Das Leben wagen

Mein Leben als Rosamunde-Pilcher-Film

Ich oute mich: Ich liebe Rosamunde Pilcher. Nicht die Bücher, die würde ich kaum lesen, ich liebe die Filme. Ich liebe es, mich vor den Fernseher zu legen und in diese Welt einzutauchen, die von schönen Bildern, wundervollen Landschaften, altvertrauten Schauspielern und dem ewig gleichen Lebensmuster geprägt sind. Ich liebe es, schon am Anfang zu wissen, wie es enden wird, und nie enttäuscht zu werden. Das ist ein Stück heile Welt, die trotz Höhen und Tiefen immer sicher ist, weil sie absehbar ist. Diese Absehbarkeit allein ist schon irgendwie beruhigend, dass es dabei immer auf das Gute hinausläuft, macht es umso besser.

Und ja, ich gestehe es: Ich würde gerne in einem Rosamunde-Pilcher-Film leben. Langweilig? Das würde heissen, dass man den Kitzel braucht, dass etwas in die Hose gehen kann, um im Leben Salz in der Suppe zu haben. Es ist ja nicht mal so, dass alles reibungslos läuft in den Filmen, es gibt immer Intrigen, immer Krisen. Aber: Sie lösen sich auf und am Schluss strahlen alle, mit denen man gehofft hat, und all die, welche falsches Spiel spielen, sind entlarvt und schauen in die Röhre. Und ich sitze vor dem Fernseher und strahle glücklich vor mich hin. Frau fühlt ja mit.

Leider ist das Leben kein Pilcher-Film. Leider wissen wir nicht, wie es ausgeht und können nicht drauf bauen, dass etwas so kommt, wie wir uns das wünschen. Das bringt Unsicherheiten mit sich und diese schüren Ängste. Angst ist nie ein guter Ratgeber und sie bewirkt selten etwas Gutes. Meist ist sie unbegründet oder baut auf Ahnungen, Vorstellungen, selten auf wirkliche Fakten oder tatsächliche Gefahren. Wenn wir uns von unseren Ängsten leiten lassen, bleibt es über kurz oder lang nicht aus, dass wir anfangen, gegen alles und jedes zu kämpfen, weil überall Gefahren lauern. Menschen können einen verletzen, Projekte können scheitern, Ziele können unerreichbar sein. Und weil dem so ist, wagen wir es nicht mal. Und noch schlimmer: Wir sehen überall Gründe oder Feinde, die uns im Weg sind, die mithelfen, dass wir scheitern (wobei wir noch nicht mal gescheitert sind, wir sind nicht mal losgegangen aus der Angst heraus, der Weg könnte abrupt enden).

Heute las ich einen Spruch:

Die Zuversicht springt über den Schatten der Angst. (Ernst Ferstl)

Im wahren Leben ist es leider so, dass man nicht immer schon weiss, ob man den Mann schlussendlich kriegt, ob man die Prüfung besteht, die eigenen Ziele erreicht. Man kann es sich wünschen, aber ein Risiko bleibt. Beziehungen scheitern, Prüfungen sind immer auch ein bisschen Glück und Tagesverfassung, Wege hin zu Zielen bergen immer das Risiko von Hindernissen (von aussen wie aus einem selber). Aus diesem Grund den Weg gar nicht erst zu gehen, weil die Angst übermächtig wird, wäre schade, denn dann gibt es garantiert keinen Erfolg. Der Mann wird von einer andern weggeschnappt (und man sagt sich: „Das habe ich mir doch gleich gedacht!“), die Prüfung ist nicht bestanden („Gut habe ich es gar nicht erst versucht!“) und das Ziel bleibt in weiter Ferne („Das hätte ich eh nie erreicht!“). Nur innerlich brodeln auch die Zweifel, die an einem selber: „Wäre es nicht doch möglich gewesen?“ „Habe ich nicht vielleicht einen Fehler gemacht?“

Auf diese Zweifel gibt es keine positive Antwort, denn: Sie sind absolut richtig. Niemand anders ist schuld, dass es nicht geklappt hat, als man selber. Dabei ist nicht gesagt, dass es geklappt hätte, aber die Chance wäre ungleich höher gewesen. Und wer weiss: Vielleicht hätte man bei diesem Versuch auch gemerkt, dass der Mann gar nicht passt, die Prüfung nicht so wichtig und das Ziel nicht das richtige ist. Sogar das wäre ein Happy End, denn zu wissen, was nicht passt, weil man es selber herausfand, ist immer ein Schritt nach vorne.

Wenn es aber doch klappt, dann – ja dann – haben wir es, das:

HAPPY END

Und dann ist das Leben für einen Moment fast wie ein Pilcher-Film. Ich hol’ schon mal das Taschentuch für die Tränchen der Rührung.

