Es geht nur gemeinsam

2013 riefen drei Frauen of Color die Bewegung „Black Lives Matter (BLM) ins Leben. Auslöser war der Freispruch eines Wachmanns, nachdem dieser einen 17-jährigen schwarzen Highschoolschüler erschossen hatte. Der Vorfall löste grosse Rassismusdiskussionen aus, nicht nur in den USA. Weitere Todesfälle hielten den Protest gegen Gewalt gegen Schwarze, bzw. People of Color sowie die Diskussionen um die Problematik des Rassismus, welches ein strukturelles ist, am Leben.

Ziel dieser Bewegung und der davon ausgelösten Diskussionen ist es, Rassismus zu bekämpfen, damit People of Colour nicht mehr struktureller Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt sind. Die Bewegung hat rund um den Erdball Aufmerksamkeit erregt und zu Protestaktionen geführt. Die Auswirkungen auf die Politik waren eher klein, an kritischen Stimmen mangelt es nicht. Doch das ist Stoff für einen anderen Artikel. Worum es mir hier geht, ist folgendes:

Seit der Bewegung „Black Lives Matter“ kommt es an amerikanischen Schulen immer wieder zu Aufregungen seitens der Eltern. Schulkommissionssitzungen werden gestürmt, aufgeregte Stimmen stören sich an Covid-Massnahmen, an links-liberalem Gedankengut und: an der „Critical Race Theory“. Sie begehren auf gegen Themen wie unbewusstem Rassismus, weissen Privilegien und einigen mehr. Sie finden es inakzeptabel, dass „solche Ideologien“ die Schule unterwandern. Gleichstellung könne kein Ziel sein, da es immer Verlierer geben müsse. Gleichstellung sei eine Gefahr für das Leistungsprinzip und darauf baue Amerika sein Identitätsbewusstsein: Alles ist möglich (wenn auch nur für einige, aber das zu sagen ist sicher auch inakzeptabel für diese Gemüter – oder aber sie erachten dies als ihr gutes Recht). Amerika ist in Gefahr durch solche Ideologien, so die aufgebrachte Kritik.

Die „Critical Race Theory“ (CRT) entstand in den 70er Jahren in den Vereinigten Staaten, sie wurde unter anderem mitentwickelt von Kimberlé Crenshaw, einer Rechtsprofessorin, welche auch den Begriff der Intersektionalität (Überschneidung mehrer Diskriminierungskriterien in einer Person) massgeblich geprägt hat. Im Zentrum der CRT steht die Fragestellung, wie sich Formen von Minderheitsdiskriminierung über Jahrzehnte/-hunderte halten konnten. Crenshaw sieht in den aktuellen Protesten allerdings eher einen Backlash gegen die BLM-Bewegung denn gegen die CRT. Solche Backlashes sind nicht neu, sie führten in der Geschichte jedes Mal zu einem Erstarken der Diskriminierung von Schwarzen. Auch in anderen Bewegungen sieht man diesen Effekt deutlich, zum Beispiel beim Feminismus, wo jeder Backlash das Erstarken des Patriarchats nach sich zog.

Kritiker des CRT propagieren einen umgekehrten Rassismus durch Massnahmen des CRT, zum Beispiel anti-rassistische Diversity-Seminare. Der Begriff des umgekehrten Rassismus ist nicht unumstritten, gibt es doch Stimmen, die sich dafür stark machen, dass es keine Diskriminierung von Weissen gebe, da diese durch ihre Hautfarbe und ihre Geschichte immer per se die Unterdrücker seien und sich deswegen schuldig fühlen müssten. Das erachte ich nicht nur als unangebracht, sondern schlicht und einfach als falsch. Es ist in meinen Augen zudem schlicht nicht zielführend, da es nur Fronten verhärtet oder gar neue schafft. Jeder Mensch kann unterdrückt werden, jeder Mensch kann diskriminiert werden, so wie auch jeder Mensch zum Unterdrücker werden kann – wenn die Situation entsprechend ist. Dass Diskriminierung in Gesellschaften mit strukturellem Rassismus mehrheitlich so gelagert ist, dass die Weissen die Privilegien haben (und damit die Schwarzen die Benachteiligten), lässt sich aus der Geschichte erklären: Fakt ist, dass in der Vergangenheit mehrheitlich Schwarze unterdrückt wurden und zwar von Weissen.

