Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens

Inhalt

«Das Leben ändert sich schnell
Das Leben ändert sich in einem Augenblick.
Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben,
das man kennt, hört auf.
Die Frage des Selbstmitleids»

Joan Didions Mann stirbt bei einem Nachtessen an einem Herzinfarkt, ein Tod aus dem Nichts, den sie lange nicht fassen kann, nicht wahrhaben will. In diesem Buch erzählt sie vom Tod und seinen Hinterlassenschaften, von ihren Gefühlen, von ihrem Erleben, von all den Dingen und Begebenheiten, die sich mit und nach dem Tod eingestellt haben.

«Leid kommt, wenn es eintrifft, in nichts dem gleich, was wir erwarten.»

Sie schreibt dicht aus dem Leben, dem Denken und Fühlen entlang. Sie entlarvt ihre eigenen Gedanken und Gefühle schreibend, versucht, sie so selbst zu verstehen. Sie erklärt, wieso sie in Situationen handelte, wie sie es tat, sie hatte Gründe, die erst im Nachhinein klar wurden. Sie erkennt die Mechanismen und Ängste, die in allem stecken, sie ordnet ihre Reaktionen ein.

«Dies ist ein Fall, in dem ich mehr als Worte brauche, um den Sinn zu finden. Dies ist ein Fall, in dem ich alles brauche, was die Fassade durchdringt oder durchdringen könnte, wenigstens für mich.»

Entstanden ist ein feines, stilles, zum Nachdenken anregendes Buch, das ohne Pathos oder Selbstmitleid vom persönlichen Umgang mit dem Tod spricht. Ein Buch, das zu Herzen geht, weil es von Herzen kommt.

Gedanken zum Buch

«Leid ist anders. Leid kennt keinen Abstand. Leid kommt in Wellen, in Anfällen, in plötzlichen Befürchtungen, die die Knie weich machen und die Augen blind und den Alltag auslöschen.»

Leid lässt sich nicht planen. Es lässt sich auch nicht steuern. Leid kommt und ist dann unmittelbar da, trifft den Menschen mit ganzer Wucht, durchdringt all seine Zellen. Leid ist kein Zustand, es ist ein Aufwallen und langsames Abebben – bis zum nächsten Mal. Im Leid prägt dieses alles, was passiert, es ist überall Teil, ein bestimmender, alles übrige einfärbender.

«Natürlich wusste ich, dass John tot war… Trotzdem war ich keineswegs darauf vorbereitet, diese Nachricht als eine endgültige zu akzeptieren: Es gab eine Ebene, auf der ich glaubte, dass das, was passiert war, rückgängig gemacht werden konnte. Deshalb musste ich allein sein… Ich musste allein sein, damit er zurückkommen konnte. So begann mein Jahr des magischen Denkens.»

Joan Didion zögert, Johns Schuhe und anderen Dinge wegzugeben. Er würde sie brauchen, wenn er zurückkäme. Sie zögert mit allem, was den Tod offensichtlich, unwiderruflich macht. Die Logik des Verstands ist ausgeschaltet, die diffuse Hoffnung, jegliche Wahrscheinlichkeit entbehrend, behält die Oberhand.

«Hatte er mich nicht immer ermahnt, wenn ich mein Notizbuch vergessen hatte, dass die Möglichkeit, einen Gedanken sofort zu notieren, ausschlaggebend war für den Unterschied zwischen Schreiben-können und Nicht-schreiben-können?»

Schreiben ist für Joan Didion das, was sie ausmacht. Von Kind an steht diese Berufung fest, sie ist die Konstante das ganze Leben hindurch. Mit John Dunne hat sie einen Mann an ihrer Seite gehabt, der sein Leben ebenso dem Schreiben widmete wie sie selbst. Neben gemeinsamen Projekten gab es auch die je eigenen, bei denen der jeweils andere aber immer Anteil hatte. Das Schreiben bleibt auch nach dem Tod von John Dunne zentral. Es ist Halt, es ist Mittel, zu verdrängen, aber auch Mittel, um sich dem Verstehen anzunähern.  

