Eine Geschichte: Ordnung (XI)

Lieber Papa

Gerade hatte ich Lust auf einen Kaffee. Nun steht er neben mir, dampft vor sich hin und riecht gut. Ich liebe den Geruch von Kaffee. Es gibt Tage, da trinke ich viel Kaffee, an anderen nur wenige. Ohne Muster, ohne Regeln. Anders als früher. Bei euch. Ihr trankt genau drei Kaffees am Tag. Ich durfte keinen. Den ersten Kaffee gab es zum Frühstück. Ich musste Milch trinken. Zuerst mit Schokolade drin, es war grässlich. Ich kotzte fast. Danach durfte ich wenigstens die Schokolade weglassen. Der Brechreiz blieb. Begleitet von einem Schütteln, das durch den ganzen Körper fuhr.  Den zweiten Kaffee trankt ihr nach dem Mittagschlaf. Dazu gab es drei Guetzli. Nicht zwei oder vier. Drei. Schummeln ging nicht. Du hast es bemerkt.

In der Büchse war immer eine Mischung von zwei bis drei Sorten. Jeder durfte sich drei aussuchen. Irgendwann waren nur noch die da, die am wenigsten bliebt waren. Die mussten gegessen sein, bevor es neue gab. Und trotzdem wurde die Sorte immer mal wieder gekauft. Den dritten Kaffee gab es am Abend. Da war ich schon im Bett und ihr kurz davor, dahin zu gehen. Die drei Guetzli habe ich jeweils verpasst. Das war nicht schlimm. Ich mochte die meisten Guetzli nicht so sehr. Es war viel weniger Schlimm als die Milch zum Frühstück. Die ich bekam, um stark und gesund zu sein. Und mich beim Trinken weder noch fühlte.  

Das Abzählen gab es auch an anderen Orten. Mami zählte die Cherrytomaten für den Salat ab. Fünf pro Person. Nicht wie ich. Ich schütte sie einfach rein und höre auf, wenn ich finde, es reicht. Ich habe keine Ahnung, wie viele es dann sind, es ist eher so ein optisches Mass. Die Rotkleckse im grün gefallen mir.

Salat gab es nur, wenn du zu Hause warst. Wenn Mama und ich allein assen, gab es nur für mich eine Mahlzeit. Mama ass einen Apfel. Damit sie nicht dick würde. Sagte sie. Sie ass ihn immer ganz. Am Schluss war nur noch der Stil da. Das konnte ich nicht verstehen. Der Apfel ist so süss und gut, das Gehäuse so zäh und bitter. Damit zerstört man doch alles? Ich finde, beim Essen muss man mit dem Besten aufhören. So bleibt der Geschmack am längsten präsent. Erinnerst du dich? So ass ich immer. Du mochtest es nie. Ich ass zuerst das, was ich am wenigsten mochte, dann das nächste, am Schluss das Beste. Du hast immer gesagt, gehöre sich nicht. So esse man nicht. Iss anständig, sagtest du. Abwechselnd von allem. Sagtest du. Ich mochte es anders lieber. Wenigstens die letzte Gabel trug immer das Beste. Den Rest musste ich anpassen.

Was ich lernte: Alles hat seine Ordnung. Es gibt bei allem eine Art, wie man es macht. Kein Zufall, keine Masslosigkeit, alles abgemessen. Einfach mal Lust und Laune walten lassen? Wie ich mit meinem Kaffee? Undenkbar.

Ich weiss nicht, wieso das so war. So war es einfach. Und: Regeln waren bei uns nie dazu da, hinterfragt zu werden. Denen musste ich folgen. Ich glaube, Mama auch. Wenn ich das so schreibe, kommen mir Zwangsstörungen in den Sinn. Da gab es doch diesen Krimi, «Monk», in dem die Hauptfigur alles ordnen musste. So schlimm war es nicht bei dir. Und: Es war nicht nur auf dich bezogen, du hast es auf uns erweitert, mich dahingehend erziehen wollen.

Vielleicht war es ein Halt. Befürchtetest du, ihn sonst zu verlieren? Wohin wärst du in deinen Ängsten gefallen, hättest du ihn verloren?

Während ich all diese Erinnerungen aufschreibe, wie sie mir in den Sinn kommen, frage ich mich, was das Ganze bringen soll. Es ist vorbei. Heute ist heute. Sollte ich nicht in diesem so vielbeschworenen Hier und Jetzt leben, statt in Gedanken durch die Vergangenheit zu pflügen wie die Menschen beim Sommerschlussverkauf im Wühltisch? Ich las mal bei einem dieser Life-Coaches, die wie Pilze aus der Erde spriessen, man könne nur an einem Tag leben: Heute. Er versprach mir mit seinem Zahnpastalächeln, mir zu meinem Glück zu verhelfen. Ich liess ihn nicht. Und doch hat der Spruch etwas. Dieses Hier und Jetzt klingt gut. Da ist nichts mehr von früher, das schmerzt. Da kriecht nichts von dem, was man mal unter den Teppich kehrte, wieder hervor. Tabula rasa, das weisse Blatt Papier, das ich neu beschreiben kann. Tag für Tag. Leider funktioniert das Leben nicht so. Da ist immer etwas da. Etwas, das geprägt hat. Sich eingebrannt hat. Etwas, das unter dem Teppich liegt und beim Drüber Gehen schmerzt. Es gibt zwei Möglichkeiten: Schuhe mit harten Sohlen tragen oder aber mich dem stellen. Ich möchte den Boden spüren. Es bleibt also nur, die Dinge wieder unterm Teppich hervorzuholen.

Das Graben in den Schichten der eigenen Vergangenheit birgt Gefahren. Da sind vergessene Abgründe, die mich erneut in ihren Schlund ziehen wollen. Verdrängte Gefühle, die mich überwältigen. Was lauert da noch im Dunkel des Vergessenen? Will ich mich dem wirklich stellen? Kann ich es? Halte ich es aus? War es nicht gut verstaut da, wo es ist? Aus den Augen, aus dem Sinn?

