Paris ist eine Reise wert

«Paris ist ein veritabler Ozean… Man mag Paris durchlaufen und beschreiben: Welche Mühe man sich auch dabei gibt, so zahlreich und so sorgfältig auch die Erforscher dieses Meeres sein mögen, immer wird man auf eine unbekannte Stelle stossen, auf eine unentdeckte Höhle, auf Blumen, Perlen, Ungeheuer, auf irgendetwas Unerhörtes, das die literarischen Taucher vergessen haben.» Honoré de Balzac

«Wenn einer eine Reise tun, so kann er was erzählen.» So oder so ähnlich ging ein Spruch, den ich seit Jahren kenne. Ich war nie der begeisterte Reiser. Reisen war mir eher beschwerlich, zu Hause gefiel es mir am besten, denn da kannte ich mich aus, da hatte ich alles, und vor allem: Da war ich schon. Vielleicht bin ich so oft umgezogen in meinem Leben, um trotzdem nicht immer am gleichen Ort zu sein. So konnte ich jeweils alles mitnehmen und hatte dann wieder eine Weile Ruhe.

Auf alle Fälle las ich mich in der letzten Zeit durch das Werk von Simone de Beauvoir, war mehr und mehr begeistert von ihr und damit passierte es unweigerlich: Ich wollte dahin, wo sie gewesen war. Nach Paris. Ich war Feuer und Flamme, plante Projekte, die ich mit der Reise verbinden wollte, und besorgte mir – wie sollte es anders sein – die nötige Literatur zur Vorbereitung. Die Auswahl ist gross, es galt auszuwählen.

Auf der Hand lag folgendes Buch:

Inga Westerteicher: Das Paris der Simone de Beauvoir

«Er trug so leicht an der Last der Welt, dass sie auch mich nicht mehr niederzudrücken vermochte; im Luxemburggarten strahlten morgens der blaue Himmel, der gründe Rasen, die Sonne, wie an den schönsten Tagen.» Simone de Beauvoir, Memoiren

Eine Reise durch das Paris von Simone. Lange wohnte Simone de Beauvoirs nur in Hotels, die vor allem eines sein mussten: Preiswert. Nachdem sie durch einen Literaturpreis Geld gewonnen hatte, kaufte sie sich eine Wohnung. Nach und nach wurden die Finanzen besser, doch Simone blieb ihrem Lebensstil treu, in dem sie sich mit Sartre zusammen eingerichtet hatte – man kann die beiden kaum getrennt denken. Simone de Beauvoir verkehrte in Cafés, wo sie häufig auch schrieb, in Bars abends, wo sie Freunde trafen, schlenderte durch Strassen und Gärten. Auf all diesen Wegen können wir ihr nun dank dieses Büchleins folgen, das zudem immer auch Einblicke in ihr Leben und ihre Begegnungen bietet. Nicht nur für die, die Simone de Beauvoir lieben, aber für die ist es wunderbar.

(Inga Westerteicher: Das Paris von Simone de Beauvoir, mit einem Vorwort von Florence Hervé, edition ebersbach, Dortmund 1999.)

Antje Kahnt: Zu Fuss durch Paris

«…nirgends sei man wirklich gewesen, wo man nicht zu Fuss war, wusste schon der alte Goethe. Für keine Stadt gilt das so wie für Paris… Den Reiz der Stadt machen nicht nur die Wahrzeichen wie Eiffelturm, Notre-Dame und Sacré-Cœur aus, sondern ihre vielen Gesichter.»

Als ich mal in Venedig war, liebte ich es, die Stadt zu erlaufen. Ich ging über Brücken und durch Gässchen, kam an malerischen Kapellen vorbei, schaute in verwunschene Hinterhöfe. So stellte ich mir meine Erkundung von Paris auch vor, denn ich war mir sicher: Auf keine andere Weise geht einem ein Ort tiefer. Wie schön, dass ich gleich auch das passende Buch dazu fand. 12 Spaziergänge durch Paris, untermalt mit Bildern, Beschreibungen der sehenswerten Wegetappen und ein paar Hintergrundinformationen. Beim Anschauen des Buchs ist man praktisch schon auf dem Weg.

(Antje Kahnt: Zu Fuss durch Paris. 12 Spaziergänge, Droste Verlag, Düsseldorf 2024.)

Ulrich Wickert: Alles über Paris

«Keine Metropole erweckt am Morgen solche Gefühle des Glücks, wie dies Paris vermag, wenn der Duft der frischen Croissants aus den Bäckereien auf die Strasse weht, wenn die geflochtenen Stühle der Bistro-Terrassen auf dem frisch abgesprühten Trottoir einladen, einen Café crème zu bestellen.» Ulrich Wickert

Die Liebeserklärung an Paris («die Stadt aller Städte» des langjährigen ARD-Korrespondenten Ulrich Wickert. Er zeigt mir in kurzen Aufsätzen und Reportagen sein Paris, führt mich durch die Gassen hin zu den verschiedensten Orten, erzählt, wie es da klingt und riecht, lässt die Stadt lebendig werden. Bald fühle ich mich mittendrin im Treiben, lese von den Katzen, die über Mauern balancieren, von Voltaire, der einst in Paris lebte, von der Kunst der Bäcker, Kunst und Kulinarik.

(Ulrich Wickert: Alles über Paris, Heyne Verlag, München 2004.)

