Katharina Seck: Die Vermesserin der Worte

Dieses Buch ist ein Buch voller poetischer Sätze und tiefer Gedanken. Es ermöglicht ein Eintauchen in die Geschichte von Menschen, die Geschichten lieben, die dafür und davon leben. Es ist eine Hommage an die Welt der Bücher und die des Erzählens. Worum geht es?

Ida ist Schriftstellerin, doch die Worte sind ihr abhandengekommen. Als das Geld knapp wird, nimmt sie eine Stelle als Haushaltshelferin an bei Ottilie, einer alten einsamen Frau, die alle vergrault, die sich ihr nähern – so scheint es. Ida ahnt noch nicht, dass dies für sie all das werden soll, was sie dringend braucht – und sie für Ottilie dasselbe ist. Ein Buch über das Schreiben, die Sprache, über Freundschaft und darüber, dass man Träume leben soll.

Als ich dieses Buch begonnen habe, war ich von der ersten Seite an verzaubert von der Schönheit der Sprache, von den bunten Bildern, die die Autorin damit malt.

„In ihrem Kopf herrschte eine seltsame Leere, ihr Ausdrucksvermögen verflüchtigte sich, und ihr Herz bröckelte mit jedem leeren Blatt und jedem verschwundenen Wort ein wenig mehr vor sich hin.“

Wer mit Herz und Seele schreibt, weiss, was es bedeutet, wenn einem die Wörter ausgehen. Dies passiert Ida am 1. Januar eines neuen Jahres und wirf damit ihr Leben durcheinander.

„Überhaupt war in den letzten Jahren vor der schicksalshaften Silvesternacht alles erträglich gewesen, solange sie nur in ihre Fantasie und das, was sie niederschrieb, eingehüllt war.

Was vorher für sie Lebensinhalt und auch Flucht aus der Welt war, ist nun verschwunden und hinterlässt eine klaffende Lücke. Nicht nur in ihrem Leben, auch in ihrem Portemonnaie. Nur aus diesem Grund nimmt sie die Stelle als Haushaltshilfe auf dem Land an. Bei ihrer Einführung in ihre Tätigkeit kann man schon auf die Idee kommen, dass sie an diesem neuen Ort nicht am falschen Platz, sondern genau an der richtigen Stelle ist:

„Nun, das Gute ist, dass sich in diesem Haus vermutlich mehr Worte verbergen, als sie nur erahnen können. Irgendwo zwischen Putzmittel, Handfeger und Staubfängern, versteht sich.“

Ottilie, die Hausherrin und Idas neue Chefin, soll recht behalten. Die Worte finden sich aber nicht nur im Putzschrank, sondern in tausenden von Büchern, die überall im Haus zu finden sind. Ida trifft aber nicht nur auf Bücher und eine schwer durchschaubare ältere Dame, sondern auch auf ein Geheimnis, das irgendwo in der Geschichte von Ottilie versteckt ist. Dieses will sie ergründen, auch, um Ottilie besser zu verstehen.

„Wenn es einen nach Wundern verlangt, sollte man nicht zu gierig werden.“

Leider passieren die erwünschten Dinge nie von heute auf morgen. Und meist auch nicht alle. Wunder brauchen ihren Raum und ihre Zeit. Eine wichtige Lehre, die Ottilie Ida mit auf den Weg gibt, als diese wieder verzweifelt ist wegen des Verlusts ihrer Worte.

„Was war sie denn schon ohne ihre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen? Was war noch von ihr selbst übrig?

Verzweifelt ist sie oft, auch, weil sie sich über ihre Worte definiert. Von Grund auf mit einem geringen Selbstbewusstsein ausgestattet, das von ihrem Vater und dessen Geringschätzung für ihr Tun noch befördert wird, hält sie sich an dem, woran sie wirklich glaubt: Ihre Literatur, ihr Schreiben. Und genau das hat sie nun im Stich gelassen. Woran nun noch glauben?

„Wir sind niemals allein. Wir sind umgeben von Hunderten, ach was, Tausenden Buchcharakteren, was bedeutet, dass man gar nicht einsam sein kann.“

Bücher als Gesellschaft, Figuren aus Erzählungen als Freunde, lesen als Eintauchen in andere Welten, solche, in denen man aufgeht, in denen man sich wohl fühlt. Was für ein schönes Bild.

Dass das Buch am Schluss etwas lang wird, tut dem Lesegenuss keinen Abbruch. Die liebenswerten, authentischen Figuren, die wundervolle Sprache, die herzerwärmende Geschichte bewirken, dass dieses Buch zu Herzen geht und da bleibt.


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