Aber: Seit ich damit begonnen habe, zu graben, kann ich nicht mehr aufhören. Ich hoffe auf Antworten. Für die offenen Fragen in Situationen, in denen plötzlich etwas aus mir herausbrach, das ich nicht greifen konnte. Das ich nicht verstand. Etwas, das sich den Weg an die Oberfläche bahnte oder mich von innen anstachelte, das von irgendwoher kommen musste. All die Glaubenssätze, Überzeugungen, Einordnungen, an denen ich mich ausrichte, haben eine Herkunft. Ich hoffe, dass ich mehr verstehe, wenn ich sie finde. Ich hoffe, durch das Verstehen auch ein Stück Freiheit zu gewinnen, für meinen weiteren Weg.

(«Alles aus Liebe», XI)

Leseerlebnis – Ingeborg Bachmann: «Senza Casa»

Autobiographische Skizzen, Notate und Tagebucheintragungen

«Ständig bewohnt von Gefühlen
Gespinst voll von Gespinsten
wehenden, flatternden, zerrissenen
veränderlichen, denen ich ein
mangelhaftes Haus aus Fleisch und Wasser und Muskel
und Haut gebaut hab.»

Es gibt wohl kaum eine Zweite, mit der ich mich so verbunden fühle, weil ich mich in ihren Zeilen immer wiedererkenne, wie Ingeborg Bachmann. Das ist sicher auch der Grund, wieso ich an keinem Buch von ihr oder über sie vorbeikomme. Ich muss sie haben, ich muss in sie eintauchen, ich muss mehr erfahren. Und finde immer auch mich in den Texten.

«Einbruch des Vergangenen in die Intensität. Die Liebe: das Zurückrufen der Liebe aus einer Zeit, in der sie es nicht war.»

«Senza Casa» ist wohl eines der persönlichsten Bücher. Hier finden sich Notate aus ihren Tagebüchern, hier finden sich ihre tiefsten Gedanken, Gefühle, aufgeschrieben aus der Situation heraus, wie sie gerade auftauchten, sich drehten und damit Ingeborg Bachmann umtrieben. Liest man es als erstes Buch, um ihr näher zu kommen, stösst man in die Tiefe vor, sieht sich mit Gefühlen konfrontiert, die man nicht zuordnen kann, die aber für sich Bilder auslösen. Liest man es vor dem Hintergrund eines schon vorhandenen Wissens über ihr Leben, Denken und Schaffen, finden sich zusätzlich Bezüge zu diesem, weiss man die einzelnen Stellen zuzuordnen.

«Allein sein. Frei sein.»

Ein Herzensbuch, das ich nur ans Herz legen kann. All denen, die eine spannende, wunderbare und sehr eigensinnige, eigenwillige Frau näher ergründen wollen.

Tove Ditlevsen: Abhängigkeit

«Und mir wird immer stärker bewusst, dass ich zu nichts anderem tauge und von nichts anderem leidenschaftlich erfüllt werde, als Worte aneinanderzureihen, Sätze zu bilden und einfache, vierzeilige Verse zu schreiben. Um das zu können, muss ich die Menschen auf eine ganz bestimmte Weise beobachten, in etwa so, als würde ich sie für den späteren gebrauch in einem Archiv ablegen.»

Tove Ditlevsen schreibt über sich. Nach Kindheit und Jugend ist nun die Zeit des Erwachsenseins Thema, die Liebe, die Irrtümer, das Schreiben, die Feiern, das Trauern und schlussendlich die Sucht. Sie schreibt über ihre Ehen, über ihre Kinder, schreibt darüber, wie sie schreiben will und nur schreibend glücklich ist, dies dann verliert, weil sie sich an die Drogen verloren hat. Und sie schreibt über ihren Weg aus all dem wieder hinaus.

«Aber für mich ist das Leben nur ein Genuss, wenn ich schreiben kann.»

Tove Ditlevsen ist ein Mensch, der sich dem Schreiben verschrieben hat. Manchmal scheint es, als ob das ganze Leben nur dazu dient, dem Schreiben Stoff zu liefern. Menschen, die sie trifft, Menschen, die sie liebt, Dinge, die sie tut – all das ist immer in irgendeiner Form mit dem Schreiben verbunden. Nicht schreiben zu können, ist die schlimmste Strafe, das unvorstellbar Grausamste. Durch diesen Drang, schreiben zu müssen, manövriert sie sich in eine Anhängigkeit hinein, aus der sie nicht mehr herausfindet, und die ihr schlussendlich das nimmt, was ihr das Wichtigste war: das Schreiben.

«Warum möchtest du eigentlich so gern normal und gewöhnlich sein?», fragte Ebbe verwundert. «Es ist doch eindeutig, dass du es nicht bist.» Darauf kann ich ihm auch keine Antwort geben, aber ich habe es mir gewünscht, solange ich denken kann.»

Der Wunsch, normal zu sein, so wie die anderen, trägt immer eine Ambivalenz in sich. Einerseits gefällt einem selbst das, was man ist, weil man sich in dem wohl fühlt. Wenn man sich so verhält, wie es einem entspricht, fühlt sich das tief drin stimmig an. Doch merkt man bald, dass man damit zum Aussenseiter wird, zu dem, der anders ist, nicht wirklich dazugehört durch dieses Anderssein. Da der Mensch als soziales Wesen danach strebt, dazuzugehören, kommt zwangsläufig der Wunsch auf, so zu sein wie die anderen, eben normal. Das wäre die Chance für die Integration – aber mit dem Preis, sich nicht mehr in sich zu Hause zu fühlen. So gesehen ist man selten ganz im Reinen mit dem eigenen Sehnen, etwas vermisst man meist – das Ich oder die anderen.

