In vielen Ländern ist ein bedenklicher Rutsch nach rechts festzustellen. Parteien spielen plötzlich vorne mit, die Erinnerungen an düstere Kapitel unserer Geschichte wach werden lassen. Woher kommt dieser Gesinnungswandel bei einem mittlerweile grossen Teil der Bevölkerung?
Didier Eribon hat dies in seinem Buch «Rückkehr nach Reims» aufgrund autobiographischer Erlebnisse thematisiert. Waren sein Vater und das ganze Arbeiterumfeld früher Links-Wähler und Kommunisten, haben sie ein paar Jahre später den rechten Parteien zugejubelt. Das weckte beim Soziologen die Frage nach dem Warum:
«Wie konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die «natürliche» Wahl empfand?»
Eine erste Begründung fand er nach dem Eintritt von Mitterrand in die Regierung:
«…nach dem Sieg der Linken… setzten im Volk bald Ernüchterung und Verdrossenheit gegenüber der politischen Klasse ein. Man fühlte sich von den Gewählten vernachlässigt.»
Die Bürger fühlten sich nicht mehr angesprochen, sie fühlten sich vernachlässigt und erneut zu Opfern des Systems gestempelten:
«Die Politiker sind alle gleich. Ob links oder rechts, die Rechnung zahlen immer dieselben»
Dies lag auch daran, dass sich die thematischen Inhalte drastisch verändert hatten:
«Die Idee der Unterdrückung, einer strukturierenden Polarität zwischen Herrschenden und Beherrschten verschwand aus dem Diskurs der offiziellen Linken und wurde durch eine neutralisierende Vorstellung des Gesellschaftsvertrags ersetzt, in dessen Rahmen «gleichberechtigte» Individuen (gleich? Was für ein obszöner Witz) auf die Artikulation von Partikularinteressen zu verzichten (das heisst zu schweigen und sich von den Regierenden nach deren Gusto regieren zu lassen) hätten.»
Und weiter:
«Die linken Parteien mit ihren Partei- und Staatsintellektuellen dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden, sie sprachen nicht mehr im Namen von und gemeinsam mit den Regierten, sondern mit und für die Regierenden, sie nahmen gegenüber der Welt nun einen Regierungsstandpunkt ein und wiesen den Standpunkt der Regierten verächtlich von sich…»
Eine neue Hierarchie zeigte sich:
…»liess man sich bestenfalls dazu herab, diejenigen, die gestern noch «unterdrückt» und «beherrscht» gewesen waren und politisch «gekämpft» hatten, als «Ausgeschlossene» darzustellen, als «Opfer» von Armut, Prekarisierung und Ausgrenzung» und somit als passive und stumme potenzielle Empfänger technokratischer Hilfsmassnahmen.»
Geschrieben 2009 über die Zeit in den 70er und 80er Jahren in Frankreich, und heute aktuell wie nie. Wieso also kommt es zu einem Rutsch nach rechts? Wieso laufen ehemals Linke zu rechten Parteien über?
Weil die Linken ihre Ursprünge verleugnen und sich gegen die, für die sie früher einstanden, mit denen sie sich solidarisch zeigten, stellen. Weil sie sich von ihnen entfernen, ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Themen nicht mehr vertreten, stattdessen mit Inhalten um sich werfen, die im akademischen Zirkus erdacht und nicht im Leben erlitten werden. Und die vormaligen Linken und Wähler der Linken verstehen die Welt nicht mehr, in die diese entschwunden sind, fühlen sich zurückgelassen, verraten, ungehalten – und das werden sie. Und sie suchen einen Ort, wo sie ihre Themen vertreten sehen, wo sie das Gefühl haben, es gehe um sie.
Um es (zugegeben etwas plakativ und verkürzt) zusammenzufassen
«Dem, der kein Brot hat, ist es egal, ob es der oder die Brot heisst, er möchte satt werden.»
Und es scheint, als ob das auf der linkenAgenda kaum mehr einen Stellenrang hat.
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Sehr gern gelesen. So sehe ich es auch
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Danke dir!
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Dasselbe ist mit den Grünen passiert. Von einer Partei des Naturschutzes, der Naturheilkunde, des Friedens ist sie, kaum kam sie an die Regierung, dazu übergegangen, die Natur im Namen der „Energiewende“ zu opfern, Impfen als Allheilmittel zu erklären und den Krieg gegen Russland auszurufen. Wohin sollen die ehemaligen Unterstützer sich wenden? Wer greift ihre Themen auf? In Deutschland ist es …. die AfD, die, wenn sie denn irgendwann mitregiert, genauso ihr Programm vergessen wird. Und die Schafe schauten dumm in dem ganzen Kreis herum. Siehe auch: Farm der Tiere.
