Gedankenströme: Verstehen wollen

«Sprache ist nicht Wahrheit, sondern reflektiert unser Dasein in der Welt.» Paul Auster

Wieso schreibe ich? Was treibt mich an, Tag für Tag Buchstaben zu Worten und Worte zu Sätzen zu formen? Es ist nicht mal so sehr ein Schreiben-Wollen, sondern eher ein Müssen, ein Wissen darum, dass ich nur im Schreiben das finde, was für mich lebensnotwendig ist, weil es mir im Leben immer wieder darum geht: Verstehen wollen. Ich will verstehen, wie die Dinge laufen. Ich will verstehen, wieso die Dinge sind, wie sie sind. Ich will verstehen, wieso ich bin, wie ich bin. Und ich will verstehen, wie ich durch die Welt gehe, und wieso ich es auf die Art und Weise tue, in der ich es tue. Ich möchte verstehen, wieso die Welt mir erscheint, wie sie es tut, und ich möchte verstehen, wieso Menschen auf mich reagieren, wie sie es tun. Und ich auf sie.

Ich schreibe, weil durch das Schreiben mir die Dinge verständlich werden. Wenn ich nicht schreibe, schwirren sie in wilden Formationen durch mein Hirn, drehen und wenden sich, werden kaum fassbar, sind oft ein Durcheinander von losen Fetzen, die mich umtreiben. Indem ich sie einfange, zu Papier bringen, nehmen sie langsam eine Ordnung an, werden sie zu etwas, das sich immer deutlicher zeigt, bis ich es fassen, erfassen kann. Dann komme ich dem Verstehen näher. Und mit dem Verstehen kommt die Ruhe.

Ich mag es nicht, wenn Dinge unklar sind. Ich mag es nicht, wenn ich Dinge nicht einordnen kann. Zwar mag ich Fragen, doch möchte ich sie dann klären. Das Ungeklärt lassen liegt mir nicht. Ich kann sie nicht einfach mal beiseiteschieben oder offenlassen. Sie lassen mir dann keine Ruhe, sondern drehen sich, löchern mich, bewegen mich, treiben mich um. Ich gehe den Dingen gerne nach, erforsche sie, will sie erkennen und erklären können. Zumindest für mich. Und oft, wenn in mir ein Wieso oder Warum auftaucht, greife ich zum Stift, weil ich gemerkt habe, dass sich die Lösungen meist im Prozess des Schreibens wie von selbst aufs Papier ergiessen.

Und manchmal denke ich, dass mein eigenes Leben ein grosses Geheimnis ist, eines, das ich noch nicht ergründet habe. Es liegt hinter mir, ist mit mir und erstreckt sich weiter in die Zukunft. Und im Heute denke ich manchmal, woher die Dinge kommen, die ich wahrnehme, wo sie ihren Ursprung nahmen. Wo sind all die Fragen, Sätze, Gefühle, Affekte entstanden, die ins Heute wirken, manchmal auch auf eine Weise, die ich mir selbst nicht erklären kann? Und so fange ich an, mich meinem Leben entlangzuschreiben, grabe in die Tiefen und hole, einem Archäologen gleich, die Fundstücke ans Licht. Vielleicht ist es genauso, wie es auch Daniel Schreiber in seinem Buch «Zuhause» schreibt, dass etwas in mir mich dazu trieb

«die Geschichten, die mich umtrieben, so oft zu erzählen, bis sie einen Platz in mir fanden, mit dem ich leben konnte.»

Thich Nhat Hanh: Mit dem Herzen verstehen

Verstehen als höchstes Gut

Daher sollte man wissen, dass vollkommenes
Verstehen
das höchste Mantra ist, das Mantra ohne-
gleichen,
das alles Leiden aufhebt, die unzerstörbare
Wahrheit.
[…]
Gate gate paragate
parasamgate
bodhi svaha

Das Herz-Sutra ist eines der wichtigsten buddhistischen Sutras, es enthält die Essenz der Lehre Buddhas in konzentrierter Form. Es geht darum, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu durchschauen, nicht nur oberflächlich wahrzunehmen. Erst in der Vertrautheit mit dem wirklichen Wesenskern der Dinge können wir sie verstehen. Die Vertrautheit mit den Dingen, wie sie wirklich sind, ist wiederum Nahrung für das Mitgefühl in uns selber und auch in anderen.

Untersuchen wir dieses Stück Papier näher, so können wir auch den Sonnenschein darin sehen. Gibt es keinen Sonnenschein, kann der Wald nicht wachsen und alles andere auch nicht. Daher wissen wir, dass auch der Sonnenschein in diesem Papier ist und dass sich beide wechselseitig bedingen und durchdringen.

Das Inter-Sein der Dinge nimmt einen zentralen Punkt in der Achtsamkeit für die Welt und die darin vorkommenden Dinge ein. Indem wir nicht nur oberflächlich wahrnehmen, was wir sehen, sondern dahinter den Kreislauf des Lebens erkennen, können wir den Zusammenhang von allem sehen. Wir werden gewahr, dass nichts unabhängig vom anderen existiert, sondern alles durch anderes bedingt ist.

Thich Nhat Hanh bringt dem Leser in kurzen Texten die Botschaft des Herz-Sutras nahe. In poetischen Bildern und klaren Worten versteht er es, das kurze und dennoch prägnante Herz-Sutra verständlich zu machen und dem Leser damit die Augen für die Wahrheit hinter den offensichtlichen Dingen zu öffnen.

Fazit
Klar, poetisch, tiefgründig, lehrreich – ein kleines Buch mit grosser Wirkung. Prädikat: Absolut empfehlenswert.

 

Thich Nhat Hanh
Thich Nhat Hanh, 1926 in Vietnam geboren, gehört als sozial engagierter buddhistischer Mönch und Zen-Meister zu den bedeutendsten spirituellen Lehrern der Gegenwart. Die schmerzhaften Erfahrungen des Vietnamkriegs haben sein Bewusstsein dafür gestärkt, wie die buddhistische Lehre und insbesondere die Entwicklung von Achtsamkeit dazu beitragen können, Konflikte zu lösen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Thich Nhat Hanh lebt im Exil, seit ihm anlässlich einer Reise in die Vereinigten Staaten 1966 die Regierung von Südvietnam die Rückkehr in seine Heimat verweigerte. Er ist Autor zahlreicher Bücher und engagiert sich in der Friedensarbeit und Flüchtlingsbetreuung.

 

Angaben zum Buch:
ThichNhatHanhHerzenTaschenbuch: 224 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag (20. Mai 2013)
Übersetzung: Ursula Richard
ISBN: 978-3442220151
Preis: EUR: 8.99 ; CHF 14.90
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