Und dann das Wunderbuch:

Siobhan Ferguson: Paris wie es keiner kennt

«Paris ist die Stadt der Lichter, gross und majestätisch… die Stadt der charmanten Dörfer… Die Stadt der Dichter und Denker…. Die Stadt des Flaneur… Paris ist die Stadt der Träume.»

Ein Fest für die Sinne, eine Augenweide. Mit unzähligen Fotos zeigt dieses Buch die einzelnen Quartiere, lässt die Eindrücke vor Ort lebendig werden beim Anschauen. Neben Tipps, wie und wo sich gut fotografieren lässt, lerne ich, wie die einzelnen Arrondissements angeordnet sind, was ich mir auf keinen Fall entgehen lassen darf, was in den einzelnen Jahreszeiten zu beachten ist – und vieles mehr. Vor allem aber, ich kann mich nur wiederholen: Wunderbare Bilder. Ein Buch, in das sich gut versinken lässt.

«Siobhan Ferguson: Paris wie es keiner kennt, übersetzt von Martina Panzer, Midas Verlag, Zürich 2024.)

Ich glaube, diese Reise durch die Bücher wird mich noch eine Weile beschäftigen, die wirkliche Reise verschiebe ich auf später. Ein bisschen komme ich mir vor wie Peter Bichsel, der einst über Paris schrieb, ohne es je gesehen zu haben.

Reisen mit Simone: Italien

Ich bin ein Reisemuffel. Nur schon der Gedanke, ich müsste packen und mich auf den Weg machen, löst eine Unruhe und ein leichtes Unwohlsein in mir aus. Die Vorstellung, wie ich all mein mitzunehmendes Hab und Gut von A nach B schleppe, auf Fortbewegungsmittel warte, auf Anschlüsse und problemlose Umstände hoffe, vermag nicht, in mir Freudengefühle zu wecken. Nicht mal die Vorstellung auf die Zieldestination kann das uneingeschränkt, denn die Fragen, ob da auch alles klappt, was ich da den ganzen Tag machen soll, weil das, was ich am liebsten tue, sich eigentlich verbietet, wecken wenig Vorfreude, sondern lassen weitere Sorgenfalten im Gesicht auftauchen. «Du musst doch kein Buch einpacken, zum Lesen muss man nicht verreisen, da kann man auch zu Hause bleiben.» Ja, das würde ich auch am liebsten tun. Nun habe ich eine Form des Reisens gefunden, die mir entspricht:

Ich reise mit Simone de Beauvoir. Mit ihr entdecke ich Rouen, Le Havre, wir nehmen Sartre mit und es geht nach Rom, was ausnehmend schön ist:

«Ich liebte Rom, seine Küche, seinen Lärm, seine Plätze, seine Steine, seine Pinien.»

In Rom sollte Simone später auch eine Zeit lang wohnen, es scheint, bei dieser ersten Reise ist eine Liebe fürs Leben gepflanzt worden. So kann es also auch gehen auf Reisen. Ich kenne so eine Liebe auf den ersten Besuch mit München, das mir gleich zu Herzen ging und da für viele Jahre blieb.

Ganz anders als in Rom treffen wir es in Neapel:

«Neapel war uns ein Rätsel.»

Schon von ihrer Schwester, die unlängst selbst in Neapel gewesen war, hatte Simone gehört, dass Neapel nicht schön, sondern dreckig sei, und es reift die Erkenntnis, dass Dreck und verfallene Häuser allein nicht reichen, um einer Stadt eine Patina zu verleihen. Simone schlussfolgert weiter, dass der Umstand, dass man eine Stadt trotz ihrer Mängel mag, an den Menschen liegen muss. Auch da stimme ich mit meiner Reisebegleitung überein: Wie oft erkor ich Orte, auch Restaurants zu meinen Favoriten, nicht, weil sie besonders schön waren, sondern weil die Menschen mich ansprachen, ich eine Verbindung spürte.

Auf Reisen lernt man oft auch eine Menge, so auch ich auf meiner mit Simone:

«Wir wussten nicht, dass Lebensmittel immer dort mit besonderer Aufdringlichkeit zur Schau gestellt wurden, wo die Menschen Hunger leiden.»

Diese Verbindung hatte ich noch nie gemacht, fühlte mich durch sie aber an Bilder aus Indien und anderen Ländern erinnert, wo Armut und auch Hunger den Alltag vieler Menschen prägen (übrigens auch das Länder, die ich durch Bücher und Filme bereist habe). Ich frage mich, was dahintersteckt. Will man nach aussen ein Bild des Überflusses zeigen, welches den eigenen Mangel überdeckt? Herrscht der Hunger, weil man nur durch den Verkauf dessen, was man selbst am meisten benötigen würde, überhaupt überleben kann – im wahrsten Sinne des Wortes, da es zum Leben kaum reicht.

Simone und Sartre versöhnen sich auf ihre Weise mit Neapel:

«Wenn wir die Unbarmherzigkeit dieser Stadt ignorierten, fanden wir an Neapel manche liebenswürdige Seite.»

Und doch bleibt ein zwiespältiges Bild:

«Überall jedoch und jederzeit trug der Wind uns den trostlosen Staub der Docks oder feuchte, zweifelhafte Gerüche zu. Als wir den Posilipo erstiegen, konnte die ferne, trügerische Weisse Neapels uns nicht täuschen.»