Es fällt schwer, das Buch wirklich zu fassen, zusammenzufassen. Es ist zu dicht, zu tief, zeigt zu viele Wunden. Eine sachliche Zusammenfassung würde nie zu fassen vermögen, worum es in der Tiefe geht, das Empfinden beim Lesen findet keine Worte. Sich über die Sprache, die Form auszulassen wirkt zu analytisch, distanziert. Und lässt man sich ein, fehlen am Schluss die passenden Worte, die ausdrücken, was nur zu fühlen ist. Hilft nur: Selbst lesen. Das immerhin kann ich sagen: Es ist eine Empfehlung.

Fazit zum Buch
Ein schonungslos offenes Buch, ein ehrliches Buch, ein Buch voller Abgründe. Und doch auch ein mutiges Buch, ein Buch, das ermuntert, hinzuschauen, auch bei sich.

Paul Auster: Winterjournal

Paul Auster blickt auf sein Leben. Er schreibt sich von Liebe zu Liebe, listet die Wohnungen seines Lebens auf, reflektiert sein Leben in ihnen. Er denkt über seinen Körper nach und dessen Veränderungen in der Zeit, über Krankheiten und den Verfall bis hin zum Tod. Er zieht Bilanz weit vor dem Ende. Noch ist Zeit zum Schreiben. Das Zentrale in seinem Leben neben der Liebe.

«Du denkst, das wird dir niemals passieren, das kann dir niemals passieren, du seist der einzige Mensch auf der Welt, dem nichts von alldem jemals passieren wird, und dann geht es los, und eins nach dem anderen passiert dir all das genau so, wie es jedem anderen passiert.»

Paul Austers Blick ist ein offener, ein entlarvender. Er zeigt seine Illusionen, seine Irrtümer. Er offenbart seine Schwächen und zeigt sich dadurch mutig und stark. Er steht zu dem, was er ist, ohne zu beschönigen, zu verklären. Es ist aber auch keine Selbstanklage, sondern zeugt von der Anerkennung des eigenen So-Seins.

«Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist.»

Die Endlichkeit der Zeit ist immer wieder Thema. Sie zu nutzen im Wissen, dass nicht ewig Zeit sein wird, ist die Botschaft. Wie oft schweigen wir, denken später, zu spät, wir hätten etwas sagen sollen. Wir trauern den ungeklärten Dingen hinterher, Dinge, deren Klärung wir aufschoben. Ein Schriftsteller lebt davon, Dinge zu sagen. Er sucht den Ausdruck für das, was ist, was er ist. Was um ihn ist. Wie er damit umgehen will, kann, wie er es tut. Die Zeit dafür ist immer jetzt. Morgen kann es zu spät sein. Paul Auster hat das selbst erfahren und auch so beschrieben:

«und weil du immer geglaubt hast, er werde ein hohes Alter erreichen, hat es dich nie gedrängt, den zeitlebens zwischen euch hängenden Nebel zu lichten.»

Als Paul Austers Vater unerwartet plötzlich stirbt, wird er sich all dessen bewusst, was unausgesprochen blieb, was zu klären versäumt worden war. Die Illusion einer noch lange dauernden Zeit lässt uns zögern, das zu tun, was uns auf dem Herzen liegt und vielleicht nicht so leicht ist. Wir schieben es so lange auf später, bis die Zeit und die Chance, es zu tun, vorbei sind.

«Zweifellos bist du ein beschädigter, ein verwundeter Mensch, ein Mann, der von Anfang an eine Wunde in sich herumgetragen hat (warum sonst hättest du dein ganzes Erwachsenenleben damit verbringen sollen, Worte zu Papier zu bluten?), und der Gewinn, den du aus Alkohol und Tabak ziehst, dient dir als Krücke, dein verkrüppeltes Ich aufrecht zu halten und durch die Welt zu tragen.»

Paul Auster sieht sich als Verwundeten. Er sieht die Narben im Gesicht ebenso wie sein Tun, das wohl aus keinem heilen Wesen entspringen kann. Würde ein gesundes Wesen, ein unverwundetes, sich nicht ins blühende Leben stürzen statt in der stillen Kammer zu versuchen, Worte aneinanderzureihen?

«…das eine Ich, der Einzelne, der sich täglich für sieben oder acht Stunden in diesen Bunker verkriecht, ein stiller Menn, der abgeschnitten vom Rest der Welt, Tag für Tag an seinem Schreibtisch sitzt, mit nichts anderem im Sinn, als das Innere seines Schädels zu erforschen.»

Das eigene Schreiben dient dazu, sich und das Leben zu erforschen und zu verstehen. Es ist eine Innenschau, die nach aussen dringt und dadurch erfahrbar wird. Für Auster selbst und später für den Leser. Da Menschen nicht so unterschiedlich sind, wie sie manchmal glauben, erkennt man sich in diesem Geschriebenen wieder. Man geht selbst in sich und erkennt etwas, das vorher vielleicht nicht so offen dalag.

«Wir alle sind uns selbst fremd, und wenn wir irgendeine Ahnung haben, wer wir sind, dann nur, weil wir in den Augen anderer leben.»

Dieses Erkennen kann durch Bücher, aber auch durch andere Menschen passieren. Indem wir sehen, wie wir bei anderen ankommen, wie sie sich zu uns verhalten, was sie uns spiegeln, erhalten wir eine Ahnung dafür, wer wir sind.

«Eine Tür ist zugefallen. Eine andere Tür hat sich geöffnet. Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.»

Und irgendwann wird es die letzte Tür sein.

Fazit zum Buch
Ich habe das Buch kurz nach Paul Austers Tod gelesen. Es hat mich berührt durch seine Sprache, durch seine Offenheit. Es hat mich dem Menschen Paul Auster nähergebracht und Lust gemacht, tiefer in sein Werk einzutauchen. Ein sehr persönliches Buch, das den Menschen Paul Auster in seinem Sein zeigt und erfahrbar macht.

