Tagesgedanken: Nach eigenen Überzeugungen leben

Wenn man an Simone de Beauvoir denkt, steht einem oft das Bild einer starken, selbstbewussten Frau vor Augen, die eines der grossen Standardwerke für/über die Frau geschrieben hat: „Das andere Geschlecht“. Simone de Beauvoir ging ihren Weg, und sie wählte einen, der für Frauen damals nicht üblich war.

Sie studierte Philosophie an einer angesehenen Universität unter vorwiegend Männern, und sie schloss als eine der Besten ab. Sie wählte für sich ein Leben, das unabhängig und selbstbestimmt war, und sie widmete es dem, was sie tun wollte: dem Schreiben. Sie kämpfte für das, was ihr wichtig war, allem voran ihre Freiheit. Sie nahm sich das Recht heraus, ihr Leben als die, die sie sein wollte, zu leben, ohne Rücksicht auf Konventionen und gesellschaftliche Ansprüche. Dass sie damit immer auch aneckte, Argwohn und Kritik auf sich zog, liegt auf der Hand. Auch wurde sie als Frau oft nicht ernst genommen, stand als Philosophin mehrheitlich im Schatten ihres Lebensgefährten Sartre (dieser sah das nie so und verdankt bei Lichte betrachtet einige der ihm zugeschriebenen Gedanken Simone de Beauvoir) – das traurige Los vieler Frauen der (wirklich nur?) damaligen Zeit.

Doch da war eine andere Seite: Als sie sich in der Mitte ihres Lebens in den Schriftsteller Nelson Algren verliebte (wohl ihre grosse Liebe, auch wenn sie Sartre immer an erster Stelle in ihrem Leben behielt), wurde sie bei ihrem gemeinsamen Leben plötzlich zur fürsorglichen Frau, stellte ihm Apfelschnitze hin, sorgte für ein ansprechendes gemeinsames Liebesnest, übernahm also wie selbstverständlich die typischen Frauenaufgaben. Sie hörte damit nur dann auf, wenn Sartre sie plötzlich brauchte, dann liess sie alles stehen und liegen (eigenes Schreiben, Ferienpläne mit dem geliebten Mann, etc.) und folgte seinem Ruf.

Es scheint, ihr ging es wie vielen von uns im Leben: Wir wissen tief drin, was wir wollen, was wir fühlen, haben Ideale und Vorstellungen, Theorien und Ansprüche – und lassen diese im tatsächlichen Miteinander sausen, indem wir in althergebrachte Muster verfallen, patriarchische Rollenmuster übernehmen und leben. Wir wollen den eigenen Vater nicht vor den Kopf stossen, keinen Streit mit dem Partner, keine Diskussion mit dem guten Freund – und schlucken Dinge runter, die eigentlich für uns nicht in Ordnung sind, die dann wie ein Kloss im Magen sitzen und das Gefühl hinterlassen: Wieso bloss? Wieso lebe ich immer wieder entgegen meiner eigenen Überzeugungen? Und über allem steht die Frage: Wie reagiere ich das nächste Mal besser?

Tagesgedanken: Mein Platz in der Welt

Seinen Platz in der Welt finden – das ist wohl für viele selbstverständlich, sie finden sich in dieser Welt, in die sie geboren wurden und leben ihr Leben, ohne dieses und die Welt zu hinterfragen. Andere hadern mehr damit, sie sehen eine Welt, in welcher sie sich nicht wohl, nicht gesehen fühlen, und haben doch keine andere als die des eigenen Rückzugs, was zwar eine momentane Erleichterung, aber kein lebenswertes und lebensmögliches Leben darstellen würde, sind wir doch immer auf die Mitwelt angewiesen, können nicht ohne sie sein – gerade darum ist der Halt in ihr wohl so elementar und es nagt tief, wenn man ihn für sich nicht findet. 

Simone de Beauvoir litt unter den Einschränkungen und vielen Verboten ihrer Kindheit, schon früh regte sich in ihr ein Freiheitsdrang und die Überzeugung, das eigene Leben selbst in die Hand nehmen zu wollen. Als es dann nahezu so weit war, stellte sich diese teilweise Freiheit doch als schwieriger dar als erhofft, da sie bei allem Sehnen unvertraut und noch nicht gewohnte Lebenswelt war:

„Das Übel, an dem ich litt, bestand in Wahrheit darin, dass ich aus dem Paradies der Kindheit vertrieben war und meinen Platz unter den Menschen noch nicht gefunden hatte.“

Wie man doch verklärt, was war, wenn das Neue noch nicht ist, was man sich davon erhofft. Das war nicht der einzige Kampf von Simone de Beauvoir. Dazu kam das eigene Gefühl des Minderwerts. Dass dieser nicht aus dem Nichts einfach da war, liegt auf der Hand:

„Gewiss bedauerte ich nicht, eine Frau zu sein; ich zog im Gegenteil grosse Befriedigung daraus. Meine Erziehung hatte mich von der geistigen Unterlegenheit der Frau überzeugt, die auch von vielen meiner Geschlechtsgenossinnen zugegeben wurde.“

Anfangs traute sich Simone nicht, mit den männlichen Kommilitonen zu sprechen, sah sie diese doch ihr überlegen. Als sie nach einigen Gesprächen dann doch merkte, dass dem nicht so war und sie durchaus etwas zu sagen hatte, kam langsam das Selbstbewusstsein. So oder so verfolgte sie immer ehrgeizig ihre Pläne und Träume für ihr Leben: Unabhängig sein und Schreiben. Das war ihr Ziel und das sollte sie auch erreichen – und das schon bald in einer lebenslangen Gemeinschaft mit einem anderen grossen Denker: Sartre.

„…sein Geist war immer wach. Er kannte keine Erschlaffung, Schläfrigkeit, Gedankenflucht, Abschweifung, Ermattung, aber auch keine Vorsicht und keinen Respekt. Er interessierte sich für alles und nahm niemals etwas als selbstverständlich hin.“

Diese Offenheit des Denkens, diese Vorurteilslosigkeit, war es vielleicht auch, die dazu führte, dass Sartre Simone de Beauvoir nie geringachtete, dass er hinschaute und sah, was sie zu bieten hatte, was in ihr steckte. Er spornte sie an, ihre Ziele nie aus den Augen zu verlieren:

„Auf alle Fälle solle ich mir das bewahren, was das Schätzenswerteste an mir sei: meinen Hang zur Freiheit, meine Liebe zum Leben, meine Neugier, meinen Willen zum Schreiben.“


In Sartre fand sie den Mann, mit dem sie all das leben konnte, was sie wollte, denn:

„er war der Doppelgänger, in dem ich in einer Art von Verklärung alles wiederfand, wovon ich auch selber besessen war. Mit ihm würde ich immer alles teilen können.“

Vielleicht ist man dann in der Welt zu Hause, wenn man sich selbst treu bleiben kann und in dieser Selbsttreue und dem Verwirklichen des eigenen Seins begleitet und verstanden wird. Und manchmal muss das nicht von der ganzen Welt passieren, manchmal reicht einer, der einem die Welt ist.