Ich denke bei diesen Reisebeschreibungen an Goethes Ausspruch aus seiner «Italienischen Reise»:

«Io sono Napolitano. Vedi Napoli, e poi muori«

Er bezieht sich dabei auf eine neapolitanische Redensart, wonach man Neapel sehen und sterben könne, da man damit das Schönste und Höchste der Gefühle erlebt hätte, danach bliebe nur noch der Tod. Nun denn – die Geschmäcker scheinen verschieden. Trotzdem lassen sich Simone und Sartre nicht verdriessen, vor allem Sartre will als «emsiger Tourist» alles sehen und so erkunden die beiden alle Sehenswürdigkeiten der Stadt und die im Umland. Ich werde schon beim Lesen etwas müde ob all der Umtriebigkeiten und bin froh, diesen nur lesend beiwohnen zu müssen. Eigentlich ideal, auch wenn ich gestehe, dass ich auch beim Lesen Reisen nach Innen mehr liebe als solche durch die Welt.

Meine Reiseleiter fahren weiter nach Pompeji, wo Sartre einiges zu kritisch zu bemängeln hat, was er gleich seiner jungen Freundin Olga nach Hause schreiben muss. Überhaupt fällt mir der sehr kritische Blick der beiden auf vieles auf. War ihnen Neapel zu dreckig und hässlich, ist Pompeji nun zu schön:

«Sartre war verwirrt, weil er, wie er sagte: ‘nirgends einhaken kann’. Auch mir schien diese Schönheit zu einfach, zu glatt. Ich fand sie nicht ‘griffig’.»

Es ist vielleicht doch so, dass so manche Reise dann am schönsten ist, wenn man, wieder zu Hause, über sie erzählen kann. Und nun bin ich gespannt, wo mich meine Reise mit Simone noch hinführt.

***
Alle Zitate (ausser das Goethe-Zitat) stammen aus: Simone de Beauvoir: In den besten Jahren

Schöne weite Welt

Wenn ich mich in den sozialen Medien tummle, sehe ich überall Urlaubsbilder – sie fliegen mir direkt auf den Bildschirm, während ich gemütlich davor sitze. Sommer, Sonne, Strand, Meer. In alle Herrenländer sind die Menschen da draussen gereist – und ich war noch in fast keinem davon. Schon als ich noch ein Kind war, sind wir immer in die heimischen Berge in den Urlaub gefahren, nie ins Ausland. Klar, es war auch wirklich schön und mein Vater wurde nicht müde zu betonen, wie viel teurer Urlaub in der Schweiz sei als im Ausland und wie froh wir sein könnten, uns das leisten zu können. Und doch klangen die Urlaubsziele der anderen viel spannender, sie kamen mir wahnsinnig privilegiert vor im Vergleich mit mir.

Wenn ich sowas meinem Vater sagte, in der Hoffnung, er hätte ein Einsehen und wir führen wirklich auch mal weiter weg – flögen sogar – biss ich auf Granit. Bis in dem einen Jahr. Papa kam auf mich zu mit einem ganzen Stapel Kataloge auf dem Arm. Er sagte zu mir: „Such dir etwas aus, dann gehen wir dieses Jahr dahin in die Ferien.“

Stundenlang sass ich mit den ganzen Papierfluten da, blätterte mich durch Hotelanlagen, Strandbilder, Frühstücksbuffets und Himmelbetten, verglich Poolanlagen, Sonnenschirme, Hotelzimmer. Und ich wurde darüber ganz müde. Und sehr orientierungslos. Der Kopf drehte immer mehr, die Bilder verschwammen vor meinen Augen. Ich dachte an meine Freunde in den Bergen, mit denen ich jeden Sommer die wildesten Abenteuer erlebte, und da beschloss ich: „Wir sollten doch besser wieder in die Berge gehen. Ich konnte mir mich in so einer grossen Hotelanlage nicht vorstellen und hatte zudem keine Ahnung, was man da den ganzen Tag tun sollte.

Seit da hat sich nicht viel geändert. Zwar locken mich all die paradiesischen Bilder und ich denke mir beim Ansehen, wie toll es sein müsste, auch mal an so einen schönen Ort gehen zu können, Neues zu sehen, zu geniessen. Wenn es aber dann dazu kommt, dass ich wirklich hin könnte, müsste, dürfte, ändert alles schlagartig. Die Gedanken fangen an zu drehen: Was würde das bedeuten? Was, wenn es mir da dann doch nicht gefällt? Was, wenn ich wieder heim wollte und nicht könnte? Und was, wenn ich die vielen Menschen um mich nicht ertrüge? Was, wenn der ständige Zwang, etwas unternehmen zu müssen, da man ja schliesslich deswegen dort war, mich erschlüge? Ich, die ich doch meine Tage gerne in meiner Alltagsroutine mit Lesen und Schreiben verbringe, was natürlich auch an einem schönen neuen Ort möglich wäre mit der nötigen Ruhe und Zeit – nur: Gäbe es die dann dort?

Wenn diese Gedanken mal zur Ruhe kamen, war aber noch lange nicht fertig mit dem Gedankenkarussell, dann kam die Reise an die Reihe: Ich müsste Koffer packen. Was nähme ich da mit? Meine Erfahrung zeigte, dass ich immer das Falsche dabei hatte – vor allem bei dem, was wirklich zählt, bei den Büchern. Wie sollte ich zu Hause wissen, worauf ich im Urlaub Lust hätte? Und was, wenn eines der Bücher plötzlich ein Flop wäre? Oder zwei, oder drei, oder alle? Und: Wie viele Kleider bräuchte ich da und was für welche? Müsste noch mehr dringend mit, irgendwas hatte ich sicher gerade nicht im Kopf und würde es dann vermissen. Wäre der Koffer dann doch gepackt (mit mindestens 10 Büchern drin), müsste ich den zum Flughafen schleppen. Der Gedanke an die endlose Zugfahrt dahin liess meine Reisevorfreude schon nicht wirklich gross werden, doch was dann kam, war der Todesstoss: Endlose Warterei bis zur Kontrolle, welche das nächste Übel darstellte: Was, wenn die was fänden, was nicht in Ordnung wäre bei mir? Bei mir hatte es noch immer gepiept. Einmal untersuchten sie sogar meine Tasche auf Drogen. Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher und fühlte die Blicke der Umstehenden förmlich. Was die wohl dachten? Natürlich haben sie nichts gefunden, aber nur schon die Verdächtigung war mir unendlich peinlich. Dass dies Routine sei, konnte mich auch nicht wirklich von meiner Scham befreien.