(Paul Auster: Winterjournal, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2013)

Lena Gorelik: Wer wir sind

«Das ist meine Geschichte. Ich schreibe sie auf, in der Sprache, die mir am besten gehorcht. Ich schreibe Worte auf, verletze Menschen, weiss Liebe, spüre Respekt, streiche weg, gehe zurück, bleibe stehen. Murmle Entschuldigung, zwischen die Zeilen hinein. Tippe Buchstaben, sortiere Worte, habe Angst vor Fragen, vor denen, die ich liebe, vor dem, was ich schreiben könnte, ordne Worte an. Die Worte beugen sich ächzend. Das ist meine Geschichte, tippe ich, Buchstaben für Buchstaben trotzig.»

Mit 11 Jahren lässt die Ich-Erzählerin Sankt Petersburg und alles, was da war, zurück: Die Kindheit, die Erinnerungen, die Freunde, den Hund. Sie kommt in Deutschland mit nichts als den Eltern und der Grossmutter und ein paar notwendigen Dingen, die in einem kleinen Koffer Platz hatten, an. Sie merkt bald, dass ein wirkliches Ankommen nicht möglich ist, weil sie immer die Fremde, die andere ist. Weil sie aussieht, wie keiner aussieht, weil sie ausgelacht wird für das, was sie trägt. Weil die Eltern es nicht schaffen, die Sehnsüchte, die sie an den Westen, an die Freiheit hatten, umzusetzen, zu leben, zu geniessen gar. Und dann findet sie in der Sprache eine neue Heimat, eine, die von allem, was war, Distanz schafft, weil sie nicht eine mit den Eltern geteilte Heimat wird. Und immer ist da Scham. Und auch Stolz. Aufbegehren, um wieder in Anpassung überzugehen.

Davon handelt dieser autobiografische Roman.

««Hast du Pläne, ein Buch zu schreiben?», fragt mein Vater. Ich schreibe nichts. Ich schreibe über dich, über uns. Ich schreibe uns auf, ich erzähle von mir, ich kann dich nicht weglassen, ich bin, weil ihr seid, und wir sind, auch wenn du die Arme verschränkst und ich mit den Zehen wackle. Was schreibe ich, wenn ich versuche, nicht zu viel zu erzählen? «Ich weiss nicht, was für Pläne ich habe.»»

Ich lese mich durch die ersten Seiten und verstehe nicht, was da passiert. Vielleicht passiert auch nichts. Es sind lose zusammengewürfelte Erinnerungen, Gespräche mit den Eltern, Erinnerungen an solche Gespräche. Der Inhalt erscheint bedeutungslos und doch ist er bedeutsam. Er steht schwarz auf weiss geschrieben. Vielleicht steht er für etwas anderes, ist er ein Abbild, ein Ausdruck der Bedeutungslosigkeit, der Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kind.

«Wir haben so viel auf dem Weg verloren… Meine Mutter denkt, vielleicht auch uns. Die Familie haben wir verloren, alles, was wir einmal waren an Gefühl. Den Zusammenhalt, dieses Gefühl: … Wir, gemeinsam.»

Eine Verbindung, die nur durch die Herkunft noch hält, der die Sprache fehlt, das Gefühl. Die gilt es zu ergründen. Was hält Familien zusammen? Welches Band steht zwischen Eltern und ihren Kindern, wenn da keine Gemeinsamkeiten mehr sind und das, was war, lieber vergessen als erinnert würde? Was war gut, wo wurde es schwer? Was hallt noch nach, was bleibt?

Und dann sind da diese wunderbaren Sätze. Sie sind in eine Geschichte gebettet und in ihnen steckt eine weitere Geschichte, vielleicht sogar die meine eigene als Lesende:

«…wir sprechen über nichts. Verhindern die Stille.»

Ich finde mich in solchen Sätzen. Ich weiss, wie sie sich anfühlen. Sie wecken in mir Erinnerungen, Gefühle. Das Wissen um all das Ungesagte, das Wissen um das Schweigen da, wo viele Worte gewünscht, aber nicht aussprechbar gewesen sind. Es findet sich in vielen Familien wohl. Und dann denke ich, vor allem beim Lesen eines Buches wie diesem, dass ich hätte sprechen sollen. Oder es noch könnte. Und dann sitze ich da, schweigend, das Buch in der Hand. Es wirkt nach.

(Lena Gorelik: Wer wir sind, Rowohlt Verlag, 2022.

Simone de Beauvoir: In den besten Jahren

Inhalt

«Als ich im September 1929 wieder nach Paris kam, berauschte mich vor allem meine Freiheit. Seit meiner Kindheit hatte ich von ihr geträumt…»

Nach Memoiren eines Mädchens aus gutem Haus ist dies der zweite Teil von Simone de Beauvoirs autobiografischen Schriften. Sie schreibt darin über ihr Leben ab 20, das ihr endlich die ersehnte Freiheit gibt. Es ist die Erzählung ihrer Beziehung zu Sartre, zu ihren Beziehungen und Freundschaften, die sich über die Jahre bilden. Es ist ein Schreiben über ihr eigenes Schreiben und das Ringen um die ersten Romane sowie ein Blick in das Erstarken des Nationalsozialismus und den Ausbruch des Weltkrieges, wie die Kriegsjahre sich auf das Leben und die Gesinnung der Menschen auswirkten, sowie die Analyse der eigenen Verwandlung von einem apolitischen hin zu einem politisch engagierten Menschen.

Gedanken zum Buch

«Mit fünfzig Jahren hielt ich den Augenblick für gekommen; mein erinnerndes Bewusstsein hat für das Kind und das junge Mädchen – die beide auf dem Grunde der verlorenen Zeit ausgesetzt und mit ihr verloren sind – das Wort ergriffen. Ich habe ihnen eine Existenz in Schwarz und Weiss geschaffen.»