Fakt ist, dass es auch heute noch Rassismus gegen Schwarze gibt, von Weissen. Fakt ist auch, dass wir alle Menschen sind und uns in diesem Menschsein sehr ähnlich (wenn man bedenkt, wie ähnlich wir genetisch sogar Gorillas sind. Es scheint, hier greift das Tocqueville-Paradox, nach dem bei grösser werdender Ähnlichkeit die noch vorliegenden Unterschiede immer sensibler wahrgenommen werden.). Doch das scheint nicht zu reichen als gefühlte Verbindung, um gegenseitigen Respekt und gegenseitige Sorge aufzubringen, von Solidarität ganz zu schweigen. Wo liegt das Problem?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Individuum das Höchste der Gefühle ist. Das eigene Wohlergehen, die eigenen Entfaltungsmöglichkeiten stehen im Fokus, sehen wir die gefährdet, kriegen wir Angst und fangen an zu kämpfen – gegen die (vermeintliche) Gefahr. Wir wissen zwar, dass wir ohne andere nicht überlebensfähig wären, aber wir suchen uns eine kleine Gruppe Ähnlicher aus, mit denen wir dann gegen den Rest vorgehen. Nur: Das ist sehr kurzsichtig. Schlussendlich leben wir alle gemeinsam auf dieser Welt, die eine Vielzahl von Problemen aufweist. Und bei jedem sind wieder andere involviert und sollten sich zusammenschliessen, um gemeinsam etwas zu erreichen. Dazu müssten wir aber miteinander reden können, was schwer wird, wenn wir beim letzten Problem die anderen zu Feinden erklärt (und gar mund-tot gemacht )haben. Ob wir uns wirklich wohl fühlen in so einer Welt? Wären wir nicht glücklicher mit mehr Verständnis (und damit Solidarität), auch für fremde Bedürfnisse, die immer von (wenn auch anders denkenden, aussehenden, fühlenden) Menschen kommen, wie auch wir welche sind?

Martin Bubers dialogisches Prinzip könnte dabei helfen, in dem es zu Bewusstsein führt, dass jedes „Ich“ nur existiert durch ein „Du“, mit dem es in Beziehung tritt. Dafür muss das Du selbst Subjekt sein, eine Objektifizierung würde zur Entfremdung zwischen den Individuen sowie in der Welt führen (vgl. dazu auch Jaeggi, Entfremdung). Im Wissen also, dass wir mit anderen in den Dialog treten müssen, dass wir in der Welt nur ein gelingendes Leben führen können, wenn wir das anderen ebenso zugestehen, sollten wir im Zeichen der Solidarität dahin gehen, das uns Verbindende zu nutzen, um noch offene Missstände anzugehen. Immer auch im Wissen, dass auch wir in anderen Fällen dieser Solidarität bedürfen, weil keiner allein die Welt verändert.

Leider sieht man es immer wieder in Bewegungen, dass sie sich nach einer Zeit spalten, einzelne Gruppen für ein eigenes Unterthema kämpfen und sich für diesen Kampf gegen die ehemalige Gemeinschaft stellen. Sehr deutlich konnte man das beim Feminismus sehen. Kämpften anfänglich alle gemeinsam für die Rechte der Frau, fühlten sich schwarze Frauen (zu recht) in ihren Belangen untervertreten und zu wenig unterstützt. Es folgte eine Spaltung und damit nicht nur eine Front innerhalb der Gruppe, sondern natürlich auch eine Schwächung derselben nach aussen durch die kleinere Grösse sowie den Energieverlust durch die eigenen Grabenkämpfe. Andere Grabenkämpfe kamen dazu, die jungen Feministinnen bekämpfen die alten, die schwarzen die weissen, die homosexuellen die heterosexuellen und umgekehrt. Kimberlé Crenshaws Ansatz der Intersektionalität könnte da Abhilfe schaffen. Wichtig ist dabei allerdings, nicht innerhalb der Diskriminierungskriterien Hierarchien zu schaffen, sondern Diskriminierung als ein grosses Thema (mit Unterthemen) zu betrachten, das uns alle angeht und das wir alle gemeinsam angehen müssen. Wobei wir wieder zurück beim Dialog wären. Halten wir es doch mit Gottfried Benn:

„Komm, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot.“

Und: er ist nicht nur nicht tot, er wird beim Zusammen-Reden (statt einfach nur auf den Anderen einreden) gehört. Dieses gegenseitige Gehörtwerden schafft eine neue Lebendigkeit und Kraft, für die gemeinsame Sache einzustehen.