Auch das wäre irgendwann überstanden, nur wäre dann das nächste Warten dran, bis ich einsteigen könnte. Natürlich könnte ich lesen oder schreiben in der Wartezeit, nur kann ich das leider nicht, da ich einerseits zu nervös und aufgeregt wäre, ein wenig Genervtheit käme dazu, und dann die vielen Menschen… die ich anschauen müsste, die mich in meiner Ruhe und Konzentration störten durch ihr blosses Vorhandensein. Es bliebe also ein Warten – und nur das. Endlos, aufreibend, anstrengend. Wäre das um, ginge es darum, das richtige Gate zu finden, da wieder anzustehen, innerlich betend, dass das Ticket auch wirklich in Ordnung wäre und das Foto im Pass mir genug gliche, dass sie mich auch wirklich in den Flieger liessen. Da hiesse es erneut: Warten. Wenn nicht noch ein Triebwerkschaden, ein Chaos auf den Pisten oder ein Übelkeitsanfall des Piloten dazwischen kam, wäre die Zeit überschaubar, ansonsten gefühlt endlos. Dann endlich der Start. Immerhin war ich nun unterwegs und das doch eine ganze Weile. Leider konnte ich nicht schlafen im Flugzeug, schreiben und lesen auch nicht – genau: Die Menschen und die Nervosität wegen all des Neuen, das da vor mir lag.

Schon im Flugzeug würden die Gedanken drehen: Ob mein Koffer wirklich mit dabei ist und am selben Ort wie ich ausstieg. Was, wenn er unterwegs verloren gegangen oder gar in ein falsches Flugzeug verfrachtet worden wäre? Was würde ich ohne Kleider und Bücher und andere persönliche Dinge machen in dieser langen Zeit in der Fremde? Sollte das klappen, wären da noch die Sicherheitsleute überall auf dem Flughafen. Was, wenn ich verdächtig aussähe? Was, wenn sie mich rauspickten, für nicht vertrauenswürdig hielten und wieder in den Flieger nach Hause setzten? Dann wäre alles bislang umsonst gewesen. Aber ja, ich könnte mir dann die Sorgen sparen, ob ich das Hotel finden würde und meine Reservation auch wirklich geklappt hätte. Was, wenn es kein Zimmer mehr für mich gäbe?

All die Gedanken mache ich mir ja aber nicht erst auf der Reise, sondern schon zu Hause, und spätestens an dem Punkt komme ich immer zum Schluss, dass ich vielleicht doch besser zu Hause bliebe und weiter Fotos am Computer anschaue.

Alain de Botton: Kunst des Reisens (Rezension)

Wenn das Streben nach Glück unser Leben beherrscht, erschliessen uns vielleicht nur wenige unserer Handlungen soviel über die Dynamik dieser Suche – mit all ihrer Inbrunst und ihren Paradoxien – wie die Reisen, die wir unternehmen.

debottonreisenIch lese Alain de Bottons Buch Kunst des Reisens in den Sommerferien. Ich sitze zu Hause, sehe auf Facebook, Instagram und Twitter all die Urlaubsbilder, lese, wie toll die Reisen sind. Ich reise im Kopf – oder lese mir mal durch, was Herr de Botton über das Reisen zu sagen hat. Es ist einiges. Er behandelt die Erwartungen, die wir haben, wenn wir eine Reise haben, beschreibt, wie diese enttäuscht werden kann. Er geht von den Vorstellungen weiter zur Anreise, Ankunft, dem Aufenthalt und schliesst mit der Abreise und dem erneuten Ankommen – diesmal zu Hause.

Der Leser macht eine ganze Reise in Gedanken mit, nicht nur an verschiedene Orte, er begleitet Schriftsteller, Philosophen, Maler auf ihren sowie de Botton auf seinen Reisen. Und auch das Reisen selber wird hinterfragt.

Wir werden überhäuft mit Ratschlägen, wohin wir reisen, hören aber nur wenig, warum und wie wir reisen sollten – und das, obwohl die Kunst des Reisens naturgemäss verschiedene Fragen aufwirft, die weder simpel noch trivial sind und deren Betrachtung in bescheidenem Masse zum verstehen dessen beitragen könnte, was griechische Philosophen mit dem schönen Begriff der eudaimonia, der Entfaltung der Persönlichkeit, bezeichneten.

Am Schluss des Buches habe ich erfahren, wieso ich nicht blind jedem Reiseführer folgen muss, wieso ich nicht immer nur Freude haben muss auf Reisen. Ich weiss, wieso mir Kunst die Augen öffnen kann für Orte und dass Reisen auch den Blick auf das Gewohnte verändern kann.