Es gibt Bücher, die eignen sich nicht fürs Lesen mit dem D-Zug, Bücher, die Satz für Satz gelesen werden wollen. Jeder Satz erschliesst dabei neue Gedankenwelten, die man ergründen, in die man sich hineindenken will. Solche Bücher weisen über sich hinaus, sie verleiten zu weiteren Lektüren, sie wecken neue Interessen. Wenn man sie dann gelesen hat, ist man nicht am Ende angelangt, sondern am Anfang, weil man am liebsten nach dem Umblättern der letzten Seite mit der ersten wieder beginnen möchte, es oft auch tut, und sei es nur, um nochmals einzelnen Sätzen nachzuspüren.

Ich habe Simone durch die Jahre nach dem Studium begleitet, habe mit ihr die Wandlung von einer politisch uninteressierten Frau hin zu einer, die sich engagieren will, erlebt. Ich habe sie ihr Schreiben bezweifeln und feiern sehen und die Kriegsjahre politisch wie lebenswirksam Revue passieren lassen. Ich habe sie auf ihre Wander- und Velotouren durch Frankreich begleitet und neue Freundschaften zu grossen Namen der damaligen Zeit kennengelernt.

Ich bin in Simone und in Sartres Schreiben und Denken eingetaucht, habe mitgedacht, markiert und notiert. Ich bin tiefer in das Leben und Schaffen einer Frau eingedrungen, die mich mehr und mehr fasziniert, weil ich immer wieder Parallelen entdecke, weil mich ihr Denken und ihr Leben faszinieren. Ich bin gespannt, wohin mich die weitere Reise mit Simone bringen wird.

«Ich möchte vom Leben alles.»

Zu Simone de Beauvoir
Simone de Beauvoir wurde am 9.1.1908 in Paris in ein ursprünglich wohlhabendes, später mit den Finanzen kämpfendes Elternhaus geboren. Mit fünfeinhalb Jahren kam Simone an das katholische Mädcheninstitut, den Cours Désir, Rue Jacob; als Musterschülerin legte sie dort den Baccalauréat, das französische Abitur, ab. 1925/26 studierte sie französische Philologie am Institut Sainte-Marie in Neuilly und Mathematik am Institut Catholique, bevor sie 1926/27 die Sorbonne bezog, um Philosophie zu studieren. 1928 erhielt sie die Licence, schrieb eine Diplomarbeit über Leibnitz, legte gemeinsam mit Merleau-Ponty und Lévi-Strauss ihre Probezeit als Lehramtskandidatin am Lycée Janson-de-Sailly ab und bereitete sich an der Sorbonne und der École Normale Supérieure auf die Agrégation in Philosophie vor. In ihrem letzten Studienjahr lernte sie dort eine Reihe später berühmt gewordener Schriftsteller kennen, darunter Jean-Paul Sartre, ihren Lebensgefährten seit jener Zeit.

1932-1936 unterrichtete sie zunächst in Rouen und bis 1943 dann am Lycée Molière und Camille Sée in Paris. Danach zog sie sich aus dem Schulleben zurück, um sich ganz der schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Zusammen mit Sartre hat Simone de Beauvoir am politischen und gesellschaftlichen Geschehen ihrer Zeit stets aktiv teilgenommen. Sie hat sich, insbesondere seit Gründung des MLF (Mouvement de Libération des Femmes) 1970, stark in der französischen Frauenbewegung engagiert. 1971 unterzeichnete sie das französische Manifest zur Abtreibung. 1974 wurde sie Präsidentin der Partei für Frauenrechte, schlug allerdings die «Légion d’Honneur» aus, die ihr Mitterrand angetragen hatte. Am 14.4.1986 ist sie, 78-jährig, im Hospital Cochin gestorben. Sie wurde neben Sartre auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Rowohlt Taschenbuch; 32. Edition (1. Januar 1969)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Pocket Book ‏ : ‎ 744 Seiten
  • Übersetzung ‏ : ‎ Rolf Soellner
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3499111129

Buchtipp – Edouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Inhalt

«…ich habe seit Langem das Gefühl, dass ich schon zu viel erlebt habe; vermutlich habe ich deshalb ein so grosses Bedürfnis zu schreiben, das Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien.»

Nach einer Kindheit, die von Armut, Spott und Gewalt geprägt war, zieht Edouard nach Amiens, um da das Gymnasium zu besuchen. Er kommt in neue Kreise, steigt in die bürgerliche Gesellschaft auf, fühlt sich endlich frei und zugehörig. Er lebt das Leben, das er immer haben wollte und wovon er kaum zu träumen wagte. Doch bald merkt er: Es reicht noch nicht, er will noch weiter aufsteigen, er will die Distanz zu seiner Herkunft noch mehr vergrössern, als Rache an allen, die ihn vorher verspottet haben. Mit voller Kraft und viel Ehrgeiz stürzt er sich in das Projekt, ein anderer zu werden.

Eine berührende und aufwühlende Autobiografie.

Gedanken zum Buch

«Ich musste eine Daseinsberechtigung für meinen Körper und eine Geschichte wie meine finden, mehr nicht.»

«Anleitung ein anderer zu werden» ist die Fortsetzung von «Abschied von Eddy», Edouard Louis’ erstem Roman. Hier erzählt er die Geschichte von Eddy weiter, erzählt von seinem Umzug nach Amiens, den Herausforderungen eines neuen Lebens und den Veränderungen, die dieses mit sich brachte. Er erzählt davon, wie ein Mensch, der an seinem Sein gelitten hatte, anders werden wollte, wie er sich immer wieder neu erfand, in der Hoffnung, dann endlich am Ziel und glücklich zu sein.

«Alles in mir veränderte sich, aber paradoxerweise wurdest du, je weiter ich mich von dir entfernte, umso präsenter in meinem Leben. Du wurdest zu einer negativen Präsenz.»

Leider ist das nicht so einfach mit dem Glück, man nimmt sich immer mit und damit auch die Vergangenheit, von der man sich distanzieren wollte.

«Wenn ich meinen Vater oder meine Mutter besuchte, hatten wir uns nichts mehr zu sagen, wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache, alles, was ich in dieser kurzen Zeit erlebt und durchgemacht hatte, trennte uns voneinander.»