Kein Privileg auf Rassismus

Kürzlich sagte Whoopi Goldberg in einer TV-Show, beim Holocaust sei es nicht um Rasse gegangen, sondern um die Unmenschlichkeit von Menschen gegen Menschen.

«The Holocaust isn’t about race. It’s about men’s inhumanity to men. These are two white groups of people. The minute you turn it into ‹race›, it goes down this alley. Let’s talk about what it is, it is about how people treat each other. It is a problem.»*

Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Man könnte sie als Verharmlosung des Holocaust auffassen, was auch so passiert ist. Dass sich Goldberg von dieser Sicht distanzierte, spielte dabei keine Rolle mehr. Und ja: Eine Verharmlosung oder eine Negierung des Holocausts ist ein moralisches Verbrechen und sollte – dies meine Meinung, die ich auch in meiner Dissertation vertreten habe – auch rechtlich bestraft werden. Völkermordleugnung (Verharmlosung qualifiziert als solche) stellt ein zweites Verbrechen gegen die Opfer dar, weil diese in einem Punkt, der ihre Persönlichkeit so nachhaltig prägte, verleugnet und damit (ein zweites Mal) ausgelöscht werden. Aber: Das steckt in Goldbergs Aussage nicht drin. Goldberg zweifelt nicht die Schwere und Grausamkeit des Holocausts an, sie kritisiert den Umstand, dass man als Beweggrund Rassismus sehe, da die Opfer ja weiss waren.

In Amerika ist es in der Tat so, dass Rassismus hauptsächlich an der Hautfarbe festgemacht wird und das grundsätzlich so, dass weisse Menschen immer die Rassisten, schwarze die Opfer sind. Rassismus gegen Weisse gibt es nicht, weil Rassismus strukturell sei und die Unterdrückung der Schwarzen Geschichte hätte. Dies die Begründung einer Meinung, die mittlerweile auch in Europa vermehrt vertreten wird. Wenn man diese Hypothese (und mehr ist es nicht) bestätigt, liegt Whoopi Goldberg mit ihrer Aussage richtig.

Wenn man einen Blick in die Geschichte wagt, wird es komplizierter. Ursprünglich stammt der Begriff der Rasse aus der Biologie und bezeichnet da (sehr umstritten) eine Gruppe, welche aufgrund willkürlich gewählter Kriterien Ähnlichkeiten aufweisen. Später hat man den Begriff angepasst und nur noch auf Unterarten von Arten angewendet, bis man ihn in der Biologie aus der Tierwelt gestrichen hat. Dass man nun bei Menschen immer noch von Rassen sprechen will, ist fragwürdig. Gerade wenn es darum geht, Rassismus zu eliminieren, wäre es sinnvoll, Rassengrenzen aufzulösen. Indem nun aber Schwarze sich dermassen von Weissen abgrenzen, zementieren sie den Rassenbegriff selber und schreiben sich in der jüngeren Diskussion den Opferstatus mit auf den Leib.

Es ist unbestritten, dass Menschen ohne weisse Hautfarbe, je dunklhäutiger desto mehr, über Jahrhunderte Opfer von Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt worden sind, man denke an die Sklaverei, an das Apartheid-System, Kolonialisierungen. Auch innerhalb von Ländern wurde Hautfarbe oft als Kriterium für den Status in der Gesellschaft gesehen, man denke nur an das Kastensystem in Indien (allerdings ist auch das durch Weisse ausgelöst worden bei der arischen Eroberung Indiens und dessen Kolonialisierung).
Aus dem hier gesagten stellen sich folgende Fragen:

  1. Ist es sinnvoll, überhaupt noch mit dem Begriff Rasse zu argumentieren und kann man ihn auf ein Merkmal, nämlich die Hautfarbe, reduzieren?
  2. Ist der Rückgriff auf ein biologisches Merkmal wirklich sinnvoll, wenn man die Diskussion mit der um Sexismus vergleicht, bei der nicht mal mehr das Geschlecht biologisch erklärt werden soll (unabhängig aller optischen Merkmale)?