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Das sehe ich wie du – und ja: Man könnte es wissen, und was tun, aber den meisten Politikern scheint es nur darum zu gehen, ihren eigenen Erfolg in der Politik zu fördern, nicht um die wirkliche Sache.
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Und wenn sie ausnahmsweise mal tun, was sie angekündigt haben, ist es eine Katastrophe -ob Hitler oder Pot Pol … Weniger extreme Beispiele für konsequente Realisierung des angekündigten Programms gibt es natürlich auch, zB Thatchers neoliberale Politik oder „sozialistische“ gesellschaftliche Umgestaltung a la Ulbricht. Aber da kann man jedenfalls sagen: ich hätte es wissen müssen.
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Es gibt so vieles, was heute keinem halbwegs klar denkenden Menschen zu vermitteln ist. Warum zum Beispiel floss in den Zeiten bis 1990 jahrzehntelang Erdgas von Russland nach Europa, damals, als sich die Systeme waffenstarrend gegenüber standen. Zu einer Zeit, in der Gewalt wie heute Teil der großen Politik ist, egal, wie verabscheuungswürdig ich das finde. Gewalt, die von Amerikanern wie von Russen gleichermaßen ausging. Der dennoch stattfindende gegenseitige Handel war m.E. mit ein Grund dafür, dass es am Ende nicht zur großen Katastrophe kam.
Heute dagegen zerbomben unsere „Freunde“ unsere Versorgungsleitungen und nichts passiert. Im Gegenteil, es wird Unmengen Geld in Waffen gesteckt, Hilfe an einem nicht dem eigenen Militärbündnis zugehörigen Volk geleistet, abgrunddumme Versprechungen unter Ausblendung der Realität gemacht.
In der Innenpolitik wird an der Lebensrealität von Millionen Menschen vorbei regiert, Stichwort heizen, Energie, Mobilität, Deindustriealisierung.
Die einzigen, die genüsslich diese Dinge thematisieren, sind die Rechten. Natürlich haben sie es leicht. sie können die handelspolitischen und sicherheitspolitischen Realitäten in unserem Verhältnis zu Amerika ignorieren. Gleichzeitig sind sie ein Auffangbecken für übleste Faschisten und Demagogen aller Art. Sie sind für mich aufgrund ihrer rassistischen Grundhaltung nicht wählbar, obgleich sie mir zumindest in Teilen aus der Seele sprechen. ander sind da nicht so pingelig, vor allen dann, wenn die eigene Existenz gefährdet ist. Hier liegen m.E. die Gründe für den so noch nie dagewesenen Rechtsruck.
Bleibt die Frage, wen überhaupt noch wählen?
Gleicht der Wahl zwischen Pest und Cholera.
Gruß Reiner
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Ich glaube, dieses Grundgefühl von „wir sind nicht mehr gemeint“, an uns wird „vorbei regiert“ ist das, was Menschen dazu treibt, dahin zu gehen, wo sie denken, gesehen zu werden. Und damit spielen dann die rechten Parteien, indem sie sich „volksnah“ geben, „das Volk ansprechen“ (das „kleine Volk“ klingt mit und genau die werden angestachelt, die, welche sich klein gemacht, klein gehalten, damit übergangen fühlen).
Und ja, wen kann man wählen? Ich denke nach wie vor, das Weiterdenken in rechts und links wird uns nicht weiterbringen. Wir müssten weg von Polarisierungen und Identitäten, hin zu Sachpolitik. Es ist egal, wer was sagt, wichtig ist, wohin es führen soll. Und das ist bei Problemen, die alle betreffen, eigentlich nur gemeinsam machbar. Aber wir laufen immer mehr in eine Zerstückelung, in eine Separation. Jede noch so kleine Gruppe spaltet sich mit ihrem persönlichen Interesse ab und kämpft gegen die anderen und für sich. Damit wird die grosse Kraft des Miteinanders so sehr gespaltet, dass sie verschwindend klein wird. Wirkunmächtig.
Ein weites Feld…
Liebe Grüsse, Sandra
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Ich habe den Text gelesen und gemeint, Du schreibst aus dem Heute. Dabei sind es 14 Jahre her. Also 14 Jahre Rechtsrutscherei. Das ist unglaublich! Und es ist so, wie Reiner schreibt, wen soll man noch wählen. Die Rechten haben in einigen Teilen für mich sehr berechtigte Anliegen, aber das inhumane Fundament, auf dem diese gedeihen, machen sie für mich unwählbar.
Vielen Dank für Deine spannende Anregung
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Leider wahr. Es ist alles nicht neu, es ist sichtbar, viele klagen es an, doch es passiert nichts. Die Frage ist wirklich, wo das so hinführen soll, und ob wir nicht bald mal aufwachen.
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