Das Kranken an der Welt

Ich las gerade die Frage, wie viele Piloten wohl krank im Cockpit sitzen. Gut, Piloten haben die Verantwortung über viele Menschen, die hinter dem Cockpit sitzen, trotzdem fände ich es angebrachter, die Frage auszuweiten: Wie viele Menschen kämpfen sich krank durch dieses Leben? Und woher kommt dieses Kranken der Menschen, das immer weitere Kreise zu ziehen scheint, immer mehr Menschen in seinen Bann zieht? Kranken wir am Leben selber? Kranken wir an der Gesellschaft? Bloss: Die Gesellschaft sind ja wir. Wo also liegt der Hund begraben? Wo sind wir als Gemeinschaft falsch abgebogen und gibt es eine Kurve zurück?

Oft hört man, die Welt sei härter geworden. Schneller. Brutaler. Nur: Früher gab es Folter, es galt das Recht des Stärkeren (damals körperlich, heute wohl im übertragenen Sinne). Wir leben in einem Zeitalter, das – trotz aller Übel, die ich nie abstreiten möchte, die mich teilweise sehr bedrücken – als eines der sichersten und friedlichsten gelten kann. In unseren Breitengraden gab es kaum je so lange Friedenszeiten, wie wir sie gerade erleben.

Woran also kranken wir? Sind wir zu schwach? Ist das Bewusstsein für ethische Werte und Friede (man wäre fast geneigt, Freude und Eierkuchen hinterherzuwerfen) eigentlich ein Schlag ins Kontor, weil er uns verzärtelt? Haben wir zu hohe Ansprüche durch die Aufklärung darüber, was uns als Mensch zustehen sollte, und leiden wir nun an Dingen, die besser sind, als sich manche Menschen je zu träumen gewagt hätten?

Das klingt hart gegenüber all dem Leiden, das man sieht. Kinder sind schon in der Schule unter Stress, Burnout gibt es nicht nur bei Managern, es greift auf Arbeiter, Mütter und sogar Kinder über. Es scheint, dass wir mit der Erkenntnis darüber, was uns als Menschen zustehen würde, nicht umgehen können, weil der Mensch sich trotz dieser theoretischen Erkenntnis nicht vom Wolf zum Schaf gewandelt hat. Den Pelz in Form von ethischen Manifesten und Firmengrundsätzen trägt er zwar, wenn es hart auf hart kommt, zeigt er seine wahre Natur und die besagt immer noch: Ich will gewinnen, koste es, was es wolle!

Nun kann man sagen, das Gewinnen sei ein reiner Selbstzweck, Narzissmus, Profilierungswahn oder Ruhmessucht geschuldet. Schlussendlich geht aber alles – davon bin ich überzeugt – auf den Wunsch, zu überleben, zurück. Man denkt: „Wenn ich nicht gewinne, tut es ein anderer, der mich dann unterdrückt.“ Drum tut jeder, der es kann, alles, was er kann, um da zu sein, wo er die Macht hat – und damit die Entscheidung, wer oben steht, wer fällt. Selten sind es die, die oben stehen, die gegen dieses System aufbegehren, meist die, welche nicht an dem Punkt sind.

Nun müsste man denken, dass die doch die Mehrheit ausmachen, somit gewinnen müssten? Das wäre eine Rechnung, die ohne den Wirt gemacht wurde, denn: Jeder derselben hat einen, der über ihm steht. Da er dessen guten Mut meist braucht, um überhaupt überleben zu können, wagt er nicht, in dem Masse aufzubegehren, wie er wollte. Des Weiteren hofft fast jeder, auch mal an eine Stelle zu kommen, wo er der wäre, der oben stünde. Dumm doch, da vorher die Möglichkeiten beschnitten zu haben? Zumal von denen oben gerne versprochen wird, jeder könne dahin, er müsse es nur wollen.

Und so kommen wir vom einen zum andern und stellen die ganze Welt auf den Kopf. Was es bringt? Wohl wenig. Da sind immer noch ganz viele kranke Menschen, die mit der Welt, wie sie sie vorfinden, nicht klarkommen. Da sind immer noch viele Menschen, die leiden, Angst haben. Und dann tickt einer aus. Und alle schreien nach Massnahmen. Doch welche sind die richtigen?

Der Arzt hätte zum Arbeitgeber gehen müssen. Solange Krankheit Schwäche ist und Schwäche in dieser Gesellschaft den Abstieg, wenn nicht gar den Abgrund bedeutet, wird das nicht durchkommen. Wäre es nur partiell, wäre es nicht gerecht. Gerechtigkeit ist überbewertet, viele Menschen könnten noch leben, wäre das hier gemacht worden? So könnte man argumentieren. Ich bezweifle es. Dann würden Arztgänge vielleicht vermieden, Ausraster kämen noch früher.