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Leseempfehlung: Simone de Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Tagesgedanken: Mit Selbstliebe auf dem eigenen Weg

Schlaflos in den neuen Tag gestartet, in Gedanken getrieben vom einen zum andern, ohne Ruhe zu finden. Und so sitze ich hier und bin müde und in dieser Müdigkeit immer noch umgetrieben. Ich gehe mit mir ins Gericht, hinterfrage und suche, versuche zu finden, doch ist das kein Halt, der dem Treiben ein Ende bereiten könnte. Ich fülle Seiten im Notizbuch auf der Suche nach mir selbst, und finde mich zumindest da in guter Gesellschaft. 

„…jetzt war ich darauf aus, mich zu spalten, mich von aussen zu sehen. Ich erforschte mich: in meinem Tagebuch unterhielt ich mich mit mir selbst.“

Dies schrieb Simone de Beauvoir in ihrem Buch „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“. Es ist der erste Teil ihrer Lebensgeschichte, es sind Erinnerungen an ein Gefängnis von Sitten und Einschränkungen, an das Herausbildung eigener Lebensabsichten im Wissen, damit einen Weg einzuschlagen, der nicht konform ist. Sie stiess auch schon früh auf die Ablehnung ihres Vaters, der sich eine gefällige Tochter, die man verheiraten könnte, wünschte, nur war das nicht, was Simone de Beauvoir sich unter ihrem Leben vorstellte. Sie wollte etwas erreichen, sie wollte sich nicht unterordnen, sie sah sich als gleichwertig mit den Männern, nicht in der Rolle der Bittenden, Abhängigen.

„Aber in meinen Augen waren Männer und Frauen in gleicher Weise selbständige Personen, und ich forderte daher für beide absolute Gegenseitigkeit.“

Es ist nicht einfach, den eigenen Weg zu gehen in Anbetracht der Ablehnung, die dieser auslöst. Das Gefühl, allein zu sein, ungeliebt, nagt durchaus. Nun gibt es nur zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Man verlässt den eigenen Weg und passt sich an, in der Hoffnung auf Anerkennung und Liebe, oder aber man hält an seinem Weg fest, im Wissen, dass dieser nicht bei allen auf Verständnis stossen wird. Damit umzugehen ist wohl die grosse Herausforderung. Simone de Beauvoir hat für sich ein Mittel gefunden, dies zu ertragen: Selbstliebe.

„Niemand nahm mich so, wie ich war, niemand liebte mich: ich selbst werde mich genügend lieben, beschloss ich, um diese Verlassenheit wieder auszugleichen.“

Tagesgedanken: Freiheit

Als Simone de Beauvoir jung war, gab es einen zentralen Wunsch: Sie wollte frei sein (und schreiben). Der Wunsch entsprang wohl vor allem dem Umstand, dass sie sehr eingeschränkt aufwuchs, mit vielen Verboten und Geboten, von aussen aufgestellte Mauern gegen die eigene freie Entfaltung. Es gibt aber auch die eigenen Schranken, die, welche man sich selber errichtet. Oft haben sie ihren Ursprung in eingeprägten Mustern, die aus der Kindheit stammen, sie äussern sich in Stimmen, die einen selber geformt haben. Das meint Simone de Beauvoir wohl mit diesem Satz aus dem Buch „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“:

„Das Schlimmste aber, wenn man ein Gefängnis mit unsichtbaren Mauern bewohnt, ist, dass man sich den Schranken nicht bewusst ist, die den Horizont versperren.“

Was heisst Freiheit? Ich würde sie so definieren, dass mir ein Leben möglich ist, in welchem ich meine Fähigkeiten nach meinen Wünschen und Absichten entwickeln kann, mir die Möglichkeiten dazu offenstehen. Vielen Menschen auf dieser Welt ist das nicht möglich, sie haben keinen Zugang zu ausreichender Ernährung, Bildung, Gesundheit. Noch immer sind es mehrheitlich Frauen, die darunter leiden. Auch wenn es in unseren Breitengrade sicher besser ist, so finden sich auch hier immer noch strukturelle Benachteiligungen von Frauen, Ungleichbehandlungen, die die Freiheit massgeblich einschränkten. Simone de Beauvoir sah uns hier in der Pflicht:

„Der Frau bleibt kein anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten. Diese Befreiung kann nur eine kollektive sein.“

Es geht nicht an, nur für uns selber zu schauen, denn Unterdrückung ist selten ein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Es ist ein Problem, das in den Köpfen der Menschen sitzt und da ersetzt werden muss durch eines der gleichberechtigten Mitmenschlichkeit oder wie Hannah Arendt es ausdrückt: Weltgestaltung. Schön wäre es, wenn wir uns dieses verinnerlichen würden:

„Das eigene Leben hat einen Wert, so lange man dem Leben anderer einen Wert zuschreibt.“ (SdB)

Julia Korbik: Oh, Simone!: Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten

Inhalt

«Auf Vorbilder kann sie… kaum zurückgreifen: Noch haben es nicht viele Töchter aus gutem Hause gewagt, ihren eigenen Weg zu gehen. Ihr Geburtsmilieu und die damit verbundenen Erwartungen hat Simone hinter sich gelassen – ohne allerdings zu wissen, worauf sie ihr Leben stattdessen aufbauen soll. .»

Simone de Beauvoir war wahrlich eine spannende Frau. Sie strebte nach Freiheit und Unabhängigkeit, sie wollte lesen, lernen, lieben, so, wie sie es wollte. Sie akzeptierte keine Einschränkungen, ging lieber den schwierigeren Weg als klein beizugeben. Und sie analysierte genau, was Frauen im Weg stand, genau dieses freie und unabhängige Leben zu leben. Sie lebte in einem anderen Jahrhundert, in anderen Zeiten und Umständen. Und doch auch wieder nicht.

Wieso sollte sie uns heute noch interessieren? Der Frage geht Julia Korbik in diesem Buch nach und kommt zum Schluss: es gibt viele Gründe dafür!

Weitere Betrachtungen

«Schon mit neunzehn Jahren war ich überzeugt gewesen, dass es dem Menschen zusteht, und nur ihm allein, seinem Leben einen Sinn zu geben, und dass er dieser Aufgabe gewachsen ist.»