«Ich war mein Leben lang Schriftstellerin. Als Schriftstellerin sogar als Kind und lange bevor das, was ich schrieb, überhaupt veröffentlicht wurde, entwickelte ich ein Gefühl dafür, dass der eigentliche Sinn bereits im Rhythmus der Worte und Sätze und Abschnitte angelegt ist; eine Technik, um genau das zu verschweigen, was sich, wie ich vermutete, hinter der immer undurchdringlicheren Fassade befand. Die Art, wie ich schreibe, ist das, was ich bin oder geworden bin.»

Fazit
Ein stilles, ruhiges, persönliches, nachdenkliches und zum mitfühlen und -denken anregendes Buch.

Joan Didion: Blaue Stunden

Inhalt

«Wären sie an diesem Tag auf der Amsterdam Avenue vorbeigekommen und hätten einen Blick auf die Hochzeitsgesellschaft geworfen, hätten sie dann gesehen, wie vollkommen unvorbereitet die Brautmutter auf das war, was passieren würde, bevor das Jahr 2003 überhaupt zu Ende ging?»

Innerhalb von zwei Jahren verliert Joan Didion ihren Mann und ihre Tochter. Ihr Mann starb an einem Herzinfarkt, ihre Tochter nach einer Reihe von Krankheiten knapp zwei Jahre später.

Joan Didion erinnert sich. Sie erzählt die Geschichte ihrer Tochter von dem Tag ihrer Adoption bis zu ihrem Tod. Sie erzählt eine Geschichte von Liebe, Tod, Abschied, Freude und Angst. Sie erzählt von ihren Zweifeln an ihrer Mutterrolle, von ihrem Erinnern, sie hinterfragt sich und das Leben. Ein persönliches Buch, ein tiefgründiges und bewegendes Buch. In einzelnen Sätzen und Textfragmenten, fast staccatoartig, entwickelt sich ein Gefühlsbild, stellt sich die Trauer um den Verlust und der Kampf ums eigene Weiterleben dar.

Gedanken zum Buch

«Die Zeit vergeht. Ja, einverstanden, eine Banalität, natürlich vergeht die Zeit. Aber wieso sage ich es dann, warum habe ich es schon mehr als einmal gesagt? …Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe?»

Die Zeit vergeht, doch was bedeutet das? Steckt in dem Vergehen ein Abschied mit drin? Ist ein Verdrängen der vergehenden Zeit ein Verdrängen eines möglichen Tods und damit die Hoffnung, dass alles immer so bleibt, wie es ist? Ist der Gedanke an eine vergehende Zeit, die einen Abschied in sich trägt, so schwer zu tragen, dass man dem Vergehen der Zeit darum positive Eigenschaften zuschreibt, wie zum Beispiel, dass das Heilen von Wunden? Und: Werden die Wunden geheilt oder trocknen sie nur langsam aus, so dass sie vordergründig nicht mehr so präsent gefühlt werden?

«Tatsache ist, dass ich diese Art Andenken nicht länger schätze. Ich möchte nicht an das erinnert werden, was zerbrach, verlorenging, vergeudet wurde.»

Es heisst, in der Erinnerung leben die Menschen, die von uns gingen, weiter. In Erinnerungen werden Momente wieder präsent und bringen die Freude zurück. Das ist die eine Seite, doch die andere gibt es auch: Erinnerungen zeigen immer auch, was nicht mehr ist. Sie bringen uns Menschen ins Gedächtnis, die wir gehen lassen mussten, machen den Schmerz dieses Abschieds wieder präsent. Und manchmal ist dieser Schmerz so gross, dass es einfacher scheint, die Erinnerung auszublenden, sie dem Vergessen anheim zu geben.

«Theoretisch dienen diese Andenken dazu, den Augenblick zurückzurufen. Tatsächlich dienen sie nur dazu, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.»

Erinnerungen können auch bewusst machen, wie blind wir durch die Zeit und durch unser Leben gehen und gegangen sind. Wie oft tun oder erleben wir etwas, sind aber in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt? Wie oft sehen wir nicht, was um uns ist, weil innerlich schon an einem anderen Ort sind? Vielleicht schmerzen die Erinnerungen am meisten, die von nicht bewusst gelebten Momenten erzählen, weil die Erinnerungen erst sichtbar machen, was wir verpasst haben. Sie zeigen uns unwiederbringliche Chancen und Möglichkeiten und haben dabei die eine Botschaft: Das ist vorbei.