Schliesslich und endlich können wir das Leben nicht absichern. Erstens hinken wir mit jeder Massnahme immer einen Schritt hinterher, da sie uns erst einfällt, wenn etwas passiert ist, zweitens hat das Leben so viele Variablen, dass nie alle davon berücksichtigt werden können. Es bleibt wohl nur, irgendwie zu versuchen, die guten Seiten des aktuellen Lebens zu sehen, zu schätzen und zu leben. Alles andere ist Gedankenakrobatik, wie ich sie hier in diesem Beitrag produziert habe. Sie hat kein Ende, hat keine Lösung, sie stellt nur Fragen, stellt in Frage. Unsere Zeit ist nicht härter als frühere, im Gegenteil. Aber wir leben nun mal in dieser und hinterfragen sie. Und wir brauchen Gründe. Und Schuldige. Leid muss erklärt werden, sonst können wir es nicht begreifen und das macht es noch schlimmer.

Das macht Angst. Das macht traurig. Das ist wohl das Leben. Wir können es leben, so lange es dauert. Wir müssen irgendwie damit klar kommen, wenn das der Nächsten endet, und vor allem damit, dass unseres auch endlich ist.

Was ist Familie?

Fragte man vor einigen Jahrzehnten, was Familie ist, so war die Antwort einigermassen einfach: Vater, Mutter, Kinder im innersten Kreis, dazu kamen Onkel, Tanten, Cousinen, Grosseltern, Grosstanten. Alles einfach, alles einigermassen linear. Dann begann es, schwierig zu werden. Innerste Kreise brachen auf. Wo vorher Vater, Mutter Kinder waren, blieben Mutter und Kinder hier, Vater und Kinder dort. Als ob das nicht genug wäre, gesellten sich auch Onkel, Tanten, Cousinen und Grosseltern zu den jeweiligen Elternteilen, zu denen sie ursprünglich gehörten. 

Verstandesmässig ist die ganze Sache immer noch einfach zu verstehen. Sie ist auch rational nachvollziehbar und liegt im alten Spruch „Blut ist dicker als Wasser“ begründet. Blickt man tiefer, wird es schwerer. Man heiratet eines Tages aus Liebe einen Menschen und kriegt eine neue Familie dazu. Im besten Fall wird man willkommen geheissen, hört Sprüche, die einen als neue Tochter, neuen Sohn begrüssen. Bricht die Ehe, wird man oft zum verstossenen Sohn, zur fallengelassenen Tochter. Man steht wieder alleine da. Zurück bleibt das Gefühl, nur aufgrund der Liaison angenommen worden zu sein. Es ging gar nie um einen selber.  

Nun könnte man also sagen, dass die Welt böse und schlecht geworden ist, früher alles besser war. Allerdings würde man dabei vernachlässigen, dass man von einem sehr idealen Bild einer sehr heilen Welt ausgegangen ist. Früher waren vielleicht Scheidungen weniger aktuell, dafür starben Mütter weg, Familien waren nie in dem Sinne aktuell, wie wir sie heute als Idealbild vor Augen haben, und Schwiegermütter mochten Schwiegertöchter nicht (auch da ging es selten um den Mensch, mehr um die Rolle). Dann war auch kein eitel Sonnenschein und alles war genauso kompliziert. 

Erschwerend ist wohl der Wechsel der Gefühle. Erst grosse Liebe und Familie, dann grosse Leere und Verstoss. Das Wechselbad macht die Situation schwierig. Wo liegt die Lösung? Ausrufen „habt euch alle lieb“? Sich nie auf neue Modelle einlassen, weil sie zerbrechen könnten? Dann dürfte man gar keine Beziehungen mehr eingehen, denn Partner gehen, entlieben sich oder werden entliebt, Eltern werden älter, man selber flügge, Hunde entlaufen und alle miteinander sterben sie irgendwann.

Damit würde man aber all die schönen Momente verpassen, würde sich um viel Glück betrügen und wozu? Weil die Gefahr bestehen könnte, dass es nicht hält, dass es kein ewiges Glück ist? Aber ist Glück je ewig? Sind es nicht immer neue Glücksmomente, die einem das Leben schön machen, um wieder zu gehen, bis ein nächster kommt. Das Leben ist ein ständiger Wandel, was so auch gut ist, denn sonst stünden wir noch heute da, wo wir vor 5/10/20 Jahren waren. Wir hätten keine neuen Erkenntnisse gewonnen, uns nicht weiter entwickelt. Kaum einer fände das erstrebenswert. Zum Wandel des Lebens gehört auch, gewisse Dinge loszulassen, wenn die Zeit dazu reif ist.

Das gilt auch für Menschen. Es gibt Menschen, die streifen dein Leben, werfen dir einen Blick zu. Es gibt Menschen, die treten in dein Leben, zeigen dir etwas, gehen wieder. Und es gibt Menschen, die kommen, um zu bleiben. Für eine Zeit, für lange, für sehr lange. Alle haben ihren Platz, alle ihre Bedeutung. Ob man diese Menschen nun Familie, Freunde, Geliebte, Bekannte nennt, ist dabei gar nicht so wichtig. Wichtig ist, das Gefühl anzunehmen, das sie einem geben in dem Moment, in dem sie da sind.