Ich bin ein Reisemuffel. Wobei: Das stimmt nicht ganz. Ich denke immer, ich würde gerne reisen. Und ich mache Pläne für Orte und stelle mir alles vor. Und ganz oft bleibe ich dann doch zu Hause. So bin ich auch in diesen Ferien zu Hause, geniesse es hier, denn: Wann wäre Zürich schöner als im sonnigen Sommer, wann könnte man es mehr geniessen, als wenn alle weg sind, der Garten lacht, der Weisswein gekühlt wartet? Diesmal war ich auf Reisen. Im Geiste. Nicht nur auf einer, auf mehreren. Und das war schön. Und wer weiss: Vielleicht packe ich doch bald mal meine Koffer und setze um, was ich grad für mich aus dem Buch gezogen habe.

Fazit:
Ein inspirierendes, tiefgründiges, unterhaltsames Buch über das Reisen, das von einer unglaublichen Belesenheit des Autors zeugt und Lust aufs Reisen macht – sogar Reisemuffeln. Absolute Leseempfehlung.

Zum Autor:
Alain de Botton
Alain de Botton gründete 2008 die ›School of Life‹, da er der Überzeugung ist, dass man die verschiedenen Lebensbereiche wie Karriere, Liebe, Elternschaft usw. erlernen kann. Mit Charme, Ironie und Neugier entwickelt Alain de Botton seit seinem Romandebüt und Weltbestseller »Versuch über die Liebe« eine Philosophie des Alltags. Alain de Botton lebt mit Frau und Kindern in London. Zuletzt erschienen bei S. Fischer sein essayistisches Werk »Die Freuden der Langeweile« und sein Roman »Der Lauf der Liebe«.

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 288 Seiten
Verlag: Fischer Taschenbuch (1. Juni 2003)
ISBN-Nr: 978-3596158041
Preis: EUR 9.95; CHF 14.90
Zu kaufen in jeder Buchhandlung oder aber online u.a. bei AMAZON.DE oder BOOKS.CH

Volker Weidermann: Max Frisch

Sein Leben, seine Bücher

Ein Leben zwischen Unsicherheiten, Affären, Politik und immer wieder Schreiben

Man ist, was man ist. Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heisst: sich selber lesen. […] Wir können nur, indem wir den Zickzack unserer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennenlernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen könne, nicht von einem einzelnen Augenblick aus -.

In eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, studiert Frisch Germanistik, hält sich mit Artikeln für verschiedene Zeitungen über Wasser, mehr schlecht als recht. Er beschliesst, mit Hilfe eines vermögenden Freundes und auf Anraten seiner baldigen Ehefrau, doch noch etwas Lebenstüchtiges zu machen und studiert Architektur. Dem Schreiben schwört er ab, was nicht lange anhält. Sein erster Architekturwurf wird ein Erfolg, das von ihm entworfene Zürcher Freibad preisgekrönt. Trotzdem zieht es ihn zum Schreiben zurück. Immer wieder schreibt er Geschichten, die hauptsächlich von einem zu handeln scheinen: Ihm selber und seinem Leben zwischen Künstlertum und Bürgertum. Ein ständiges Hadern und Schwanken. Frisch ist nicht etwa der selbstbewusste Schriftsteller, als der er hätte scheinen mögen, er zerfrass sich teilweise mit Selbstzweifeln, suchte seinen Platz.

Neben dem Schreiben reiste Max Frisch viel und auch die Liebe und die Frauen kamen nicht zu kurz. Die Liebe ist ein Thema, dem sich Frisch immer wieder widmet:

Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben.

Fertig wurde Max Frisch vor allem mit einer Liebe nie, auch nach der Trennung von Ingeborg Bachmann durchstreift sie dessen Werk, ist Vorlage, Hintergrund, immer präsent – nicht nur im Schreiben, auch im Denken Frischs. Seine Reaktionen auf sie angesprochen bestätigen dies.

Volker Weidermann verschränkt Leben und Werk ineinander, geht chronologisch durch Frischs Sein und Schaffen. Er überzeugt durch Ausführlichkeit und Hintergrundwissen. Seine Sprache ist leicht lesbar, ab und an ein wenig flapsig. Volker Weidermann muss sich sicherlich nicht den Vorwurf gefallen lassen, seinen Biographierten verzärtelt zu haben, geht er doch oft hart mit ihm und vor allem mit dem Wert seines Werkes ins Gericht. Teilweise stimmt seine Kritik mit Stimmen aus den Literaturkritiken der zeitgenössischen Feuilletons überein, teilweise bewegt er sich auf eigenem Terrain und widerspricht gar Literaturprofis wie Peter von Matt. Wer nun recht hat mit seiner Werkeinschätzung soll hier nicht entschieden werden.

 

Fazit:
Flüssig lesbar geschrieben gibt das Buch ausführlich und kompetent, ab und an sehr kritisch dem Werk und dessen Wert gegenüber, Auskunft über das Leben und Schreiben Max Frischs. Sehr empfehlenswert.

 

Zum Autor
Volker Weidermann
Volker Weidermann, 1969 in Darmstadt geboren, studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg und Berlin. Er ist Literaturredakteur und Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und lebt in Berlin. Von ihm erschienen bei Kiepenheuer & Witsch: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher (2010), Das Buch der verbrannten Bücher (2008) und Lichtjahre (2006).