Simone de Beauvoir wuchs in sehr kontrollierten Verhältnissen auf, in welchem grossen Wert auf Status und Etikette gelegt wurde. Die Bewegungsgrenzen waren entsprechend eng gesteckt, ausbrechen kam kaum in Frage. Das Schicksal der familiären Finanzkrise sowie ein eigenwilliges Wesen kamen ihr zu Hilfe.

«Es ergibt sich für jeden Einzelnen eine ethische Verpflichtung, an einer Welt mitzuarbeiten, in der alle Menschen die Möglichkeit haben, ihre Entwürfe in eine offene Zukunft hin zu verwirklichen. Eine Aktivität ist dann ‘gut, wenn sie darauf abzielt, für sich und andere […] die Freiheit zu befreien.’ »

Simone de Beauvoir wollte immer schreiben – und sie schrieb. Und sie dachte, frei und wild und tief. Sie hatte ihren Partner im Geiste, Jean Paul Sartre, mit dem sie eine langjährige Beziehung verband. In späteren Jahren begann sie auch zu kämpfen – für mehr Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung. Und immer wieder stand sie ein für andere, half, unterstützte.

«Frei sein wollen bedeutet wollen, dass auch andere frei sind…»

Man ist nie allein, man kann ohne den anderen nicht leben. Simone de Beauvoir war sich dessen bewusst und dieses Wissen war wohl mit Antrieb, nicht nur für sich, sondern auch für andere zu schauen. Es gibt kein Gut für einen allein, ein wirkliches Gut ist es erst, wenn es ein geteiltes ist.

Julia Korbik ist ein gut lesbarer Überblick über Simone de Beauvoirs Leben und Schaffen gelungen, der nichts Neues, aber für den, der noch nichts von Simone de Beauvoir kennt, einen guten Einstieg bietet. Man kann zu Julia Korbiks Verteidigung sagen, dass Simone de Beauvoir selber so viel von ihrem eigenen Leben beschrieben hat, dass es wenig Neues gibt für einen Autoren, der über sie schreiben will. Die Analyse müsste sehr tief gehen, wie das einige Biographen durchaus taten. Das wäre eine zu grosse Erwartung an dieses Buch, die nicht erfüllt würde.

Persönlicher Bezug

«Die Philosophie stellt Fragen und vor allem hinterfragt sie vermeintlich natürliche Gegebenheiten… Bei der Philosophie, glaubt Simone, geht es um das Wesentliche: ‘Immer hatte ich alles erkennen wollen: Die Philosophie würde mir möglich machen, dieses mein Verlangen zu erfüllen…’»

Ich habe in diverse Fächer reingeschaut, bis ich meine schlussendliche Kombination hatte. Zwar war Philosophie im Gymnasium eines meiner liebsten Fächer, dies aber nur, weil ich nichts tun musste, es flog mir förmlich zu. Das lag wohl daran, dass mir die Philosophie lag, ich sie nie als Arbeit auffasste. Im Studium stiess ich per Zufall quasi auf die Philosophie – durch ein interdisziplinäres Seminar. Das war der Anfang einer grossen Liebe, weil ich nun wirklich merkte: Das liegt mir, da kann ich eintauchen, da geht es um verstehen, denken, lernen, analysieren –  da kann ich wachsen.

Beim Lesen von Simone de Beauvoirs Biographie habe ich so viele bekannte Gedanken entdeckt, so viele Lebensziele, -wünsche und auch die Zweifel am eigenen Sein und Tun. Sie ist aktuell, sie ist inspirierend, sie ist für mich eine sehr spannende Frau.

Fazit
Eine gute Einführung in das Leben und Schaffen einer spannenden Frau. Als Erstlektüre zu Simone de Beauvoir sehr empfehlenswert.

Autorin
Julia Korbik wurde 1988 im Ruhrgebiet geboren und arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Ihre journalistischen Schwerpunkte sind Politik und Popkultur aus feministischer Sicht, aber auch europäische und französische Themen – egal, ob politisch, gesellschaftlich oder kulturell. Korbik studierte European Studies, Kommunikationswissenschaften und Journalismus und pendelte dafür im Jahresrhythmus zwischen dem nordfranzösischen Lille und dem westfälischen Münster. Sie ist ehrenamtlich für das sechssprachige Europa-Onlinemagazin cafébabel aktiv, vor allem als Vize-Präsidentin von Babel Deutschland e.V. und als Vorstandsmitglied des Vereins Babel International. 2014 erschien ihr erstes Buch Stand Up. Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene (Rogner & Bernhard). 2016 rief Korbik den Blog Oh, Simone ins Leben, der einzige deutschsprachige Blog, der ganz Simone de Beauvoir gewidmet ist.

Angaben zum Buch
Herausgeber: Rowohlt Taschenbuch; 5. Edition (15. Dezember 2017)
Taschenbuch: 320 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3499633232

Zu kaufen in jeder Buchhandlung vor Ort und online u. a. bei AMAZON.DE und ORELLFUESSLI.CH

Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen

Inhalt

«Mit neun Jahren war ich ein sehr artiges kleines Mädchen; das war nicht immer so gewesen; in meiner frühen Kindheit stürzte mich die Tyrannei der Erwachsenen bisweilen in eine derart blindwütige Raserei, dass eine meiner Tanten eines Tages ernsthaft erklärte: «Sylvie ist vom Teufel besessen.» Der Krieg und die Religion bezwangen mich schliesslich.»

Als Sylvie Andrée in der Schule kennenlernt, ist sie sofort hingerissen von diesem selbstsicheren, selbständig wirkenden Mädchen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Sie durchleben gemeinsam die erste Liebe, den damit verbundenen Schmerz. Sie versuchen, trotz des strengen Regimes des jeweiligen Elternhauses ihr Leben zu leben, was oft unmöglich ist und schlussendlich tragisch enden wird.

Weitere Betrachtungen

«Warum hatte ich ihr meine Liebe nicht zeigen können? Andrée war mir in allem so herausragend erschienen, dass ich gemeint hatte, sie müsse vollkommen glücklich sein. Mir war danach zumute, sie und mich zu beweinen.»

«Die Unzertrennlichen» ist ein Buch über Freundschaft. Es ist eine Freundschaft, die trotz aller Nähe und des gegenseitigen Vertrauens immer auch einen Rest an Zurückhaltung behält. Die beiden Freundinnen gehen auch nie zum vertraulichen Du über, sie bleiben die ganze gemeinsamen Jahre über beim förmlichen Sie. Im Nachhinein bereut Sylvie, sie steht für Simone de Beauvoir, diese Zurückhaltung zutiefst.

