichen Sendern. Meine Rolle dabei? Nicht auffallen. Nicht hör- oder sichtbar werden. Das war am besten. Dann passte ich am besten ins Bild.
Ich weiss gar nicht mehr, was ich dabei fühlte. Allein? Nicht wahrgenommen? Nicht interessant genug? Vermutlich schon. Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Sicher lernte ich so, dass das, was ich erzähle, keiner hören will. Dass das, was ich zu sagen habe, nicht interessant ist. Schweigen wurde meine Welt. Ich liebte es, allein in meinem Zimmer zu sein. Da war keiner, der mich nicht hören wollte. Da waren meine Welten, in die ich eintauchen konnte: Bücher. Und Musik. Viel Musik.
Während ich das alles schreibe, merke ich die tiefe Trauer in mir. War sie damals schon da? Wohl schon. Und doch weinte ich nicht. Und vergass alles. Nach und nach. Bis heute. Und nun schreibe ich es auf. Und frage mich immer wieder: Wozu eigentlich? Ist doch nicht mehr wichtig. Wieso interessiert es mich plötzlich? Wieso will ich dir all das schreiben? Ich weiss es nicht. Was erwarte ich? Deine Antwort war immer
«Wir hatten es doch immer schön.»
Das wird nun nicht mehr ändern.
Ich erinnere mich noch an etwas bei diesen gemeinsamen Essen.
«Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.»
Ich weiss, das kennen viele. Und doch. Es war schrecklich. Ihr habt mir aufgetragen und eingeschenkt. Egal, ob ich das Essen oder Trinken mochte, egal ob ich Hunger hatte oder nicht. Alles musste weg. Reste waren keine Option. Wenn ich nicht zu Zeiten fertig wurde, standet ihr auf und gingt. Ich sass da. Allein. Mit dem vollen Teller. Das Essen wurde kalt. Und noch schlimmer. Am schlimmsten waren Lebern und Polenta. Da war immer dieser Brechreiz, wenn ich es essen musste. Und wenn die Lebern kalt wurden, bildete sich diese Haut auf der Sauce. Und die Polenta wurde oben krustig. Ich hasste diesen Schuhkarton mit dem fiesen, bitteren Geschmack. Und dieses Kitzeln am Gaumen von diesem körnig-breiigen Maispudding. Aber es half nichts. Der Teller musste leer sein.
Es wurde 13 Uhr, 14 Uhr, 15 Uhr. Ich sass da, den noch praktisch vollen Teller vor mir. Du warst wortlos im Wohnzimmer verschwunden. Mama zeigte sich auch nicht mehr. Und da kam mir die Idee: die Blumentöpfe. Sie standen rund um den Esstisch. Sie hingen von den Wänden. Standen auf Simsen und auf dem Boden. Ich begann, Lebern und Mais in den Töpfen zu vergraben. Irgendwann war der Teller leer. Ich trug ihn in die Küche. Mama nahm ihn wortlos entgegen und ich ging in mein Zimmer. Ich schämte mich so. Ich habe es nie erzählt.
(«Alles aus Liebe», XVIII)
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Essen aufessen, ja, das kenne ich auch. Allerdings nicht ganz so krass, wie Du es beschreibst. Manchmal gab es Alternativen für die Kinder. Ich, zum Beispiel, bekam sonntags Spinat mit Rührei, wenn es Brathähnchen gab.
Ich wurde verschickt und dort mussten wir alles essen und aufessen, egal, wie lange es dauerte. Schließlich sollten wir zunehmen. Mit Grausen erinnere ich mich an die Schokoladensuppe mit Haut. Leider gab es keine Blumentöpfe……
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Haut – ein Graus. Auf allem gab es sie: Milch, Suppe, Cremes, Saucen….
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😝
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