Bücherwelten: Vom Lesen und Erzählen

«Wichtig ist, was man während des Lesens erlebt, die Gefühlszustände, die eine Geschichte hervorruft, die Fragen, die einem dazu einfallen, und nicht die fiktionalen Ereignisse, die geschildert werden.» Sigrid Nunez

Draussen regnet es, obwohl die Woche eigentlich als sonnige angekündigt war. Gestern drehten die Prognosen, zeigten Regen auf den heutigen Abend. Er hat es vorgezogen, schon früher vom Himmel zu strömen. Ich sitze hier, höre das Prasseln, lese mich durch die verschiedenen Bücher, die meine aktuellen Lektüren sind. Eines habe ich gerade beendet, dafür ein neues begonnen, drei weitere lese ich nebenher, dazu liegt irgendwo noch ein Magazin über Freundschaft, durch das ich mich dann und wann blättere, es in Häppchen aufnehme. 

Während ich in einem meiner Bücher lese, kommt mir der Gedanke, dass immer mehr Romanen die Geschichten abhanden zu kommen scheinen. Sie hangeln sich erzählten Ereignissen, Beobachtungen, Gedanken entlang und scheinen kein Ziel zu haben. Irgendwann sind sie fertig. Manchmal war ich schon viel früher an ein Ende gelangt und fand den Rest nur noch überflüssig, es kommt aber auch vor, das mir am Ende das Ende fehlt. Nabokov schrieb einmal, dass nicht der Autor, sondern der Leser bestimme, wann ein Buch zu Ende sei. Da könne er es dann zuschlagen und sich neuer Lektüre widmen. Da steht mir manchmal die Neugier im Weg: Es könnte noch was kommen. Tut es meist nicht. 

Ich sitze im Licht der Lampe, weil von draussen kaum welches hereindringt, hänge meinen Gedanken nach und bin gespannt, wohin mein Tag noch führt.

Sigrid Nunez: Der Freund

«Denn es geht nur um den Rhythmus, hast du gesagt. Gute Sätze beginnen mit einem Taktschlag.»

Zuerst brauchte ich etwas Zeit, in den Rhythmus des Buches hineinzufinden. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der ehemalige Lehrer und bald engste Freund der Ich-Erzählerin stirbt, er hinterlässt drei Ehefrauen und einen Hund. Als die dritte und letzte der Angetrauten der Ich-Erzählerin sagt, dass der Verstorbene den nun depressiven Hund ihr zugedacht habe, erachtet sie das nicht als wirkliche Option. Aber: der Hund, eine Dogge namens Apollo, zieht ein – zuerst in die Wohnung und dann mehr und mehr ins Herz und ins Leben. Dass die Gefahr besteht, die Wohnung zu verlieren,weil diese keine Hundehaltung erlaubt? Egal, auch wenn das in New York keine banale Sache ist, wenn man eine neue zahlbare bräuchte. Das Argument, dass sie eigentlich Katzenmensch wäre, ist bald vergessen. Klar ist: Diesem Hund muss in seiner Trauer geholfen werden, er braucht einen Freund, der für ihn da ist – oder ist es nicht eigentlich umgekehrt? 

«Was sind wir, Apollo und ich, wenn nicht zwei Einsame, die einander schützen, grenzen und grüssen? Es ist gut, dass die Dinge klar sind. Wunder oder kein Wunder, was immer geschieht, nichts wird uns trennen.“

So oder so: Sigrid Nunez schrieb einen wunderbaren Roman über das Zusammenwachsen zweier Wesen, über eine Liebe, die tief geht. Sie schreibt zudem immer wieder auch über das Schreiben:

«Statt über das zu schreiben, was ihr wisst, hast du zu uns gesagt, schreibt über das, was ihr seht. Geht davon aus, dass ihr sehr wenig wisst und nie viel wissen werdet, ausser ihr lernt, zu sehen. Führt ein Notizbuch, um aufzuschreiben, was ihr seht, zum Beispiel, wenn ihr draussen auf der Strasse seid.»

*Der Freund» ist eine Geschichte über Risken und Verluste im Leben, über den Tod, über Freundschaft, über Hunde und deren Welt, wie sie durch Apollo nach und nach erfahrbar wird:

«Sie begehen keinen Selbstmord. Sie weinen nicht. Aber sie können zerbrechen und sie tun es. Ihre Herzen können brechen, und sie tun es. Sie können den Verstand verlieren, und sie tun es.»

Nicht zuletzt ist es eine Geschichte über das Loslassen. 

«Was wir vermissen – was wir verlieren und worum wir trauern -, ist es nicht das, was uns zuinnerst zu der Person macht, die wir wirklich sind.“

Am Schluss dieses Buches sass ich da und seufzte tief. Ums Herz war mir schwer und doch warm. Die Träne im Auge wäre zu kitschig, sie noch zu erwähnen, weswegen ich das lasse. 