«In Büchern erklären die Leute einander ihre Liebe , ihren Hass, sie wagen, sich alles zu erzählen, was sie auf dem Herzen haben; weshalb ist das im wahren Leben unmöglich?»

Ob dieses Bedauern mit ein Grund dafür ist, dass sie später in ihrer Beziehung mit Sartre vollkommene Offenheit will, Transparenz in den Gedanken und im Tun?

«Zaza ist daran gestorben, dass sie aussergewöhnlich war. Man hat sie umgebracht, ihr Tod war ein «spirituelles Verbrechen».»

Dies schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Frau, die Simone de Beauvoir adoptiert  und mit ihrem Nachlass betraut hat. Sie war viele Jahre die engste Vertraute von Simone de Beauvoir. Die Geschichte dieses aussergewöhnlichen Mädchens hat Simone de Beauvoir im vorliegenden, zu Lebzeiten nie veröffentlichten Roman festgehalten. Sie hat ihn mit folgenden Worten Zaza gewidmet:

«Wenn ich heute Abend Tränen in den Augen habe, ist es dann, weil sie tot sind oder weil ich lebe? Ich sollte ihnen diese Geschichte widmen. Aber ich weiss, dass sie nirgends mehr sind, dass mir nur der Kunstgriff der Literatur erlaubt, hier mit Ihnen zu reden.»

«Die Unzertrennlichen» ist nicht grosse Literatur in dem Sinn, aber es ist ein kleines, authentisches und zum Nachdenken anregendes Buch, das die Gefahren von Erwartungen aufzeigt. Es ist ein Buch darüber, wie Menschen leiden, die unter dem Druck des gefallen Wollens und gehorchen Müssens zerbrechen, die sich selber verleugnen müssen, um dem zu entsprechen, das sie darstellen sollen.

Es ist ein leidenschaftliches und auch tragisches Buch, ein Zeitzeugnis und ein Bild der bürgerlichen Gesellschaft mit all ihren Zwängen und Moralvorstellungen. Simone de Beauvoir schrieb mit «Die Unzertrennlichen» einen autofiktionalen Roman, in welchem sie ihre Freundschaft mit Zaza thematisierte. Sie zeigt darin sehr deutlich die Einschränkungen, die sie als Kind und Jugendliche hinnehmen musste und die bei Zaza zum Tod führten. Diese Erlebnisse sind es wohl auch, welche bei ihr den tiefen Wunsch nach Freiheit und Eigenständigkeit wachsen liessen.

Persönlicher Bezug
Simone de Beauvoir übt immer wieder eine grosse Faszination auf mich aus. Ihre Gedanken, ihr Schreiben, ihr Hinsehen auf die eigene Geschichte und die Form, in welche sie diese verpackt, um damit soviel offenzulegen von ihrem Werden, sind eine grosse Inspiration. Nie lassen sie mich einfach kalt, immer erkenne ich mich in gewissen Punkten wieder und immer regt mich die Lektüre ihrer Schriften zum Nachdenken an.

Simone de Beauvoir hat den Finger auf Missstände gegen Frauen gelegt, sie hat immer wieder gegen deren Unterdrückung angeschrieben und selber ein Leben gelebt, das dieser entgegentrat. Damit ist sie ein Vorbild für die Generationen nach ihr geworden. Ihre Ansichten und auch ihre Forderungen für eine gerechte Gesellschaft sind auch heute noch aktuell wie damals. Leider ist noch viel zu wenig davon umgesetzt worden.

Fazit
Ein authentisches Buch über die Freundschaft zweier Mädchen, die den Erwartungen der Zeit zu trotzen versuchen. Grosse Leseempfehlung.

Autorin
Simone de Beauvoir wurde am 9.1.1908 in Paris in ein ursprünglich wohlhabendes, später mit den Finanzen kämpfendes Elternhaus geboren. Mit fünfeinhalb Jahren kam Simone an das katholische Mädcheninstitut, den Cours Désir, Rue Jacob; als Musterschülerin legte sie dort den Baccalauréat, das französische Abitur, ab. 1925/26 studierte sie französische Philologie am Institut Sainte-Marie in Neuilly und Mathematik am Institut Catholique, bevor sie 1926/27 die Sorbonne bezog, um Philosophie zu studieren. 1928 erhielt sie die Licence, schrieb eine Diplomarbeit über Leibnitz, legte gemeinsam mit Merleau-Ponty und Lévi-Strauss ihre Probezeit als Lehramtskandidatin am Lycée Janson-de-Sailly ab und bereitete sich an der Sorbonne und der École Normale Supérieure auf die Agrégation in Philosophie vor. In ihrem letzten Studienjahr lernte sie dort eine Reihe später berühmt gewordener Schriftsteller kennen, darunter Jean-Paul Sartre, ihren Lebensgefährten seit jener Zeit. 1932-1936 unterrichtete sie zunächst in Rouen und bis 1943 dann am Lycée Molière und Camille Sée in Paris. Danach zog sie sich aus dem Schulleben zurück, um sich ganz der schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Zusammen mit Sartre hat Simone de Beauvoir am politischen und gesellschaftlichen Geschehen ihrer Zeit stets aktiv teilgenommen. Sie hat sich, insbesondere seit Gründung des MLF (Mouvement de Libération des Femmes) 1970, stark in der französischen Frauenbewegung engagiert. 1971 unterzeichnete sie das französische Manifest zur Abtreibung. 1974 wurde sie Präsidentin der Partei für Frauenrechte, schlug allerdings die «Légion d’Honneur» aus, die ihr Mitterrand angetragen hatte. Am 14.4.1986 ist sie, 78-jährig, im Hospital Cochin gestorben. Sie wurde neben Sartre auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.

Übersetzung: Amelie Thoma, geboren 1970 in Stuttgart. Sie studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und arbeitete als Lektorin, ehe sie die Übersetzerlaufbahn einschlug. Neben Leïla Slimanis Romanen und Essays übertrug sie u. a. Texte von Marc Levy, Joël Dicker und François Sagan ins Deutsche.

Angaben zum Buch
Herausgeber: Rowohlt Buchverlag; 2. Edition (19. Oktober 2021)
Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
Originaltitel: Les inséparables
Übersetzung: Amelie Thoma
ISBN: 978-3498002251

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Alois Prinz: Das Leben der Simone de Beauvoir

Inhalt

«Mit der Geburt beginnt für sie das ‘Drama eines jeden Existierenden’. Dieses Drama besteht darin, dass jedes Kind hineingeboren oder, existenzialistisch ausgedrückt, ‘geworfen’ wird in eine Welt, die ohne sein Zutun entstanden ist und die voller Erwartungen und Vorherbestimmungen ist. Gleichzeitig hat es einen natürlichen Drang, die Welt zu erforschen und eigene Bedürfnisse und Wünsche auszubilden. Das führt zu einem Konflikt, der schon in den ersten Kinderjahren zu spüren ist und der sich in späteren Jahren zu Kämpfen um die eigene Identität steigern kann.»

