Inhalt
«An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heissen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.»
Eddy wächst in einem kleinen Dorf im Norden Frankreichs auf. Hier ist das Leben noch in Ordnung, hier weiss man, wie der Hase läuft, hier ist bestimmt, wie ein Mann und wie eine Frau zu sein hat. Eddy passt nicht hinein, seine Stimme ist zu hoch, seine Gestik zu weiblich, seine Lebenswünsche zu abgehoben. Er wird gemobbt und beleidigt. Krampfhaft versucht Eddy, sich zu ändern. Jeden Morgen betete er sich mantraartig vor, er sei ein Kerl, er übt mit tiefer Stimme zu sprechen, lässt sich mit Mädchen ein. Er tut alles, was er kann, um sein Anders-Sein zu überwinden. Und wenn es nicht gelingt, lächelt er den Schmerz weg, schluckt die Scham herunter. Er versucht weiter, sich bis zur Selbstverleugnung anzupassen, bis er merkt, dass dies nie gelingen wird – es muss eine andere Lösung geben.
Gedanken zum Buch
«Aber das Verbrechen besteht nicht darin, etwa szu tun, sondern etwas zu sein Und vor allem auch so auszusehen.»
«Das Ende von Eddy» ist ein Buch darüber, wie es ist, anders zu sein und wegen diesem Anderssein nicht dazuzugehören. Es ist ein Buch über die Scham, nicht ins Bild zu passen, über die Abwertung durch Sprache, durch Gewalt, wenn man ist, wie man nicht zu sein hat. Ein Buch darüber, mit welchem Schmerz manche Kinder aufwachsen und Erwachsene durchs Leben gehen müssen, nur weil Menschen einen Massstab aufgestellt haben, wie einer zu sein habe, um richtig zu sein.
«…wegen der Besessenheit, mit der ich alles nachahmte, ja nachäffte, was als männlich galt – ‘Wer sich nicht als Mann fühlt, bemüht sich, als einer zu erscheinen, und wer seine innere Schwäche kennt, stellt nach aussen gern Stärke zur Schau.’»
Kinder wollen gefallen, vor allem wollen sie nicht anecken, anstossen, ausgestossen werden. So auch Eddy. Krampfhaft will er in die Rollenklischees passen, die man im Dorf aufgestellt hat. Er übt einen männlichen Gang, behält die Hände in den Hosentaschen beim Reden, um nicht herumzufuchteln, spricht mit immer tieferer Stimme. Er vergisst dabei, dass sich der Körper nicht verleugnen lässt, dass man sich nicht selbst belügen kann, doch diesem zeigt es ihm immer deutlicher. Immer mehr leidet Eddy an seinen Anpassungen und Selbstverleugnungen, bis er es selbst nicht mehr aushält.
«Dieser Willen, diese stets neue, verzweifelte Anstrengung, immer noch auf jemanden hinabzusehen, der unter einem steht, um sich nicht selbst ganz am Ende der sozialen Leiter zu fühlen.»
«Das Ende von Eddy» ist auch ein Buch über Klasse. Es zeigt das Aufwachsen in Armut, zeigt das Stigma des Lebens in Armut und die Herabsetzung durch die Gesellschaft. Nicht nur reicht das Geld für die meisten Dinge nicht, da sind auch die Blicke und die Bemerkungen der anderen. Da sind Zugänge zu Bildung, Kunst, Sprachgebräuchen, die dem Armen verschlossen sind. Die Scham, arm zu sein, lässt sich oft nur dadurch mindern, dass man einen findet, der noch ärmer ist, auf den man hinabsehen kann. So gehört man wenigstens auch einmal zu denen, die spotten und ist nicht nur selbst der Verspottete. Bloss hält man damit das System, unter dem man selbst leidet, eigentlich auch am Laufen.
Edouard Louis gelingt es, seine Geschichte, die von Herabsetzung, Gewalt und Armut geprägt ist, zu erzählen, ohne wehleidig oder sentimental zu sein. Er verurteilt nicht, er beschreibt nur, wie es war. Er zeigt diesen Jungen, der er war, wie er versucht, in einem ihm feindlichen System möglichst heil zu bleiben. Er hält damit der Gesellschaft einen Spiegel vor, den diese dringend benötigt.
Fazit
«Das Ende von Eddy» ist ein grossartiges Buch, ein Buch voller Tiefe und Klarsicht, das die Strukturen unserer Systeme unbarmherzig entblösst und die Grausamkeit des Menschen im Umgang mit Andersartigkeit ans Licht bringt. Es ist ein Buch direkt aus dem Leben, das mitten ins Herz sticht.