Zu Punkt 1: Rassismus ist eine eher pseudowissenschaftliche Analogie auf die Biologie, welche den Status eines Menschen aus dessen Erbgut ableiten will, um daraus eine quasi gottgegebene Ordnung und die eigene Überlegenheit zu propagieren. Kriterien sind dabei neben der Hautfarbe auch die Religion, die Sprache und die Kultur. Wenn wir noch einmal einen Blick in die Geschichte wagen, gab es verschiedene Stufen des Rassismus. Zählten im Mittelalter mehrheitlich mythisch und religiös geprägte Kriterien dazu, Rassismus zu begründen, rückten zur Zeit der Aufklärung biologische wie die Hautfarbe ins Zentrum. Ein Zitat des grossen Toleranz-Philosophen Voltaire:

„Die Rasse der Neger** ist eine von der unsrigen völlig verschiedene Menschenart, wie die der Spaniels sich von der der Windhunde unterscheidet […] Man kann sagen, dass ihre Intelligenz nicht einfach anders geartet ist als die unsrige, sie ist ihr weit unterlegen.“***

Im 18. Jahrhundert bildete sich in der Tat ein biologisch geprägter Rassismus heraus, in welchem optische Kriterien mit geistigen und anderen individuellen Fähigkeiten verknüpft wurden. Seit da ist zum Glück viel passiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass es keine wissenschaftliche Basis für rassische Unterscheidungen gibt, die Unesco deklarierte die Einteilung in Rassen als beliebig und den Rassenbegriff als nichtig und damit abzulehnen. Viele Kämpfe gegen Rassismus, viele Bewegungen für gleiche Rechte, viele weitere Massnahmen zur Bewusstseinsbildung haben seit da dazu geführt, dass Rassismus a) thematisiert, b) mehrheitlich abgelehnt und c) wo nicht erfolgreich, gesetzlich verfolgt wird. Es ist immer noch viel zu tun, aber es ist auch schon viel getan.

Wer kann nun aber Rassismus erfahren? In Bezug auf die Situation in gewissen Quartieren in Amerika kam der Begriff des umgekehrten Rassismus auf. Weisse konnten sich kaum in von schwarzen dominierte Quartiere wagen, da sie mit Gewalt rechnen mussten. Betrachtet man die heutige Diskussion, wird der Begriff des umgekehrten Rassismus von Schwarzen abgelehnt mit der Begründung, Rassismus sei immer strukturell und aus der Geschichte heraus nur auf Schwarze anzuwenden. Ein weisser Mensch ist daher per se durch seine Hautfarbe Rassist. Mehr noch: Äussert er sich gegen Rassismus, ist das einem Übergriff gleichzusetzen, ist er betrübt über einen rassistischen Vorfall, sind das „White tears“ oder „white fragility“, sprich, der Weisse will sich nur profilieren und dem Schwarzen seinen Opferstatus dadurch absprechen, indem er sich von diesem trösten lässt als Quasi-Opfer.

Das ist der Punkt, an dem ich denke, wir leben in einem Irrenhaus. Da kämpfen wir so lange gegen Rassenbegriffe, Klassenbegriffe, sexistische Begriffe und Übergriffe, Geschlechterrollen und mehr – und dann gehen einige dahin und errichten all die Begriffe wieder und schiessen wild um sich. Sie zementieren ihre eigene Opferrolle, stigmatisieren Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und Gefühle, verbieten die freie Meinungsäusserung aus der Überzeugung heraus, nur ihre eigene Erfahrung tauge als Basis einer Meinung. Das macht mich wütend. Nicht weil es mich trifft, nein, weil es der Sache nicht dient, sondern schaden. Wir streiten nun über solchen Mist, statt gemeinsam die noch vorherrschenden Missstände anzugehen. Wo ist das, was bell hooks Sisterhood nannte? Oder Audre Lorde? Schreibt man sich die nur gerne als Flaggenfiguren auf die eigene Flagge und kocht dann doch ein anderes Süppchen?

Ich möchte hier anfügen: Nein, ich weiss nicht, wie es sich anfühlt, Opfer rassistischer Handlungen aufgrund schwarzer Hautfarbe zu sein. Andere Diskriminierungen kenne ich, diese nicht. Ich weiss nicht, wie sich ein anderer Mensch fühlt (im Sinne von Thomas Nagels „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“), aber ich habe vielleicht genug Empathie, eine Ahnung zu haben davon. Oder anders: Wer kann überhaupt wissen, wie sich ein anderer fühlt?