Simone de Beauvoir wuchs in einem konservativen Haus voller Vorschriften und Verbote auf, in welchem klar geregelt ist, wie man sich zu verhalten hat, vor allem, wenn man ein Mädchen ist. Passt sich die junge Simone mehr und mehr an, wird zur gehorsamen, strebsamen Tochter, fühlt sie sich in dieser Rolle schon bald immer eingeengter und ein Wunsch wächst heran: Sie will frei sein.

«…Freiheit ist für sie ein Faktum. Jeder Mensch findet sich als freier Mensch vor. Für das Kind ist diese Freiheit noch verborgen, weil Eltern und Erzieher über es bestimmen und es noch keine Verantwortung kennt. Spätestens der junge Erwachsene muss sich dieser Freiheit stellen. Frei sein bedeutet zu erkennen, dass es keine absoluten Werte gibt, auch keinen Gott. Es bedeutet, dass das Leben keinen Sinn hat, sondern dass jeder Einzelne seinem Leben einen Sinn geben muss.»

Das Thema der Freiheit wird sie denn auch ein Leben lang begleiten. Daneben weiss sie auch bald, dass sie schreiben will, dass sie ihr Leben selber in die Hand nehmen und unabhängig führen möchte.

Ihr Weg führt über ein Studium der Philosophie hin zum Lehrerberuf, auf diesem Weg begegnet sie Sartre, mit dem sie das Leben lang in einer für die Aussenwelt merkwürdigen und darum immer wieder mit neuen Etiketten bedachten Beziehung lebt. Neben Sartre säumen viele Freunde und Freundinnen, Liebschaften und Lebensbegleiter ihren Weg. Sie setzt sich ein für das, was ihr wichtig ist, sie schreibt unermüdlich, sie reist viel, sie hinterfragt sich und die Welt, sie lebt das Leben, das ihr vorschwebt und macht aus dem, was sie in dieses Leben mitbringt das, was sie daraus machen will und kann. Damit lebt sie ihren eigenen existenzialistischen Gedanken, nämlich den, dass ein Mensch mit Voraussetzungen in diese Welt kommt und es in seiner Verantwortung liegt, was er daraus – und damit aus sich – macht.

Simone de Beauvoir sieht sich als Literatin, nicht als Philosophin. Das ist keine Abwertung für sie, wie es oft gelesen wurde, denn sie sieht in der Literatur die Möglichkeit, Dinge nicht abstrakt und theoretisch zu erörtern, sondern sie in die Lebenserfahrungen von Menschen einzubauen durch die Geschichten, die sie erzählt. Das tut sie aber auf eine so tiefgründige und kluge Art, dass les- und spürbar ist, was das Thema dahinter ist. Neben ihren Romanen ist Simone de Beauvoir auch Verfasserin einer Unzahl von Essays, Reiseberichten, eines Theaterstücks und mehr.

Weitere Betrachtungen
Alois Prinz erzählt das Leben von Simone de Beauvoir auf eine zutiefst menschliche, tiefgründige und lebendige Weise. Er stellt ihr Leben in den Zusammenhang der Zeit, erzählt von ihren Erfahrungen in dieser, von ihren Beziehungen, von ihren Sorgen, Nöten, Selbstzweifeln. Er zeichnet das Bild einer intelligenten, spannenden, sich ständig hinterfragenden, das Leben liebenden und lebenden Frau, welche mit Neugier und Ehrgeiz versucht, das beste Ich aus sich zu machen, zu dem sie fähig ist.

Simone de Beauvoir ist eine Frau, die ihr Menschsein ernst nimmt und die Aufgabe, die dies an sie stellt, aktiv angeht. Sie versucht, ihre (menschlichen und moralischen) Ansprüche umzusetzen, um als verantwortungsbewusste, selbstbestimmte, interessierte, engagierte und vor allem freie Frau das zu tun, was sie tun will: Schreiben.

Alois Prinz schafft es, dieses durchaus ungewöhnliche Leben ohne Sensationslust, Auf- oder Abwertungen, und moralischen Zeigefinger auf eine gut lesbare, kompetente Weise zu erzählen. Entstanden ist das Porträt einer Frau, welche einen für sich einnimmt. Es gelingt Prinz ebenfalls, die Beziehung zu Sartre darzustellen, ohne den oft vorherrschenden Stimmen, Schubladisierungen und Verurteilungen zu folgen.

Persönliche Bemerkungen
Simone de Beauvoir fasziniert mich, seit ich mich intensiver mit ihr befasse, immer mehr. Sie ist für mich eine Frau, die versucht, für sich und ihre Meinung einzustehen, dabei auch in Kauf nimmt, dass ihr Weg nicht immer nur leicht ist. Sie ist eine Frau, die von Unsicherheiten geprägt ist, trotzdem versucht, sich treu zu bleiben und die eigenen Ansprüche ans Leben zu verwirklichen. Wenn dieser Weg in die Irre geht, sie nicht die ist, die sie sein will, vertuscht sie das nicht, sondern steht hin und gesteht die eigenen Fehler ein. Mir gefällt ihre Sicht der Dinge, dass wir zwar ins Leben geworfen sind, das wir nicht aussuchten, dass wir es aber in der Hand haben, etwas daraus zu machen. Sie hat das nicht nur theoretisch beschrieben, sondern selber gelebt. Sie ist eine Frau mit vielen Widersprüchen. Und sie ist nicht zuletzt eine Frau mit einem grossen Herzen, eine tiefgründige Denkerin, eine fleissige Schreiberin.

Fazit:
Eine menschliche, tiefgründige, kompetente und Einsichten gewährende Biografie, der ein offener Blick auf eine tiefgründige und inspirierende Denkerin und Frau zugrunde liegt. Sehr empfehlenswert.

Alois Prinz
Alois Prinz, 1958 geboren, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und lebt heute mit seiner Familie in Kirchheim bei München. Er veröffentlichte Biografien über Hermann Hesse, Ulrike Meinhof, Franz Kafka, Dietrich Bonhoeffer und andere. 2012 erschien sein Buch Hannah Arendt oder Die Liebe zur Welt, das sich über 130.000 Mal verkaufte.

Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 303 Seiten
Verlag: ‎ Insel Verlag; Originalausgabe Edition (10. Oktober 2021)
ISBN: 978-3458179412

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Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben

Inhalt

«Die Geschichte meines Lebens selbst ist eine Art Problemfall, und ich muss den Menschen keine Lösungen geben, und die Menschen haben kein Recht darauf, von mir Lösungen zu erwarten. Eben in diesem Rahmen hat mir gelegentlich meine vermeintliche Berühmtheit, oder kurz gesagt die Aufmerksamkeit der Menschen, Sorge bereitet. Es gibt eine gewisse Erwartungshaltung, die ich etwas beschränkt finde und die mich einengt, weil sie mich in irgendeinem feministischen Betonblock fixieren will.»
(Simone de Beauvoir)

Simone de Beauvoir wuchs in einem konservativen Haus voller Vorschriften und Verbote auf, in welchem Körperlichkeit dem Laster gleichgesetzt wurde und mögliche Freundinnen der strengen Prüfung bedurften, um sich mit ihnen treffen zu dürfen. Simone de Beavoir bezeichnete das Milieu in Ein sanfter Tod selbst als «provinzielle Wohlanständigkeit und klösterliche Moral». Trotzdem sah sie ihre Kindheit als glückliche an, fühlte sich in ihrer Familie behütet und sicher (sie bezeichnete es als «unbedingte Sicherheit»), fürchtete dann und wann den Fall aus dieser Kindheit, wenn sie eine «Ausgestossene der Kindheit» würde. Neben Schutz und Geborgenheit bot das Elternhaus aber noch etwas: Den Zugang zur Literatur, den der Vater förderte und Simone de Beauvoir mit grosser Neugier nutzte und liebte.

Schön früh machte sich Simone de Beauvoir tiefgründige Gedanken darüber, was ein gutes Leben sei, wie wichtig Freiheit in einem solchen ist und was Liebe in Bezug auf beide bedeutet. Man findet in ihren Tagebüchern von damals schon viele Ideen, die später bei ihr und vor allem auch Sartre auftauchen. Dies ist insofern interessant, als es immer wieder Stimmen gab, die Beauvoir als Profiteurin von Sartre bezeichneten, ihr gar unterstellten, nie eigenständig gedacht und nur seine Gedanken übernommen zu haben. Weder das noch das auch ab und an behauptete Gegenteil, dass Sartre der Profiteur gewesen sei, ist richtig. Die beiden Namen sind durch ihre Geschichte, ihren Liebespakt sowie den lebenslangen intensiven Austausch so intensiv verbunden und verwoben, dass sich kaum genau eruieren lässt, wer wo wieviel Einfluss auf den anderen hatte.

«Warum sollte es Freiheit auf Kosten der Liebe geben? Oder Liebe auf Kosten der Freiheit?

Neben Sartre gab es andere Freunde und Freundinnen, geistig und sexuell. Das Konzept der kontingenten Liebe, das Sartre und Beauvoir für sich bestimmten, dass sie sich notwendige Lebensbegleiter sind, andere daneben als mögliche zufällige Platz haben, hat immer wieder für Aufsehen gesorgt. Simone de Beauvoir war sich am Ende ihres Lebens selbst nicht mehr sicher, ob sie mit diesem Lebensmodell nicht zu viele Menschen ausgenutzt und leiden lassen haben.

«Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.»

Bekannt wurde Simone de Beauvoir vor allem durch ihr Buch «Das andere Geschlecht», in welchem sie die Rolle der Frau und ihren Platz in der Welt beschreibt. Sie vertritt die Meinung, dass nicht die Biologie ausschlaggebend ist, wie Frauen wahrgenommen und behandelt werden, sondern soziale und kulturelle Situation. Simone de Beauvoir hat aber noch viel mehr geschrieben, hat sich mit Themen wie dem Alter, der Liebe, dem Tod und vor allem immer wieder der Freiheit befasst. Sie hat erfolgreich Romane, Essays, Theaterstücke und autobiographische Schriften verfasst und sich auch politisch engagiert.

Zwar war Beauvoir bekannt, aber trotzdem blieben immer Stimmen laut, die sie zurücksetzten hinter Sartre, die ihr Eigenständigkeit im Denken und Sein vorwarfen. Die unkonventionelle Lebens- und Liebesweise spülte noch zusätzlich auf die Mühlen der abschätzigen Zuschreibungen. Dies alles und noch einiges mehr beleuchtet Kate Kirkpatrick in dieser Biografie, der ersten nach der Veröffentlichung verschiedener Briefwechsel und frühen Tagebücher de Beauvoirs.

Weitere Betrachtungen

«Es ist nicht die Aufgabe des Biografen, zu urteilen, sondern ein Leben möglichst objektiv darzustellen, damit der Leser sich ein Urteil bilden kann.»
(Kate Kirkpatrick in einem Interview)

Kate Kirkpatrick ist es gelungen, Leben und Werk einer komplexen Persönlichkeit, wie Simone de Beauvoir es war, auf eine klare, sachliche und sehr ausgewogene, kompetente Weise zu beschreiben. Sie dazu auf eine Vielzahl von Quellen Zugriff genommen, was auch erlaubt hat, die Widersprüche in Simone de Beauvoirs Leben und Denken einerseits, in deren Darstellung desselben andererseits aufzuzeigen.

«Ein gelebtes Leben kann nicht durch seine Nacherzählung wiederaufleben. Doch von aussen betrachtet, sollten wir nicht vergessen, mit welcher Kraft sie kämpfte, um sie selbst zu werden.»
(Kate Kirkpatrick)

Die vorliegende Biografie gibt einen Blick frei auf eine intelligente, selbstreflexive, in sich immer auch wieder zweifelnde und selbstkritische Frau, die ihren Weg durchs Leben sucht, indem sie versucht, das zu sein, was sie sein kann und will, ihren eigenen Maximen treu zu sein. Dass dies nicht immer gelungen ist, merkte Simone de Beauvoir selber und legte es sich auch zu Lasten.

In der ersten Hälfte sind die verschiedenen (mehrheitlich sexuellen) Beziehungen de Beauvoirs sehr grosses Thema, in der zweiten Hälfte nehmen die politischen Rahmenbedingungen einen grossen Platz ein. Beides hätte durchaus gekürzt werden können. Ab und an wäre ein genauerer Blick auf Simone de Beauvoirs Denken wünschenswert gewesen, nahm doch Sartres dagegen einen relativ grossen Raum ein. Trotz allem ist Kate Kirkpatrick eine informative, tiefe und auch neue Einsichten gewährende Biografie gelungen, die hoffentlich schafft, den Blick auf Simone de Beauvoir zu schärfen, mit landläufigen Vorurteilen auf- und ihr den Stellenwert einzuräumen, der ihr gebührt.