Sigrid Nunez’ «Der Freund» ist ein Herzensbuch, eines, das man ungern aus der Hand legt, das man in einem Zug weglesen möchte und doch Angst hat, es könnte zu Ende gehen. Es ist ein Buch, das tief geht und da auch noch eine Weile bleibt. 

Inspirationen für die Woche – KW 18

Neue Woche, neue Inspirationen. Es war eine spannende Woche, eine, bei denen ich mich durch die verschiedensten Bücher blätterte und mich auch sonst inspirieren liess.

Aktuell kommt man kaum an Immanuel Kant vorbei, das Jubiläum hat wahre Text- und sonstige Fluten losgelöst. Ich habe vor nunmehr 21 Jahren beschlossen, damals schwanger in einer Kantvorlesung sitzend, dass mein Sohn doch bitte diesen wunderbaren Namen tragen soll: Immanuel. Er wurde für zu altertümlich befunden, so trägt er ihn nun als Zweitnamen. Immerhin.

Kant ist aktuell, immer. Und ja, um gleich die Kritik vorwegzunehmen: Er war rassistisch und frauenfeindlich. Der Zeit geschuldet, obwohl er es auch hätte besser wissen können. Egal. Es bleibt genug, das zu bedenken ist, da es schlicht gut ist. Man muss nicht immer das Kind mit dem Bade ausschütten. Keiner ist über jeden Zweifel erhaben und wäre es einer, ihr wisst schon, solle er den ersten Stein werfen….

Hier ein paar aktuelle Bücher zum Einstieg:

  • Gabriele Gava, Achim Vesper: Kants Philosophie (C.H.Beck 2024) – ein Einblick in das Leben und Schaffen Kants, eine Erläuterung der zentralen Begriffe und Ansätze seines Denkens anhand seiner wichtigsten Werke.
  • Ursula Michels-Wenz: Klarsicht mit Kant (Insel Verlag 2024) – kleine Denkhäppchen aus Kants Denken, ein guter Einstieg für zwischendurch
  • Omri Boehm, Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant (Propyläen Verlag 2024) – zwei kluge Köpfe reden darüber, was wir noch heute von Kant zu Themen wie Rassismus, Kolonialismus, Gerechtigkeit, das Böse und vielen mehr lernen könnten
  • Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens (C.H.Beck 2024) – eine gelungene, informative, kompetente und gut lesbare Einführung in Kants Philosophie und viel Anregung, als Leser selber mitzudenken

Folgendes Buch kann ich euch zudem ans Herz legen, es hat mich beim Lesen sehr berührt:

Sigrid Nunez: Der Freund

Als ihr Freund stirbt, hinterlässt er nicht nur eine grosse Lücke in ihrem Leben, sondern auch seinen vor Trauer depressiven Hund, eine Deutsche Dogge. Abgesehen davon, dass sie Gefahr läuft, ihre Wohnung in New York zu verlieren, weil da keine Hunde erlaubt sind, wollte sie nie einen Hund haben. Sie war Katzenmensch. Die Geschichte eines Zusammenwachsens, einer Liebe, die tief geht und viel ans Licht holt. Gedanken zum Schreiben, zum Tod, zu Liebe und Freundschaft, zum Denken und zu den Unterschieden zwischen Mensch und Tier. Und ja, auch eine Geschichte vom Loslassen.

Ich habe auch wieder einen Podcast gehört, den ich euch empfehlen möchte:

Vor einiger Zeit stiess ich aus irgendeinem Grund, den ich nun nicht mehr weiss, über sieben Ecken wohl, auf ein Buch: Dana von Suffrin, Nochmal von vorne. Das Buch klang spannend, so dass ich es bestellte. Einen Tag nachdem es im Briefkasten war, suchte ich einen neuen Podcast und stiess auf die neuste Folge von «Dear Reader» mit Mascha Jacobs. Ihr Gast? Dana von Suffrin.  Als persönliches Buch hatte sie neben anderen Joseph Roth dabei mit seiner Erzählung «April». Gleich stürzte ich zum Bücherregal, zog Roths Erzählungen heraus, schlug die Geschichte auf und stiess auf diesen wunderbaren Satz (ich habe ihn kürzlich schon hier reingestellt, weil er so wunderbar ist):

«Die Aprilnacht, in der ich ankam, war wolkenschwer und regenschwanger. Die silbernen Schattenrisse der Stadt strebten aus losem Nebel zart, kühn, fast singend gegen den Himmel.»

Und hier der Link zum Podcast:  HIER

Habt eine gute Woche!