«Ich werde noch nicht einmal darüber diskutieren, ob sie eine ‘gewöhnliche’ Kindheit hatte, obwohl ich mir nicht sicher bin, wer genau eigentlich eine solche hat.»

Zum Elternsein gehören wohl immer auch Zweifel. Die Gesellschaft hält uns Bilder von Familien vor, zeigt, was eine normale Familie ausmacht. Aber: Was ist normal? Was bedeutet eine schöne Kindheit, wie muss sie aussehen? Wann ist man eine gute Mutter, ein guter Vater? Wo hat man als Eltern versagt? All diese Fragen stellt sich Joan Didion und umkreist sie dann. Die Antwort bleibt offen, weil es auf diese Fragen keine Antwort gibt, die allgemeingültig und damit abschliessend ist.

«Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.»

Joan Didion schreibt in einem eigenwilligen Stil, sie pendelt durch die Zeiten, stellt Gedanken neben Erlebnisse, erzählt von Häusern und Menschen. Sie arbeitet immer wieder mit Wiederholungen, die wie ein Refrain im Text wirken, ein Zurückholen des Ausgangs einer Gedankenkette, die man gerade lesend durchlaufen hat. Der Text an sich gleicht dem spontanen Erinnerungsprozess, er reiht einzelne Erinnerungsfetzen aneinander, die sich zu einem Ganzen fügen.

Fazit
Ein persönliches und bewegendes Buch über das Erinnern, über die Liebe, den Tod und das Leben, geschrieben in einem eigenwilligen Stil, der dem Erinnerungsprozess nachempfunden ist, dem Auftauchen einzelner Fragmente und Erinnerungsfetzen.

Tagesgedanken: Schreiben

«Ich brauchte einige Jahre, um herauszufinden, was ich war. Eine Schriftstellerin. Womit ich nicht eine ‚gute‘ oder eine ‚schlechte‘ Schriftstellerin meine, sondern einfach eine Schriftstellerin, ein Mensch, der seine tiefsten und leidenschaftlichsten Stunden damit verbringt, Wörter auf einem Stück Papier anzuordnen.»

Das schrieb Joan Didion und ich fühle, da ist eine Gleichgesinnte, da ich jemand, der mich versteht. Das Gefühl, wenn die Buchstaben fliessen, das Gefühl, wenn die Gedanken langsam auf dem Papier Gestalt annehmen, der Fluss des Schreibens, der ein unaufhaltsamer zu sein scheint plötzlich, wenn sich Wort an Wort in Sätze giesst, die zu dem werden, was im Kopf vorgeht, das aber vorher nicht so bewusst war, wie es nun wird, da es vor mir schwarz auf weiss erscheint. 

Schreiben ist die erste Tätigkeit des Tages und es zieht sich durch diesen hindurch. Lesen ist die Beschäftigung, die gleich danach kommt, die das Schreiben begleitet teilweise, ihm vorauseilt, um schliesslich oft den Tag auch zu beenden. Und so ziehen die Tage mit ihren Wörtern ins Land, Notizbücher füllen sich, Dokumente werden eröffnet, gefüllt, geschlossen, neue Welten entstehen, die vormals in meinem Kopf waren, nun ihren Weg in die Freiheit gefunden haben. Und in jedem Text komme ich mir wieder neu auf die Spur. Denn es ist, wie Joan Didion sagt:

«Ich schreibe ausschliesslich, um herauszufinden, was ich denke, was ich anschaue, was ich sehe und was das bedeutet. Was ich will und wovor ich mich fürchte.»

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Buchtipp: Joan Didion: Was ich meine

Joan Didion schrieb mal, dass sie nur darum schreibe, um herauszufinden, was sie denkt, fühlt, sieht. In diesem Buch werden wir Zeuge davon. In zwölf Essays lernt der Leser Amerika aus ihrem Blick kennen, erfährt mehr über ihr Leben in diesem Land und mit den Herausforderungen, die das Leben birgt. Mit ihrem Erzählen schafft es Joan Didion immer wieder, die Augen des Lesers für die Welt zu öffnen.

Angaben zum Buch:
Herausgeber: Ullstein Hardcover (24. Februar 2022)
ISBN-13: 978-3550201813
Übersetzung: Antje Rávik Strubel
Originaltitel: Let Me Tell You What I Mean