Fazit:
Eine kompetente, informative und neue Einsichten gewährende Biografie, die einen neuen Blick auf eine tiefgründige und inspirierende Denkerin und Frau ermöglicht. Sehr empfehlenswert.

Kate Kirkpatrick
Kate Kirkpatrick, Dr. phil., war Dozentin für Philosophie an der University of Hertfordshire und Dozentin für Theologie am St Peter’s College, University of Oxford. Seit 2018 ist sie als Dozentin am King’s College in London. Zuletzt veröffentlichte sie bei Bloomsbury Sartre and Theology (2017).

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 528 Seiten
Verlag: Piper Taschenbuch; 1. Edition (30. September 2021)
Übersetzung: Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson
ISBN: 978-3492318488

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Simone de Beauvoir: «Ich möchte vom Leben alles»

Das schrieb Simone de Beauvoir dem Schriftsteller Nelson Algren, einer ihrer Zufallslieben, wie Sartre und sie die Beziehungen nannten, die sie nebenher hatten. Und sie fährt fort:

«Ich möchte eine Frau, aber auch ein Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein. Sehen Sie, es ist nicht leicht, alles, was ich möchte, zu bekommen. Und wenn es mir nicht gelingt, werde ich wahnsinnig zornig.»

Eine Frau, die weiss, was sie will, und die es nicht beim Träumen belassen möchte. Sie wollte es bekommen und tat alles, was dafür nötig war, auch wenn sie wusste, dass andere darunter litten (zum Beispiel auch die Zufallslieben, die im Stellenwert immer hinter Sartre standen).

„Mein Unternehmen war mein Leben selbst.“

Eine interessante Aussage, verweist sie doch auf das Leben zurück als Zentrum, nicht auf das Streben im Aussen, dem so viele nachrennen, um da ihren Erfolg zu suchen. Simone de Beauvoir wollte in diesem Leben vor allem eines: Eigenständig bleiben, sie brauchte ihren Raum und ihre Zeit für sich. In Jean Paul Sartre fand sie den perfekten Partner dafür. Die beiden sollten ein Leben lang verbunden bleiben, endlose Diskussionen führen über Themen wie den freien Willen, die Rechte des Menschen, Verantwortung und mehr zu diskutieren. Daneben war aber auch immer wieder die Art ihrer Beziehung offen Thema: Es war eine offene, mit einem Pakt besiegelte Beziehung, in welcher jeder seine Freiräume haben konnte, sie aber immer miteinander darüber sprachen. Und das taten sie in aller Offenheit, wie Briefe bezeugen. Es war aber auch eine Beziehung auf Augenhöhe, in welcher beide auf das Urteil des anderen vertrauten und bauten. 

Von aussen wurde Simone de Beauvoir oft als „Anhängsel“ Sartres gesehen, dem war nicht so. Sartre achtete de Beauvoir und ihr Werk, etwas, womit sie ansonsten in der damals von Männern dominierten Welt kämpfte, wurde sie doch von männlichen Kollegen oft nicht ernst genommen. Vermutlich konnten diese schlicht mit ihren Themen wenig anfangen, da sie nicht für Freiheiten kämpfen mussten und an den Innenwelten von Frauen wenig interessiert waren – zumindest nicht auf geistiger Ebene. 

Es sind die Rollenbilder, die wir übernehmen, die uns im kulturellen Raum als Frau definieren, es sind die Zuschreibungen, die unseren Platz in der Welt bestimmen, keine biologische Anlage.

„Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich; sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen.“

und weiter: 

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.* Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt.“

Simone de Beauvoir sah nur einen Weg, dies zu ändern: Es selber in die Hand zu nehmen:

«Der Frau bleibt kein anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten. Diese Befreiung kann nur eine kollektive sein.»

Was so lange geübt und eingetrichtert wurde, was sich als Haltung etabliert hat, lässt sich nicht im Alleingang ändern. Kultur ist ein kollektives Gut, was alle betrifft, kann nur getragen werden, wenn es alle tragen.

«Da ich nicht denke, dass die Frau von Natur aus dem Manne unterlegen ist, denke ich auch nicht, dass sie ihm von Natur aus überlegen ist.»

Insofern sind alle gefordert, da eine Veränderung zu erreichen, in einem konstruktiven Miteinander unter Gleichgestellten auf Augenhöhe. So ist ein schönes Zitat zum Abschluss vielleicht dieses:

«Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein.»

Niemand ist eine Insel, wir alle wollen zur Welt gehören. Schön, wenn wir das in unserem eigenen So-Sein als Ich tun können.

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*DIes wohl der Kernsatz aus „Das andere Geschlecht“

3 Inspirationen – Woche 24

Der Sommer hat uns wieder – oder wir ihn. Richtig schön, endlich wieder Sonne und Wärme zu spüren, die Abende draussen geniessen zu können. Das ist doch nochmals ein Stück Lebensqualität mehr, wie ich finde. Ich habe beschlossen, aus den fünf Inspirationen drei zu machen – aller guten Dinge sind drei und das soll nun auch bei meinen Inspirationen so sein.

Was hat mich diese Woche inspiriert?

  • Ich habe ein Hörbuch gehört über Simone Beauvoir: C. Bernd Suchers Leidenschaften: Simone de Beauvoir. Auf eine locker, fundierte und gut nachvollzierbare Weise stellt Bernd Sucher Leben und Werk dieser spannenden Frau vor, immer durchsetzt von Zitaten. Der Podcast hat mich gleich dazu angeregt, ihre Bücher mal wieder in die Hand zu nehmen.

„Mein Unternehmen war mein Leben selbst.“

Eine interessante Aussage, verweist sie doch auf das Leben zurück als Zentrum, nicht auf das Streben im Aussen, dem so viele nachrennen, um da ihren Erfolg zu suchen.

  • Bald steht bei mir ein Tapetenwechsel an und das hat so viele Ideen freigesetzt, die ich dann umsetzen will, dass ich es kaum erwarten kann. Die Vorfreude ist also gross, auch wenn immer ein wenig Unsicherheit mitschwingt, da ich doch meine geregelten Abläufe schätze und auch brauche für mein Schreiben und Sein. Generell bin ich vor Neuem immer unsicher, versuche mir aber immer wieder zu sagen, dass es immer gut war, wenn es erst mal eingetreten ist. Fazit daraus:

Gelassen bleiben und die Dinge kommen lassen.

oder aber das Motto (als Mantra gesprochen):

Es kommt, wie es kommen muss

  • Ein Gedicht ist mir begegnet, welches ich wunderschön finde:

Josef von Eichendorff: Wünschelrute

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Wie schön, das Lied in den Dingen zu sehen – möge die Welt klingen.