 

Angaben zum Buch:
WeidermannFrischGebundene Ausgabe: 432 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch Verlag (10. November 2010)
ISBN-Nr.: 978-3462042276
Preis: EUR 22.95 / CHF 32.30

 

Zu kaufen in jeder Buchhandlung vor Ort oder online u. a. bei AMAZON.DE und BOOKS.CH

 

 

 

 

 

 

Valeria Luiselli: Falsche Papiere

Sprachliches Erkunden der Welt

Aber vermutlich ist ein Mensch nur in zwei Räumen wirklich zu Hause: im Haus seiner Kindheit und im Grab. Alle anderen Orte, die wir bewohnen, sind bloss graue Fortsetzungen dieser ersten Wohnung, eine unbestimmte Abfolge von Mauern.

In diesen Kurzgeschichten durchstreift Valeria Luiselli die Welt, hinterfragt sie, lässt sie wirken. Es ist eine Reise durch die reale Welt, durch gedankliche Welten, Welten, die die Literatur bereitstellt und sprachliche Welten.

Sprachen zu lernen bedeutet, sich nach und nach darüber klar zu werden, dass wir über nichts irgendwas sagen können.

Falsche Papiere besticht durch Sprachschönheit, zahlreiche Literaturzitate, welche einerseits die Belesenheit der Autorin darlegen, die andererseits neue Ebenen in die Erzählungen einbauen, indem sie Verweise auf neue Geschichten bilden, die den Leser weiter führen, auf neue Welten verweisen. Luiselli hinterfragt das Offensichtliche, beleuchtet das hell da liegende und doch oft verkannte, reflektiert über das Leben, die Sprache, Friedhöfe, Reisen zu Fuss und per Fahrrad und vieles mehr. Schlussendlich stellen die Geschichten auch immer wieder eine Reise zur eigenen Identität dar. Wer bin ich, wie gehe ich durch die Welt und wie erfasse ich sie?

Man könnte sich durchaus vorstellen, dass jeder neue Eindruck ein weiteres Loch gräbt, die unförmige Materie ein wenig mehr verletzt, uns ein bisschen weiter leert. Geboren wurden angefüllt mit etwas – grauer Materie, Wasser, mit uns selbst -, und in uns allen findet Augenblick für Augenblick die langsame Alchimie der Erosion statt. Wir tragen auf dem Hals eine in Bildung begriffene Kaverne, Stücke, die Stückwerk sein werden.

Fazit:
Ein kurzes, sprachlich und literarisch schönes Buch. Sehr empfehlenswert.

 

Zum Autor
Valeria Luiselli
Valeria Luiselli, geboren 1983 in Mexiko City, schreibt für Magazine und Zeitungen wie Letras Libres und die New York Times. Sie hat für das New York City Ballet Libretti und den Essay-Band »Papeles falsos« geschrieben, der von der Kritik hoch gelobt wurde. Sie arbeitet als Lektorin, Journalistin und Dozentin und lebt in Mexico City und New York. Von ihr erschienen sind Die Schwerelosen, Falsche Papiere.

 

LusielliFalschePapiereAngaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Verlag Antje Kunstmann (15. Januar 2014)
Übersetzung: Dagmar Ploetz, Nora Haller
ISBN-Nr.: 978-3888979361
Preis: EUR  16.95 / CHF 27.90

Zu kaufen in jeder Buchhandlung vor Ort und online unter anderem bei AMAZON.DE und BOOKS.CH

 

 

 

Martin Andreas Walser – Nachgefragt

WalserMartinAndreasMartin Andreas Walser
Martin Andreas Walser ist 1952 in Zürich geboren worden und wuchs in Winterthur auf. Er hat unter anderem als freischaffender und angestellter Journalist gearbeitet, hatte Stellen als Chefredaktor und Kommunikationschef inne und war als Leiter eines Zürcher Fachverlags tätig. Heute konzentriert er sich voll und ganz auf sein Schreiben als freier Autor. Martin Andreas Walser lebt seit über 30 Jahren mit seiner Familie bei Kreuzlingen am Bodensee und seit 2012 teilweise in Broglio TI. Von ihm erschienen sind unter anderem Sehnsucht, Silberherz, Jakob, ScherbenLeben. Mehr zu seinen Büchern findet sich hier.

Martin Andreas Walser hat sich bereit erklärt, mir ein paar Fragen zu beantworten. Seine Antworten nehmen mit auf eine Reise durch Zeit und Raum, sie spannen einen Bogen vom Tessin über den Bodensee bis nach Lissabon und von der Jugend bis in die Gegenwart.

Wer sind Sie? Wie würden Sie Ihre Biographie erzählen?

Geboren 1952 in Zürich, aufgewachsen in Winterthur, die Hauptzeit des Lebens unterwegs als Journalist, seit über 30 Jahren mit der Familie wohnhaft oberhalb von Kreuzlingen/Thurgau und seit bald zwei Jahren zeitweise in Broglio/Tessin, Vater dreier Söhne und zweifacher Grossvater: die Kürzestfassung.

Wieso schreiben Sie? Wollten Sie schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen Auslöser für Ihr Schreiben?

Mit 16 Jahren wusste ich: Ich will Schriftsteller werden. Der Kompromiss: ich wurde Journalist, machte das Schreiben zum Beruf, was im Rückblick keineswegs ein Fehler war, nur dauerte es deshalb wohl rund vierzig Jahre, bis ich mein erstes Buch veröffentlichte (abgesehen von einem Fortsetzungsroman 1992/93 für eine Zeitung, den es nicht in Buchform gibt). Beim ersten meiner zahlreichen Aufenthalte in Lissabon habe ich schliesslich mein erstes Buch («Vom Leben») geschrieben; ich kehrte so oft nach Portugal zurück, bis es vollendet war (und ich obendrein Teile von «UnGlück» und die Erzählung «Silberherz» geschrieben hatte). Ohne Lissabon gäbe es mich «in Buchform» also kaum.