Edouard einziger Wunsch, sein ganzes Trachten hatte nur den Inhalt, aus dem Dorf, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, wegzukommen, weg von seinen Eltern, von den Menschen da, die ihn verspotteten und zu denen er nicht zu gehören schien. Er wollte ein anderer werden, er wollte aufsteigen. Er fand schnell Anschluss in Amiens, er trat in die bürgerliche Gesellschaft ein und passte sich mehr und mehr an. Es war weniger die örtliche Distanz als die der Klasse mit all ihren Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die ihn von seiner Herkunft trennte. Er tat alles, diese Distanz so gross wie möglich werden zu lassen.

Edouard wollte schreiben wie sein grosses Vorbild Didier Eribon. Er kopierte dessen Arbeitsweise, träumte vom grossen Erfolg, wie ihn dieser hatte.

«Ich schrieb, um zu existieren… Wenn ich es schaffe, einen Roman zu schreiben und zu veröffentlichen… werde ich vielleicht endgültig, ein für alle Mal vor der Armut gerettet sein, dann kaufe ich eine Wohnung, das wird das Erste sein, was ich tue, mir eine Wohnung kaufen, um bis an mein Lebensende abgesichert zu sein, um niemals auf der Strasse zu landen.»

Es wollte nicht gelingen. Er musste merken, dass er die Herkunft nicht losgeworden war, so sehr er sich auch gemüht hatte. Sie sass noch immer in ihm und trieb ihn an. Vor allem sass da diese Angst, die Armut könnte zurückkommen und damit all das Leid, das er von Kindheit an kannte. All das sass ihm förmlcih im Nacken – und es blieb da. Es sind diese frühkindlichen Prägungen, die sich in uns festgeschrieben haben und sich im Leben immer wieder zeigen, mal bewusst, mal unbewusst.

«Ich hatte noch nicht begriffen, dass die Differenz zwischen meinem und deinem Leben eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und Klassengewalt war, für mich war sie nur der Beweis, dass ich für ein schöneres, bedeutenderes Leben bestimmt war.»

«Anleitung ein anderer zu werden» handelt von Armut und davon, wie sie Menschen benachteiligt. Armut zeigt sich in allem, nicht nur in fehlenden finanziellen Möglichkeiten, sie sitzt im Körper, im Geist, in der Haltung, im Auftreten, in der Sprache. Diese Unterschiede schaffen Distanz zwischen den verschiedenen Klassen, Distanz zwischen den einzelnen Menschen. Wenn nun einer von einer Klasse in eine andere wechselt, entfernt er sich von all denen, die in seiner alten bleiben, den Menschen, die bisher sein Leben teilten. Das kann teilweise gewollt sein, ist aber doch immer auch ein Bruch – und Brüche schmerzen oft irgendwann. Dazu kommt die Frage, ob man in der neuen Klasse wirklich je ankommt, so ganz, oder ob nicht doch die alte so in einem verankert ist und an einem haften bleibt, dass man fortan zwischen den Welten lebt.

«Anleitung ein anderer zu werden» ist aber auch ein autofiktionales Buch von einem jungen Mann, der seinen Platz in der Welt sucht, der sein will, wer er ist mit allem, was ihn ausmacht. Er will sein Begehren leben, wofür er sich bislang immer schämte, und das er verbergen musste, um nicht Spott und Gewalt ausgesetzt zu sein. Er will dazugehören und nicht immer nur am Rand stehen.

«Anleitung ein anderer zu werden» ist zudem ein Buch über Bildung und den Wert, den diese hat, wenn es darum geht, das eigene Leben gestalten zu können. «Wissen ist Macht» schreibt Edouard Louis einmal und er trifft es damit auf den Punkt. Die Ungerechtigkeit, dass dieses Wissen nicht allen zugänglich ist, wiegt deswegen schwer, weil sie das Schicksal der Kinder zementiert, die nicht das Glück hatten, in einem bildungsnahen Haushalt aufzuwachsen. Eddy hat den Ausstieg geschafft, aber er sagt selbst, dass es (neben durchaus viel Aufwand und Einsatz) dank Zufällen, Glück und unterstützenden Menschen möglich war. Dieses Glück haben nicht alle.

Fazit
Ein grossartiges Buch, ein Buch, das schonungslos aufzeigt, wie grausam die Welt für Menschen sein kann, die nicht dazugehören, und wie schwer der Weg ist, das zu ändern. Ein Buch, das berührt, das ergreift, das nicht mehr loslässt – auch dann nicht, wenn es längst ausgelesen ist.

Edouard Louis: Das Ende von Eddy

Inhalt

«An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heissen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.»

Eddy wächst in einem kleinen Dorf im Norden Frankreichs auf. Hier ist das Leben noch in Ordnung, hier weiss man, wie der Hase läuft, hier ist bestimmt, wie ein Mann und wie eine Frau zu sein hat. Eddy passt nicht hinein, seine Stimme ist zu hoch, seine Gestik zu weiblich, seine Lebenswünsche zu abgehoben. Er wird gemobbt und beleidigt. Krampfhaft versucht Eddy, sich zu ändern. Jeden Morgen betete er sich mantraartig vor, er sei ein Kerl, er übt mit tiefer Stimme zu sprechen, lässt sich mit Mädchen ein. Er tut alles, was er kann, um sein Anders-Sein zu überwinden. Und wenn es nicht gelingt, lächelt er den Schmerz weg, schluckt die Scham herunter. Er versucht weiter, sich bis zur Selbstverleugnung anzupassen, bis er merkt, dass dies nie gelingen wird – es muss eine andere Lösung geben.

Gedanken zum Buch

«Aber das Verbrechen besteht nicht darin, etwa szu tun, sondern etwas zu sein Und vor allem auch so auszusehen.»

