Gedankensplitter: Das Schöne wollen

« Es taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unter Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem gar nicht mehr ungewollten Untergang entgegen»

Diese Worte wählte Thomas Mann 1955 in seinem «Versuch über Schiller anlässlich dessen 150. Geburtstag. Sie wären heute noch genauso passend, es scheint, die Welt ist, stillgestanden. Ich korrigiere: Die Welt hat sich (leider?) weitergedreht, doch wir Menschen sind stillgestanden und schauen ihr zu beim Untergang. Hier und da hört man ein schwaches «Man kann halt nichts tun.» Es erinnert mich immer an das «Man konnte halt nichts tun.» aus anderen Zeiten, aus dunklen Zeiten, aus Zeiten, aus denen wir offensichtlich wenig gelernt haben, schaut man sich in der Politik um.

Friedrich Schiller glaubte an die Moral, er glaubte an einen unbedingten Willen zur Moral, zu einer ästhetisierenden Moral. Indem der Mensch sich mit schöner Kunst beschäftige, finde er den Zugang zur Freiheit und zu vernünftigem Handeln, das auf moralischen Einsichten gründet. Das befördere nicht nur das Glück des Einzelnen, sondern das aller. 

Thomas Mann attestierte Schiller einen

„Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst»

Und vielleicht ist das der Weg hin zu einer Welt mit weniger Angst, zu einer Welt mit mehr Miteinander, zu einer Welt, in der der Mensch Mensch ist und als solcher zählt als Gleicher unter Gleichen. Das wäre Freiheit. Das wäre Menschenwürde. Sie stehen allen zu. 

Bringt mehr Kinder um

Ein Bild mit toten Kindern aus dem Gaza-Streifen, getötet durch einen israelitischen Raketenangriff, soll Pressebild des Jahres 2012 sein. Diese Auszeichnung lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.

Ist es wirklich angebracht, ein Bild mit toten Kindern auszuzeichnen? Heisst das nicht, dass bitte mehr tote Kinder her sollen, damit man noch mehr tolle Bilder schiessen kann? Hat sich die Presse so weit entwickelt, dass je blutiger, je grausamer, je auszeichnungswürdiger gilt? Ästhetisierung des Schreckens auf höchster Stufe. Man wird Argumente finden, klar, von wegen man müsse informieren, die Menschheit auf dem Laufenden halten. Mit Auszeichnungen für Bilder von toten Kindern?

Krieg wird seit je her ästhetisiert. Ausdrücke wie „fürs Vaterland sterben“, „sein Leben geben fürs Vaterland“ sind an der Tagesordnung. Bilder von Schlachten, niedergemetzelten Menschen, Leichenbergen gehen durch die Medien, früher wurden sie in Öl gemalt. Information ist gut. Sie ist sogar wichtig. Aber Auszeichnungen für besonders grausame Bilder zu verteilen erachte ich als dekadent. Eine Auszeichnung heisst, dass etwas besonders gut ist. Das Bild als solches mag nach Kriterien gut sein, doch könnte es dann nicht ebenso ein Blumenbild sein? Was zeichnet dieses Bild aus? Doch bloss der Schrecken. Der fällt hinter die Auszeichnung zurück. Es ist blosse Kunst. Ich schaue es an, denke wow, tolles Bild, gehe weiter im Alltag, kochen, bügeln, arbeiten, essen. Abgehakt.

Diese ganze Bilderflut, für welche auch noch Auszeichnungen verteilt werden, helfen nicht, den Schrecken des Krieges präsent zu halten. Sie helfe, ihn zum Alltag werden zu lassen. Und das Ganze wird noch ausgezeichnet. Wie alles wiederkehrt an Strömungen, hat die Dekadenz wohl grade Hochkultur.