Katja Kulin: Der andere Mann: Die grosse Liebe der Simone de Beauvoir

Anlässlich einer Reise nach Amerika lernt Simone de Beauvoir den Schriftsteller Nelson Algren kennen, der sie ein wenig durch die Stadt führen soll. Die gegenseitige Anziehung lässt die Stadtbesichtigung in Algrens Wohnung enden, nach einer leidenschaftlichen Nacht heisst es jedoch schon wieder Abschied nehmen.

„Aber nächtliches Zusammensein ohne lendemain, das schien ihre erst heute wie die deutlichste Widerspiegelung der Absurdität und des Selbstbetrugs, der in der Tätigkeit des Reisens lag, bei der so vieles unverbindlich und ohne Folgen blieb.“

Es sollte nicht bei der einen Nacht bleiben, schon am nächsten Tag steht Simone wieder vor Nelsons Tür, die beiden stehlen sich die Zeiten zwischen ihren Terminen, bis sie schliesslich wieder nach Paris und zu Sartre zurück kehrt. Sartre, an dessen Seite sie schon seit Jahren lebte und arbeitete, eine Beziehung geistiger Natur, neben welcher Affären möglich und abgemacht waren. Doch es sollte keine Affäre bleiben.

„Wenn du zu unserem kleinen Zuhause zurückkommst, werde ich schon dort sein, unter dem Bett versteckt und allgegenwärtig. Ih werde ab jetzt immer bei dir sein, mein Geliebter, wie es eine liebende Frau bei ihrem geliebten Mann ist. Wir werden kein Erwachen erleben, denn dies war kein Traum, sondern eine wunderbare und wahre Geschichte, die gerade erst beginnt.“

In den Phasen des Getrenntseins fliegen Briefe zwischen Chicago und Paris hin und her, ein Band zwischen den beiden Liebenden, die sich selber als Ehemann und -frau bezeichnen, wird immer intensiver gewebt. Die jeweiligen Wiedersehen in Chicago, einmal auch in Paris, über die nächsten Jahre sind innig. Und doch ist eine gemeinsame Zukunft an einem Ort undenkbar.

„Aber ich könnte nicht nur für die LIebe leben oder für das Glück. Das wäre zu wenig. ich will wie du mit meinem Schreiben etwas verändern, das gäbe meinem Leben Bedeutung. Das ist viel schwerer zu erreichen als die Liebe, aber es ist eine Arbeit, die doch getan werden muss. Und ich glaube, wirklich ein en Sinn hat das nur dort, wo man verwurzelt ist.“

Die Liebe, so gross sie auch ist, reicht schlussendlich nicht, die Beziehung zu tragen. Nelsons Wunsch nach einem dauernden Zusammensein, die Unmöglichkeit von beiden, für den anderen die eigene Heimat aufzugeben, lässt die Beziehung schliesslich enden.

Katrin Kulin ist es gelungen, das Leben, Lieben und Schreiben einer grossartigen Frau und Denkerin in einer Geschichte zu vereinen, die den Leser von der ersten Seite in den Bann zieht. Die Liebesgeschichte wird abwechselnd aus Nelsons und Simones Blickwinkel erzählt und auch reflektiert, was tiefe Blicke hinter die Kulissen gewährleistet. Es gelingt Katja Kulin, das Denken und die Anliegen von Simone de Beauvoir in die Geschichte einfliessen zu lassen, meist unauffällig und doch informativ, ganz selten etwas zu ausführlich und den Erzählfluss störend. Gezeichnet wird dabei das Bild einer Frau (und immer auch Sartres Einfluss auf dieselbe), welche mit der tiefen Überzeugung durchs Leben geht, sich für die wichtigen Themen einsetzen zu müssen, weil darin ihre wahre Berufung liegt. Mit vollem Engagement setzt sie sich vor allem für die Rolle der Frau in einer von Männern bestimmten Welt ein.

„Die Welt war von Männern geformt worden und das, was man unter ‚Menschheit‘ verstand, war männlich. Die Frau wurde nicht als autonomes Wesen betrachtet, sondern als ein dem Mann entgegengesetztes, ihm untergeordnetes. Es gab sie nur in Relation zum Mann, sie war das Unwesentliche neben dem Wesentlichen, das Objekt neben dem Subjekt, das andere neben dem einen.“

Wie schnell man selber in die Rolle der sich unterordnenden Frau geraten kann, merkt Simone an sich, als sie sich durch die Liebe beflügelt zumindest zeitweise in die Rolle der umsorgenden Ehefrau wiederfindet. Dass auch ihr Verhältnis mit Sartre über weite Strecken (zumindest von aussen gesehen, aber auch selber gelebt) ein sich Unterordnen Simones mit sich bringt, zeigt ihr deutlich, wie viel noch zu tun ist, um diese Muster in der Gesellschaft zu durchbrechen.

„Das biologische Geschlecht musste von der sozialen Rolle der Frau als Konstrukt unterschieden werden. Man kam nicht als Frau zur Welt, man wurde es.“

Der Roman zeigt deutlich die intensive Auseinandersetzung Katja Kulins mit dem Menschen Simone de Beauvoir sowie mit ihren Ideen. Es gelingt ihr dadurch, aus einem reichen Wissensfundus zu schöpfen und dieses Wissen mehrheitlich unauffällig und doch kompetent einfliessen zu lassen. Entstanden ist ein mitreissendes und zutiefst menschliches Porträt einer spannenden Frau. Unterm Strich bleibt das Buch immer aber auch eine Liebesgeschichte, und da, wo diese dominiert gleitet der Erzählung ab und zu ins Pathetische und Kitschige, wird die Sprache gar blumig und auch die Metaphern wirken wie aus einem alten Barbara-Cartland-Roman. Zum Glück überwiegt der gute Erzählton bei Weitem, so dass man über diese Aussetzer grosszügig hinweglesen kann.

Fazit:
Die durch eine geschickt gewählte Erzählperspektive tiefgründende Lebens- und Liebesgeschichte einer grossartigen Frau und Denkerin. Sehr empfehlenswert!

Zur Autorin
Katja Kulin wurde 1974 in Bochum ­geboren und lebt seit Mitte 2018 in einem kleinen Dorf in der Voreifel. Sie studierte Germanistik und Erziehungswissenschaften. Sie schreibt Romane, Romanbiografien und Sachbücher und ist als Lektorin tätig.

Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 336 Seiten
Verlag: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; 1. Edition (12. März 2021)
ISBN-Nr.: 978-3832165666
Preis: EUR 20 / CHF 31.90

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