«Das Ende von Eddy» ist ein Buch darüber, wie es ist, anders zu sein und wegen diesem Anderssein nicht dazuzugehören. Es ist ein Buch über die Scham, nicht ins Bild zu passen, über die Abwertung durch Sprache, durch Gewalt, wenn man ist, wie man nicht zu sein hat. Ein Buch darüber, mit welchem Schmerz manche Kinder aufwachsen und Erwachsene durchs Leben gehen müssen, nur weil Menschen einen Massstab aufgestellt haben, wie einer zu sein habe, um richtig zu sein.

«…wegen der Besessenheit, mit der ich alles nachahmte, ja nachäffte, was als männlich galt – ‘Wer sich nicht als Mann fühlt, bemüht sich, als einer zu erscheinen, und wer seine innere Schwäche kennt, stellt nach aussen gern Stärke zur Schau.’»

Kinder wollen gefallen, vor allem wollen sie nicht anecken, anstossen, ausgestossen werden. So auch Eddy. Krampfhaft will er in die Rollenklischees passen, die man im Dorf aufgestellt hat. Er übt einen männlichen Gang, behält die Hände in den Hosentaschen beim Reden, um nicht herumzufuchteln, spricht mit immer tieferer Stimme. Er vergisst dabei, dass sich der Körper nicht verleugnen lässt, dass man sich nicht selbst belügen kann, doch diesem zeigt es ihm immer deutlicher. Immer mehr leidet Eddy an seinen Anpassungen und Selbstverleugnungen, bis er es selbst nicht mehr aushält.

«Dieser Willen, diese stets neue, verzweifelte Anstrengung, immer noch auf jemanden hinabzusehen, der unter einem steht, um sich nicht selbst ganz am Ende der sozialen Leiter zu fühlen.»

«Das Ende von Eddy» ist auch ein Buch über Klasse. Es zeigt das Aufwachsen in Armut, zeigt das Stigma des Lebens in Armut und die Herabsetzung durch die Gesellschaft. Nicht nur reicht das Geld für die meisten Dinge nicht, da sind auch die Blicke und die Bemerkungen der anderen. Da sind Zugänge zu Bildung, Kunst, Sprachgebräuchen, die dem Armen verschlossen sind. Die Scham, arm zu sein, lässt sich oft nur dadurch mindern, dass man einen findet, der noch ärmer ist, auf den man hinabsehen kann. So gehört man wenigstens auch einmal zu denen, die spotten und ist nicht nur selbst der Verspottete. Bloss hält man damit das System, unter dem man selbst leidet, eigentlich auch am Laufen.

Edouard Louis gelingt es, seine Geschichte, die von Herabsetzung, Gewalt und Armut geprägt ist, zu erzählen, ohne wehleidig oder sentimental zu sein. Er verurteilt nicht, er beschreibt nur, wie es war. Er zeigt diesen Jungen, der er war, wie er versucht, in einem ihm feindlichen System möglichst heil zu bleiben. Er hält damit der Gesellschaft einen Spiegel vor, den diese dringend benötigt.

Fazit
«Das Ende von Eddy» ist ein grossartiges Buch, ein Buch voller Tiefe und Klarsicht, das die Strukturen unserer Systeme unbarmherzig entblösst und die Grausamkeit des Menschen im Umgang mit Andersartigkeit ans Licht bringt. Es ist ein Buch direkt aus dem Leben, das mitten ins Herz sticht.

Buchtipp – Annie Ernaux: Die Scham

Die zwei Welten der Welt

Und plötzlich erinnert man sich an etwas, und man hat ihn, den

«Beweis für die Existenz zweier Welten und unsere Zugehörigkeit zur unteren.» Annie Ernaux

Oft heisst es, wir haben diese eine Welt, in der wir leben, wir teilen sie. Das mag rein physikalisch materiell so sein, doch im Leben, ideell, in den sozialen Strukturen sind es mehrere Welten, schon zwei reichen nicht aus. Früher sprach man von der Dritten Welt, um Länder zu bezeichnen, welche nach westlichen Massstäben weniger entwickelt und finanziell arm waren. Diese klare Hierarchie hat man sprachlich abgemildert, doch hat sich sonst etwas geändert?

Die Frage, die sich immer wieder stellt, ist doch, welche Massstäbe auf das Leben und die Welt angelegt werden, um eine Hierarchie zu schaffen. Alle sind sie an einer Norm ausgerichtet, die nach den Werten der entsprechenden Gesellschaft, teilweise auch nur von Teilen davon, bestimmt sind.

Es sind Grundsätze, die in der Luft hängen, für jeden spürbar, als Geländer im Leben, das zeigt, dass nur diesem entlang ein richtiges, weil passendes möglich ist. Über einem Misstritt, einem Fehlverhalten schwebt das vernichtende Urteil:

«Was sollen die anderen von dir denken?»

Sitzt man drin im eigenen Leben, erscheint es als einzig mögliches, als einzig lebbares, als normal. Erst wenn der Blick auf andere Leben fällt, man sieht, was es auch noch gibt in dieser Welt an anderen Welten, kommt aus dem Vergleich das Werten. Man setzt den Bezug und je nachdem ist die Fallhöhe hoch. Was vorher die Welt war, ist nun ein kleiner Teil davon, schwierig wird es, wenn es nicht der wünschenswerte im Ganzen ist. Plötzlich fühlt man sich klein, sieht in den Augen der anderen die Abwertung, spürt sie in deren Verhalten, fühlt den eigenen Platz unten. Und damit kommt die Scham. Sie wird von nun an das Leben begleiten, sich über alles legen, bei allem mitschwingen. Sie wird das Nebengefühl beim eigenen Tun und Sein.

«Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet.» Annie Ernaux

Ein Merkmal der Scham ist, dass sie im Stillen herrscht, im Privaten. Dort schwingen Angst und Mangel mit. Die Scham behält man für sich, sie zu benennen fühlte sich noch beschämender an. Und mit diesem Schweigen verstärkt sie sich noch, sie füllt das eigene Denken und sie bewirkt, dass man sich damit allein fühlt, weil man sich nicht vorstellen kann, dass es noch jemanden gibt, der so denkt.