Nehmen wir an, eine Frau (Anna) verliert ihr Kind. Kann eine Nicht-Mutter erahnen, was in Anna vorgeht? Wohl kaum vollumfänglich, aber doch ansatzweise dadurch, dass sie weiss, wie sich grosses Leid anfühlt. Kann es eine weisse Mutter besser, wenn Anna weiss war? Kann es eine schwarze gleich gut wie eine weisse? Kann es ein weisser Mann besser als eine schwarze Frau oder ein schwarzer Mann? Ich weiss es nicht, ich war weder je schwarz noch war ich je das, was man landläufig einen Mann nennt. Sie alle können es aber genauso wenig wie ich. Qua unseres Menschseins fühlen wir uns ein – darauf hoffe ich im Allgemeinen, Entartungen (und ich zähle fehlende Empathie dazu) gibt es immer, doch sollte man daran nicht die die gesamte Menschheit aufhängen.

Damit sind wir bei Punkt 2: Wenn wir schon das Geschlecht nicht mehr biologisch definieren, wo doch dabei durchaus mehr biologische Kriterien vorhanden sind als bei der ominösen Rasse, wäre es an der Zeit, den Rasse-Begriff endgültig in die Tonne zu treten. Das heisst nicht, dass es keinen Rassismus mehr gibt, das heisst nicht, dass es nicht noch viel zu tun gibt und wir mit offenen Augen und Herzen und wachem Bewusstsein in der Welt sein sollen. Aber es wäre Zeit, dies endlich gemeinsam zu tun und nicht ständig neue Fronten zu bilden durch Opfer- und Täterzuschreibungen.

Um zurück zum Ausgangspunkt zu kommen: Goldbergs Aussage war unangebracht, unnötig und missverständlich (insofern, als man es schon so verstehen könnte, dass es schlimmer gewesen wäre, wenn es tatsächlich um Rasse gegangen wäre – was sie aber nicht gesagt hat und auch bestreitet, gemeint zu haben), aber sie war Teil eines aktuellen Diskurses, in welchem Rasse auf ein Kriterium, nämlich das der Hautfarbe festgelegt ist. Den Holocaust hat sie damit nicht verharmlost, aber ein Thema ans Licht gebracht, das auf den Tisch muss: Rasse ist etwas, das es nicht mehr geben sollte als Argument. Für keinen. Wir müssen lernen als Gesellschaft, Rassismus auszumerzen, wir sollten lernen als Einzelne die je eigene Verantwortung zu übernehmen für unser Verhalten und unseren Beitrag zu Verhalten, welches rassistisch motiviert ist.

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*https://www.watson.ch/!400387301?utm_medium=social-user&utm_source=social_app&utm_source=daily&utm_medium=email&utm_campaign=20220202
**Ich bleibe hier bewusst beim Original-Wort, weil ich die Streichung desselben als kontraproduktiv, den Diskurs um die Gründe der Verwendung als wertvoll erachte für ein wachsendes Bewusstsein.
***Léon Poliakov /Christian Delacampagne /Patrick Girard, Rassismus. Über Fremdenfeindlichkeit und Rassenwahn, Luchterhand-Literaturverlag, Hamburg 1992, ISBN 3-630-71061-1, S. 77.

Susan Arendt: Sexismus

Geschichte einer Unterdrückung

Inhalt

«Dem Buch geht es darum, Sexismus als etwas Systemisches zu verstehen und entsprechend zu fragen, was ihn im Kern zusammenhält. Im Zentrum steht dabei die These, dass Sexismus an Macht gebunden ist, die auf dem Postulat der binären Zweigeschlechtlichkeit aufgebaut und dadurch patriarchalische Herrschaft ermöglicht.»

Die gesellschaftlich verteilte Macht an die heterosexuellen Männer führt zur Unterdrückung von Frauen, homo-, intersexuellen und transgeschlechtlichen Menschen. Susan Arndt versucht die dahinter liegenden Mechanismen zu analysieren, indem sie auf die biologische Erklärung der Zweigeschlechtlichkeit eingeht, die daraus resultierenden sozialen Deutungen herausarbeitet und die darauf fussenden Moral- und Rechtsvorstellungen beschreibt. In der Folge werden Massnahmen aufgezeigt, die helfen, das System zu durchbrechen, dies auf gesetzlicher, sozialer und individueller Ebene.