Es gibt diverse Angebote, kreatives Schreiben zu lernen, sei es an Unis oder bei Schriftstellern. Ist alles Handwerk, kann man alles daran lernen oder sitzt es in einem? Wie haben Sie gelernt zu schreiben?

Ich schreibe seit meiner Jugend: Ich begann mit etwa fünfzehn Jahren mit Gedichten und kleineren Texten, es entstanden Fragmente für Romane, die nie vollendet wurden, ich schrieb schon während der Schulzeit Beiträge für Zeitungen: «learning by doing»… Sicher kann man vieles lernen, aber nicht alles. Man mag das Talent nennen; ich spreche lieber vom inneren Feuer, von Passion, von Leidenschaft, mitunter von Besessenheit. Gelernt zu schreiben in einem akademischen Sinn habe ich also nicht – aber ein Leben lang geübt, geübt, geübt.

Wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Schreiben Sie einfach drauf los oder recherchieren Sie erst, planen, legen Notizen an, bevor Sie zu schreiben beginnen?

Ich recherchiere kaum, bevor ich zu schreiben beginne; ich greife auf Bilder zurück, die sich in mir gespeichert haben, frühe(re) Eindrücke, Ereignisse, Erlebnisse, manchmal eine Resterinnerung an einen Traum. Plötzlich, «aus dem Nichts heraus», entsteht daraus eine Idee. Damit spiele ich in Gedanken. Einiges verwerfe ich bereits, bevor ich zu schreiben beginne, andere Schnipsel wachsen sich zu kleineren Sequenzen in meinem schwarzen Notizbuch aus. Manche Ideen ruhen während Wochen, Monaten oder gar Jahren und Jahrzehnten (wie bei «SehnSucht» oder «UnGlück») in mir und reifen dabei. Irgendwann spüre ich: nun ist die Zeit gekommen, die Geschichte zu schreiben. Selbst da kann es passieren, dass ich den Text beiseite lege, da etwas «fehlt», andere Texte (zum Beispiel «Jakob») schreibe ich praktisch in einem Zug nieder – wenigstens als zu Ende formulierten Entwurf. In jedem Fall schliesst sich eine intensive Überarbeitungsphase an, was vor allem auch neuerliche Kopfarbeit und falls notwendig die Recherche einschliesst. Mitunter bleibt so letztlich kaum ein Stein auf dem anderen, bis der Moment der Erlösung meist sehr überraschend eintritt: vollendet!

 Wann und wo schreiben Sie?

Die letzten Jahre habe ich in Lissabon und in der Heimat in der Regel am frühen Morgen während der Bahnfahrt nach Zürich und abends eine weitere Stunde auf der Rückfahrt geschrieben. Dann und wann wache ich mitten in der Nacht auf und schreibe eine oder zwei Stunden. Oder es haben sich in den Ferien Geschichten nachgerade aufgedrängt («SehnSucht» ist im Liegestuhl auf Rhodos, «Jakob» in Tunesien entstanden). Heute ziehe ich mich meistens in mein Haus nach Broglio zurück, damit die Geschichten in Ruhe und Abgeschiedenheit wachsen und erblühen können; die definitive Form erhalten die Texte zu Hause im Thurgau.

Hat ein Schriftsteller je Feierabend oder Ferien? Wie schalten Sie ab?

Es stellt sich ja nicht nur bei Autoren und Schriftstellern die Frage, wie man Feierabend oder Ferien definiert. Im Sinne von Erholung, Entspannung, Abschalten: ja, natürlich schreibe ich nicht ununterbrochen. Allerdings sind «Feierabend» oder «Ferien» bei mir weniger an bestimmte Tages- oder Jahreszeiten gebunden. Abschalten kann ich bei allen möglichen Dingen: ich lese, ich bin unterwegs, ich sehe mir im Fernsehen einen Film an (am liebsten Krimis) – oder ich tue ganz einfach «nichts».

Was bedeutet es für Sie, Autor zu sein? Womit kämpfen Sie als Schriftsteller, was sind die Freuden?

Es bedeutet, dass ich meinen wohl wichtigsten Lebenstraum verwirklicht habe. Ich liebe das Schreiben. Somit erlebe ich fast nur Freude dabei. Womit ich immer wieder kämpfe? Nicht zwischendurch zu verzweifeln, wenn es gerade nicht läuft oder ich glaube, eine Geschichte nicht zu Ende bringen zu können.

Wie ist das Verhältnis zu den Verlagen? Hat sich das verändert in den letzten Jahren? Man hört viele kritischen und anklagenden Stimmen, was ist deine Sicht der Dinge?

Da ich ein Leben lang «Lohnschreiber» war, publiziere ich selber. Ich habe diesen Weg bewusst gewählt, da ich mir die Freiheit, die Kontrolle über mich und mein Werk bewahren und vor allem: mich keinem Zeitdruck oder irgendwelchen «Sachzwängen» unterwerfen wollte. Dies bringt einige Nachteile, da Vorurteile bestehen. Indessen: Bei weitem nicht alle, die sich selber produzieren, sind Unfähige, die es nicht geschafft haben, bei einem Verlag unterzukommen, Selbstdarsteller und was der Annahmen mehr sind. In Zeiten, in denen die gesamten «Spielregeln» der Kommunikation sich aufgrund der vielen neuen Möglichkeiten geändert haben, muss umgedacht werden; die Trennung zwischen Verlag gleich gut bzw. Selbstproduzent gleich schlecht ist absurd. Gewiss: es wird viel Ungenügendes angeboten, was aber gemäss meiner Beobachtung durchaus auch auf Verlage zutrifft.