Und vielleicht liegt genau da das Heilmittel: Im Teilen und Mitteilen. Denn dadurch würde man merken, dass es noch mehr Menschen in der gleichen Welt gibt, welche die gleiche Scham teilen. Und wenn man merkt, dass man mit Dingen, derentwegen man sich schämt, nicht allein ist, stellt man fest, dass diese in der Welt normal sind, so dass sie keinen Grund zur Scham darstellen. Annie Ernaux hat das für sich erkannt und über ihre Scham geschrieben. Weil Schreiben Öffentlichkeit ist, es ist ein Heraustreten aus der eigenen Scham, aus dem eigenen privaten Empfinden des eigenen Unwerts hinaus in die Welt der Gleichgesinnten.

Zum Inhalt:
Ein Erlebnis 1952, das die Welt in ein Davor und ein Danach einteilt. Die Erfahrung, dass es zwei Welten gibt, eine unten und eine oben, zu der sie, als eine von unten, nie gehören wird. Die Scham dieser Erkenntnis, die Scham, die sich im Leben festsetzt, die sich in den Zellen des Körpers speichert und immer wieder hervorbricht. All das sind die Themen dieses Buches, das aus Erinnerungen und Reflexionen des schreibenden Erinnerns besteht – Erinnerungen an die Schulzeit, an das Leben zu Hause, an die Eltern, an sich selbst.

Zur Autorin
Annie Ernaux, 1940 in Lillebonne (Frankreich) geboren, Schriftstellerin mit mehrheitlich autobiografisch geprägten Werken, die 2022 den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat.

Annie Ernaux (1. September 1940)

«Der Gedanke, ich könnte sterben, ohne über das Mädchen geschrieben zu haben…. lässt mir keine Ruhe. Eines Tages wird es niemanden mehr geben, der sich erinnert…. Kein anderes Schreibvorhaben erscheint mir so lebensnotwendig.»

Und so schrieb Annie Ernaux immer wieder über sich und ihren Lebensweg. Ich hebe mein Glas auf die Schriftstellerin, die heute 83 Jahre alt wird. Annie Ernaux, die in Frankreich schon lange bekannt war, die sich ihrem Leben entlang schrieb, ihren Weg vom Arbeiterkind zur studierten Lehrerin und Schriftstellerin immer wieder thematisierte, die von Didier Eribon zitiert, mit Bourdieu in einem Atemzug genannt wird wegen ähnlicher Themen, hat letztes Jahr den Literaturnobelpreis gewonnen und ist nun auch in den deutschen Sprachraum eingezogen. 

«Je weiter ich schreibe, umso mehr kommt mir die Einfachheit der Erzählung abhanden, die in meiner Erinnerung aufbewahrt ist.“

Die Zeit des Preises war wohl nicht zufällig, schiessen doch autofiktionale Erzählungen aktuell buchstäblich aus dem Boden. Zwar spielen die von Annie Ernaux in der Vergangenheit ihrer Kindheit und Jugend, in der Zeit ihres Lebens, ihres Erwachsenwerdens und -seins, doch haben sie an Aktualität nichts verloren. Noch immer pendeln Menschen zwischen Klassen, noch immer ist es schwer, sozial aufzusteigen, weil es oft nicht gelingt, und wenn doch, man irgendwie nie ganz ankommt und fortan zwischen den Welten lebt. 

All das und noch viel mehr findet sich Annie Ernaux’ Büchern, Bücher, die aus dem Leben heraus entstanden sind und die in das Leben der Leser hineinwirken. 

Gedankensplitter: Herkunft, die nicht vergeht

«Die lange verleugnete Wahrheit über das, was ich war, kam zu mir zurück und zwang mir ihr Gesetz auf.»

Wir kommen in diese Welt und sie schreibt sich in uns fest. Wir gehen unseren Weg, doch nehmen wir mit, was wir unterwegs auflesen. Jean Paul Sartre schrieb in seinem Stück Saint Genet:

«Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.»

Als Existenzialist vertrat er die Meinung, dass wir sein können, wer wir wollen, dass das Leben keinen Sinn hat ausser dem, den wir ihm zuschreiben durch unser Dasein. Und doch: Wir sind, wer wir sind, auch aufgrund dessen, woher wir kommen. Und diese Herkunft prägt unser Sein bis tief in unsere Gene, sie ist in unserer Haltung, unserer Sprache, unserem Denken eingeschrieben und wirkt sich da aus. Zwar können wir die Herkunft verlassen, doch los werden wir sie nie.

Als ich Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» las, kamen mir unter der Dusche spontan folgende Zeilen in den Sinn, so dass ich diese verliess, um sie sofort aufzuschreiben:

«Es gibt Bücher, die sind für dich geschrieben. Sie tragen Sätze in sich, die zu dir sprechen, weil sie gleichsam auch aus dir sprechen. Sie scheinen dazu geschrieben worden zu sein, dass du dich in ihnen erkennst und dir endlich erklären kannst, was du bislang nur gefühlt hast, aber nicht erfassen und einordnen konntest – oder dich nicht trautest, es zu tun.»

Müsste ich ein Buch nennen, das mir wichtig ist, das mir am Herzen liegt, das ich nicht missen möchte, es wäre dieses.

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Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Suhrkamp Verlag, 2023.

Die autobiografische Erzählung von Didier Eribon, welcher zu seinen Wurzeln im Arbeitermilieu zurückkehrt, aus dem er für lange Zeit geflohen war – körperlich und geistig. Eribon verwebt autobiografische Erlebnisse mit politischen, soziologischen und psychologischen Erklärungen, er zeichnet das Bild einer Zeit und einer Gesellschaft, erläutert politische Gesinnungen und Gesinnungswechsel, legt eigene Gedanken und Verhaltensmuster offen. Ein kluges, ein tiefes, ein bewegendes, ein wichtiges Buch. Ein Herzensbuch.