Weitere Betrachtungen
Anhand von persönlichen Erlebnissen und sachlichen Referenzen zeigt Susan Arendt, wie präsent Sexismus in der heutigen Gesellschaft ist. Es sind nicht nur die offensichtlichen (oft gewaltsamen) körperlichen Übergriffe, es fängt schon viel früher an.

«Sexuelle Belästigung umfasst also ein breites Spektrum von Handlungen. Physische Übergriffe und diskriminierende Vokabeln sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Auch verbale Übergriffe wie Witze, Kommentare, Erzählungen über Sexualität oder (vermeintliche) Komplimente gehören zum Gesamtbild.»

Wie oft hört man als Frau, wenn man sich wehrt, man sei empfindlich, das sei nur ein Witz? Auch die Aussage, man dürfe bald keine Komplimente mehr machen, wenn man nicht inhaftiert werden wolle, ist eine gern geäusserte. Aber: Will Mann wirklich sagen, dass er so dumm ist, so wenig Feingefühl hat, um nicht zu merken, wo etwas angebracht, gar gewünscht ist, und wo nicht? Ich traue Männern mehr zu. Leider lassen sich viele Frauen von solchen Aussagen einschüchtern oder fühlen sich gar schuldig, schämen sich. Ein Teufelskreis. Bücher wie das von Susan Arendt können da helfen, ein grösseres Bewusstsein zu schaffen dafür, dass es Grenzen gibt und diese eingehalten werden müssen.

«Bis in die letzten Zipfel der weissen deutschen Männer*gesellschaft hinein wissen die meisten offensichtlich sehr wohl, dass es sich nicht gehört, Frauen* anzugrapschen oder verbal übergriffig zu werden. Dennoch tun dies viel zu viele im Windschatten der sexistischen Sozialisation und der sie tragenden Institutionen und Strukturen, Wissensparadigmen und Grundsätze. »

Das grösste Problem bei all dem ist wohl, dass hinter jedem einzelnen Mann, der sich übergriffig verhält, ein System steht, welches ihn schützt. Dieses System ist über Jahre gewachsen und hat kein Interesse daran, gestürzt zu werden. Dass zum Selbstschutz also oft mit harten Bandagen, subtilen Mitteln und machtvollen Argumenten gekämpft wird, liegt auf der Hand.

«In konsequenter Fortführung des Anspruchs darauf, Diskriminierung in gegebenen Komplexitäten zu diskutieren, adressiert Intersektionalität in seiner aktuellen Dimension aber nicht nur die Verschränkung von Rassismus und Sexismus, sondern alle Facetten der Mehrfachdiskriminierung: Sexismus, rassistische Verortungen, Religion, soziale Schichten, Nation, Gesundheit, Dis*ability, Körpernormen, Ethnizität, Alter wirken ineinander, ohne auseinanderdividiert werden zu können.»

Nie aus den Augen verlieren dürfen wir aber, dass Frausein nicht der einzige Grund für Unterdrückung ist. Alles, was nicht der landläufigen Norm entspricht, läuft Gefahr, Diskriminierung zu erleben. Meistens kumuliert sich dies noch, wenn verschiedene Punkte in einem Menschen vereint sind.

Susan Arndt ist ein tiefgründiges, sachliches und fundiert recherchiertes Buch gelungen, das auf die Auswüchse des Sexismus in der heutigen Gesellschaft aufmerksam macht und diese durchleuchtet. Dass all dies nicht auf Kosten der Lesbarkeit geht, zeichnet das Buch zusätzlich aus aus.

Persönlicher Bezug

«Sexismus ist eine Machtstruktur mit System, in das alle strukturell und diskursiv eingebunden sind, ganz egal, ob das nun jemand will oder nicht. Alle durchlaufen in gemeinsam geteilten Räumen konkreter historischer Zeiten ähnliche Sozialisierungsmuster; alle werden unterschiedlich stark davon geprägt und gebrochen. Alle stecken ein und alle teilen aus… Es geht also nicht um Schuldzuschreibungen, aber es geht um MitVerantwortung.»

Ich war in meinem Leben oft Sexismus ausgesetzt. Vom übergriffigen Chefredaktor einer grossen Schweizer Zeitung über eine Professorin, welche fand, als Frau und Mutter könne ich keine Dissertation schreiben, bis hin zu Bemerkungen, ich hätte meine Prüfungen wohl nur aufgrund eines kurzen Rockes geschafft, war alles dabei (und noch so vieles mehr). Trotzdem denke ich, ist es zu kurz gegriffen, die alleinige Schuld dem Mann in die Schuhe zu schieben und ihn zum Summum Malum zu erklären.

