Leseerlebnisse – Michaela Kastel: Verirrt

«Schmerz. Es gibt unterschiedliche Arten davon. Manchmal tut es weh, obwohl überhaupt nichts verletzt ist. Der Schock und die Scham reichen dann aus, um den letzten Widerstand in dir zu brechen. Um dich niederzuringen, ganz tief nach unten, bis du Dreck unter den Füssen anderer bist. Und dann gibt es den richtigen Schmerz. Schmerz, der dich Farben sehen lässt, meistens Rot. Ich weiss nicht, welcher Schmerz schlimmer ist. Welcher dich mehr zerstört, jedes Mal aufs Neue.»

Von ihrem Mann geprügelt flüchtet Felizitas mit ihrer Tochter zu ihrer Mutter. 12 Jahre haben sie sich nicht gesehen, noch immer sind die Monster präsent, die sie damals von zu Hause weggehen und nie mehr wiederkehren liessen. Nun ist es die einzige Zuflucht. Und noch immer sind da diese offenen Fragen, die Ängste, die Gefahren -und die grosse Frage: Wird ihr Mann sie finden? Und: Wem kann sie trauen? Wer sind die wirklichen Monster?

„Das Problem ist, du willst es nicht glauben. Du erfindest Erklärungen, wo es keine mehr geben kann. Du redest dir ein, dass es nur ein blöder Scherz war. Dass er sich im Ton vergriffen hat, passiert doch jedem mal. Alles bist du bereit zu tun, um dich selbst vor der Wahrheit zu bewahren. Um zu retten, was längst verloren ist. So schwach und erbärmlich bist du, wenn du dich in der Gewalt eines anderen befindest.“

Häusliche Gewalt ist leider keine Fantasie, sie passiert in unserer Realität immer wieder. 250’000 Menschen sind 2023 Opfer von häuslicher Gewalt geworden. Oft passiert sie im Geheimen, im Versteckten. Meist sind Frauen und auch Kinder die Betroffenen. Und sie schweigen. Aus Angst, noch mehr davon erleiden zu müssen. Aus Angst, dass ihnen niemand glaubt. Weil sie die Gewalt kennen, alles andere neu wäre und dadurch Angst macht. Und teilweise glauben sie auch, die Gewalt zu verdienen, weil sie sind, wie sie sind. Weil ihnen das regelrecht eingeprügelt wird von denen, die die Gewalt ausüben.

«Zweifel überfallen dich schneller, als dir lieb ist, wenn das Wetter dich zwingt, innezuhalten und dich mit deinem Vorhaben auseinanderzusetzen.»

Michaela Kastel hat das Thema der häuslichen Gewalt aufgegriffen. Ihre Protagonistin erlebt sie und fasst den Mut, ihren Mann und Peiniger zu verlassen. Trotz der Angst. Sie nimmt ihre Tochter in einer Nacht mit und flieht zu ihrer Mutter. Leider ist nun nicht alles gut. Neben der Angst, gefunden zu werden, muss sich Felizitas auch den Monstern ihrer Vergangenheit stellen. Es sind die Monster, mit denen ihre Mutter sie die Kindheit hindurch verunsichert hat. Die Monster, die nun erneut ihr Leben zu überschatten drohen.

„Ich will nicht länger in diesem Vergessen leben. Ich will mich wieder erinnern. An diejenige, die ich einmal war. Die niemals Teil dieses Wahnsinns geworden wäre, hätte die Liebe nicht alles kaputt gemacht.“

«Verirrt» ist ein spannender, rasanter Thriller, der in die menschlichen Abgründe blickt. Themen wie Vertrauen, Angst, Gewalt und Prägungen der Kindheit werden aufgegriffen, führen als Fäden durch die Geschichte und werden am Schluss aufgelöst. Eine grosse Leseempfehlung.

(Michaela Kastel: Verirrt, Wilhelm Heyne Verlag, München 2024.)