Woher holen Sie die Ideen für Ihr Schreiben? Natürlich erlebt man viel, sieht man viel. Aber wie entsteht plötzlich eine Geschichte daraus? Was inspiriert Sie?

Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Ich weiss es nicht! Geschichten entstehen bei mir auch selten «plötzlich»: da ist eine Idee, der ich nachgehe; manchmal entsteht eine völlig andere Geschichte daraus als jene, von der ich ursprünglich glaubte, dass sie das Resultat wäre. Beispielsweise hatte ich ein Motiv im Kopf, seit Jahren, am Ort der Handlung war ich vor knapp vierzig Jahren einmal und seither nie wieder. Dort spielt «SehnSucht», doch war dies nicht die Geschichte, die ich ursprünglich schreiben wollte. Als ich mich erneut mit diesem Grundmotiv beschäftigte, wurde «Am See» daraus. Und beim dritten Versuch entstand «Jakob, der Hausdiener». Vergleicht man diese Erzählungen miteinander, wird man kaum dahinter kommen, dass ein einziges Erlebnis vor so langer Zeit (das ich in diesen drei Geschichten noch nicht einmal verwendet habe!), angereichert mit späteren Erlebnissen, Begegnungen mit Menschen und – im Falle von «Jakob» – einem noch früheren Ereignis, nämlich aus meiner Primarschulzeit, der späte Auslöser aller drei Erzählungen war.

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiographisch. Das stimmt sicher in Bezug darauf, dass man immer in dem drin steckt in Gedanken, was man schreibt. Wie viel von Ihnen steckt in ihren Geschichten? Stecken Sie auch in Ihren Figuren? Gibt es eine, mit der Sie sich speziell identifizieren?

In jedem Buch steckt etwas Autobiografisches. Es mag mitunter bloss eine Kleinigkeit sein, aber man wird keine ernsthafte Geschichte schreiben, ohne etwas von sich selbst preiszugeben. Trotzdem darf/kann aufgrund einer Figur in einem meiner Bücher nicht auf mich geschlossen werden; jede Figur trägt auch Züge anderer Menschen. Ich identifiziere mich mit keiner Figur mehr oder weniger – aber es gibt Texte, die insgesamt persönlicher sind als andere, sicher «Vallemaggia» und «ScherbenLeben» sowie Teile von «Die Zukunft der Zukunft».

Viele Autoren äussern sich politisch, verpacken auch politische Meinungen in Ihre Bücher. Hat ein Schriftsteller einen politischen Auftrag?

Wohl weniger einen Auftrag, als eine Meinung oder Überzeugung. Dies fliesst natürlich in die eigene Arbeit ein. Bei mir stehen weniger tagespolitische Bezüge zur Debatte, sondern grundsätzlichere Fragen des Menschseins, des Zusammenlebens, der Entwicklung unserer Gesellschaft.

Ihre Bücher behandeln oft die leidvollen Seiten des Lebens, die Scherben desselben, Einsamkeit, Sehnsucht. Ist Leid und Düsterheit einfacher zu beschreiben als Glück oder fühlen Sie sich der Seite näher? Ist das Leben generell eher düster als hell?

Das Leben ist in jedem Fall viel, viel heller als düster! Aber es gibt natürlich die dunkleren Phasen. Eigentlich ist das Hauptthema bei mir dann aber doch die Hoffnung – und die Botschaft, dass man sie nicht verlieren darf. Niemals!

Was muss ein Buch haben, dass es Sie anspricht?

Es gibt ungezählte «gute Geschichten», die mich ansprechen. Was mich indessen besonders anspricht: Wenn ich geistig gefordert werde, wenn sich beim Lesen Widerspruch oder Zustimmung in mir regt, wenn ich mitunter ein Buch für eine Weile beiseite legen muss, um erst einmal über den Inhalt bis zu dieser Stelle nachzudenken. Und ich freue mich über Autoren, die sich nicht nur auf eine Geschichte einlassen, sondern mit der Sprache «spielen», die experimentieren, die Grenzen sprengen – im Ausdruck, in der Form usw.

 Gibt es Bücher/Schriftsteller, die Sie speziell mögen, die Sie geprägt haben?

Ich habe immer sehr viel und mich dabei quer durch die Weltliteratur gelesen, weshalb die Liste entsprechend lang wäre. In frühen Jahren haben mich Max Frisch und Robert Walser wohl ein Stück weit geprägt, Jean-Paul Sartre, Bertolt Brecht, Ernest Hemingway und Friedrich Dürrenmatt besonders angesprochen. Später kam beispielsweise Alberto Moravia dazu. In den letzten Jahren habe ich mich vor allem mit portugiesischer, spanischer und südamerikanischer Literatur befasst.

Wenn Sie einem angehenden Schriftsteller fünf Tipps geben müssten, welche wären es?

Schreiben, schreiben, schreiben

Lesen, lesen, lesen

Neues entdecken, im Leben so gut wie in der Sprache

Das Neue wagen, im Leben so gut wie beim Schreiben

Die Geschichten schreiben, die geschrieben sein wollen – nicht jene, die am ehesten Erfolg versprechen

Ich bedanke mich herzlich für dieses Interview.