Wir alle sind Kinder einer Zeit und einer Gesellschaft. Das Einzige, was wir tun können, ist hinschauen, bewusst wahrnehmen, was läuft und die Missstände angehen. Gemeinsam und nicht gegeneinander.

Fazit
Ein informatives, ausführliches, gut recherchiertes, sachliches Buch über Sexismus, was er bedeutet, wie er entstanden ist und was wir als Gesellschaft brauchen, die ihn befördernden Strukturen aufzubrechen. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Susan Arndt ist Professorin für englische Literatur- und Kulturwissenschaft und anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ C.H.Beck; 1. Edition (17. September 2020)
Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
ISBN-Nr.: ‎ 978-3406757976

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Mann oder Frau oder was?

Es gab mal eine Zeit, da war die Welt noch in Ordnung. Männer hatten das Sagen und Frauen das Nachsehen. Während die grossen Männer in der grossen weiten Welt Geschäfte trieben und ihre Macht genossen, pflegten die Frauen zu Hause, was es zu pflegen gab, haushalteten, waren brav und unauffällig, fragten nett um Erlaubnis, wenn sie was wollten (was ihnen nicht zustand eigentlich, aber sie konnten es ja versuchen), und liessen den guten Mann Chef sein. Plötzlich begehrten einige auf. Sie fanden, das sei so nicht rechtens, sie wären auch Menschen und hätten auch das Recht, als solche mit Freiheiten und Möglichkeiten zu leben. Frauenbewegungen kämpften dafür, ungern gesehen von den Männern (und patriarchats-treuen Frauen), die auch gleich auf dem Platz standen und die kämpfenden Frauen verunglimpften. Mannsweiber seien sie. Hässlich. Primitive Phantasien, was man mit ihnen machen könnte oder müsste, um sie wieder zur Vernunft zu bringen, kursierten.

Nun denn, sie wurden nicht zur Vernunft gebracht, sondern setzten sich für ihre Rechte ein, von welchen sie auch einige umsetzten. In drei Wellen überfluteten sie die Welt mit ihren Forderungen, in drei Wellen kämpften sie immer wieder neu um Rechte wie den Zugang zu Bildung, das Wahlrecht, das Recht am eigenen Körper, Gleichberechtigung am Arbeitsplatz und vieles mehr. Sie kämpften erfolgreich, aber sicher noch nicht zu Ende.

Irgendwie war die Welt immer noch in Ordnung. Es gab Frauen und Männer und ein paar, die aus der Reihe tanzten – aber mein Gott, Spinner gibt es ja immer. Doch dann kamen die daher und befanden, dass sie nicht mehr die Spinner sein wollten, dass sie eine Berechtigung hätten, so zu sein, wie sie waren und damit als vollwertige Menschen anerkannt werden wollten. Mein Gott, wenn jeder will, wie er grad lustig ist, wo kämen wir da hin? Wie konnten die es wagen, an einem so sakrosankten Weltbild zu rütteln, das doch jedem einigermassen vernünftigen Mensch einleuchten müsste?

Müsste es wirklich? Simone de Beauvoir schrieb in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ den berühmt gewordenen Satz:

„Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht.“

Sie meint damit, dass man zwar mit einem biologischen Geschlecht auf die Welt kommt, danach aber durch die Sozialisation mit Erwartungen und Zuschreibungen bedacht wird, welche aus einem das machen, was in der Gesellschaft als Frau bezeichnet wird. Damit einher gehen Rollenbilder, Verhaltensweisen und Möglichkeiten. Eigenschaften werden als weiblich definiert, andere als männlich, es ist gefordert, dass die jeweiligen Kinder die passenden an den Tag legen. Tun sie das nicht, stören sie das System und das wird ungern gesehen und teilweise auch mit harten Mitteln bestraft.

Erich Fromm schrieb in seinem Klassiker „Die Kunst des Liebens“, ein Mensch sei nur dann in sich ganz, wenn er sowohl die männliche wie die weibliche Polarität in sich lebe. Jeder Mensch, so Fromm, trägt also alles in sich selber und kann dem auch Ausdruck geben. Ganz sind wir erst, wenn wir nicht alles auf einer Seite suchen, sondern uns auf der ganzen Bandbreite der Möglichkeiten ausleben. So gesehen wäre jeder Mensch eine Ansammlung von Eigenschaften, die sich zwischen diesen Polen bewegen. Damit ergäbe sich kein duales Menschenbild, sondern ein pluralistisches. Und dem sollten wir, wie ich finde, Rechnung tragen.

Nun ist aber die Gesellschaft dahin gegangen und hat gefordert, dass eine Hälfte Mensch nur noch den einen Pol beackere, die andere den anderen. Und die Gesellschaft hat auch noch bestimmt, welcher Pol höher zu bewerten und damit zu stellen sei: Der männliche. Zurück blieben halbe Wesen, die sich gegenüberstanden und in obere und untere eingeteilt waren. Ein gelingendes Leben ist so schon schwierig, ein gelingendes Miteinander als Freie unmöglich. Unterdrückung musste sein, sonst wäre das Konstrukt auseinander gebrochen. Und so leben wir in einer Gesellschaft, die diese über Jahrzehnte eingerichtet und behauptet hat, die so tief in unseren Köpfen verankert ist, dass wir sie oft gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie wie natürlich gegeben abläuft.

Frauen wollten sich das nicht gefallen lassen, sie gingen auf die Barrikaden, fingen zu kämpfen an. Sie kämpften für Zugang zu Schule und Studium, das Recht, arbeiten zu gehen, zu wählen und über ihren Körper selber entscheiden zu dürfen. Sie setzten sich ein für gerechtere Arbeitsbedingungen und gleichberechtigte Möglichkeiten und Bezahlungen. Sie erreichten viel, aber es ist auch noch viel zu tun. Während in einigen Köpfen noch die Wahnvorstellung herumgeistert, das sei ein Kampf von Frauen gegen Männer, ist vielen klar, dass es ein gemeinsamer Kampf gegen ein ungerechtes System sein soll, das beide in Rollenmuster presst, welche ihnen nicht wirklich entsprechen.

Leider klingen viele Mittel, mit denen man Ungleichheiten beseitigen will, in der Tat mehr nach einem Kampf als nach einer gemeinsamen Strategie. Die Einführung einer Quote zum Beispiel vermittelt vielen, dass hier (männliche) Köpfe rollen müssen, um neuen Platz zu schaffen, oder aber dass Männer fortan weniger Chancen haben als Frauen, die bevorzugt behandelt würden. Die Zahlen in Firmen sprechen nach wie vor eine deutlich andere Sprache. Und doch bleibt die Frage, ob die Quote die richtige Massnahme ist, zumal sie einfach eine neue Grenze eröffnet, über die sich dann streiten lässt. Denken wir zurück an den Anfang, haben wir ja nun mindestens drei Geschlechter, die es zu berücksichtigen gilt. Dazu kommt, wie es mit Menschen mit Behinderung oder solchen mit Migrationshintergrund ist? Was ist mit Hautfarbe und sexueller Orientierung? Vielleicht wären auch Veganer und Fleischfresser noch zu berücksichtigen? Was sind also aussagekräftige Argumente für die Besetzung einer Stelle und wie wollen wir fortan unsere Firmen (und andere Formen der in irgendeiner Form gemeinschaftlichen Teilhabe) zusammenstellen?

In meinen Augen gibt es nur eine Lösung: Es gilt, endlich zu dem Bewusstsein zu kommen, dass das Verbindende von allen das Menschsein ist. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch Anteile von allem hat, dass er aus verschiedenen Eigenschaften zusammengesetzt ist, die sich auf einer Bandbreite zwischen zwei Polen bewegen, die aktuell gesellschaftlich konnotiert sind, eigentlich aber nur als gegensätzlich und ohne Bewertung festzustellen sind, würde all das irrelevant. Das gilt auch für Hautfarben, von denen es unzählige Schattierungen und Farbausprägungen gibt, sowie weiteren Kriterien. So kämen wir zu einem Menschenbild, das alle umfasst, zu einer Gesellschaft, in welcher jeder frei mit Goethe denken könnte:

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“

Das einzige Problem, das ich nun noch sehe, ist das der eigenen Identifikation. Was bin ich denn nun? Frau? Mann? Beides? Nichts von alledem? Reicht „Ich“?