Ulrich Schnabel: Zusammen


Wie wir mit Gemeinsinn globale Krisen bewältigen

«Kein Mensch ist eine Insel, begrenzt in sich selbst;
jeder Mensch ist ein Stück vom Kontinent, ein Teil aus dem Ganzen;» John Donne

Ulrich Schnabel ist ein wichtiges Buch gelungen. Er ruft dazu auf, uns wieder bewusst zu werden, dass wir nur gemeinsam unsere Welt zu einer besseren machen können. Er zeigt anhand von Studien und wissenschaftlichen Erkenntnissen aber auch mit Blick auf aktuelle Krisen und Probleme, dass Kooperation und Solidarität den Menschen weiterbringen als Egoismus und Selbstoptimierung.

«…die Kraft des Gemeinsinns: die Fähigkeit, sich als Teil eines grossen Netzwerkes zu begreifen und sich darauf auszurichten. Das heisst, nicht nur das eigene Wohl, sondern auch das der anderen im Blick zu haben – was letztlich alle stärker macht.»

Oft vergessen wir, dass wir durch Kooperation und Gemeinsamkeit auch selbst profitieren. Wir blenden aus, wie viele Abhängigkeiten in unserem Leben bestehen und denken, dass wir alles möglichst alleine schaffen wollen und können. Wir bilden unsere Meinung und halten an ihr fest, blenden andere aus, die anders denken, hören nicht hin und werten sie ab. Dabei vergessen wir, dass jeder nur einen begrenzten Horizont hat und der Blick über den Gartenzaun mitunter neue Welten eröffnen könnte. Während es früher noch grosse Gemeinschaftsgärten gab, in welchen alle miteinander zuständig waren und sich dadurch auch verbunden fühlten, pflegt heute jeder sein eigenes Gärtchen. Zwar mögen die Blumen gedeihen und die Freude daran gross sein, doch wir haben sie für uns allein und können sie nicht teilen. Gerade in diesem Teilen aber liegt viel Energie, soziale Energie.

«…ein solch positives Zugehörigkeitsgefühl fehlt heute vielen. Als Nebenwirkung des Individualismus erleben wir eine regelrechte Epidemie der Einsamkeit.»

Einsamkeit ist die Krankheit unserer Zeit. Wir fühlen uns in der Welt nicht mehr zuhause, fühlen uns alleine. Wir sitzen in immer kleineren Wohnungen mit immer weniger Menschen und verstehen wenig: die Welt, die anderen, teilweise sogar wir selber sind zu Mysterien geworden. Eine Entfremdung in grossen Teilen der Bevölkerung.

Gerade jetzt, in Anbetracht all der globalen Krisen, ist es wichtig, die Grenzen zu weiten und zu sehen, dass wir nur gemeinsam weiterkommen. Wir können nicht warten, bis einer kommt und uns die perfekte Lösung auf dem Silbertablett präsentiert.

«Denn es ist klar, dass die Lösung der grossen Zukunftsfragen nicht von den Geistesblitzen einzelner Genies zu erwarten ist, sondern nur im gemeinsamen Handeln entstehen kann…sowohl kommunal wie global brauchen wir die Weisheit der Vielen, mit all ihren unterschiedlichen Perspektiven, Ansichten und Ideen.»

Es geht gerade nicht darum, als gleichgeschaltete Einzelne gemeinsam zu agieren, sondern als je eigene Wesen mit eigenen Gedanken und Meinungen sich einzubringen in einen offenen Dialog, in welchem sich alle begegnen und aus der so entstehenden Vielfalt ein gemeinsames Ziel errichten, das gemeinsam anzustreben ist. Gemeinsam, so Schnabel, erreichen wir viel mehr, als viele Einzelne erreichen könnten.

Eine grosse Leseempfehlung!

Maike Weisspflug: Hannah Arendt


100 Seiten

«Amor Mundi: Handelt von der Welt, die sich als Zeit-Raum bildet, sobald Menschen im Plural sind.» Hannah Arendt

Hannah Arendt, bekannt als streitbare, energische und eigenständige Denkerin, die ohne Rücksicht und manchmal sehr schonungslos, als arrogant erscheinend ihre Meinung kundtut – man könnte denken, hier spricht eine Einzelgängerin, doch weit gefehlt. Einer der obersten Werte in ihrem Denken und Handeln (was unter dem Strich das gleiche ist) ist die Vielfalt, die Pluralität. IN ihr sieht Hannah Arendt den Motivator unseres Tuns, durch sie kann unsere Welt als eine gemeinsame erst entstehen.

«Arendts wichtigste Botschaft dabei: Zusammen-Handeln macht Spass, es stiftet Sinn, auch wenn die Lage aussichtslos erscheint.» Maike Weisspflug

Dies ist sicher eine wichtige Botschaft für die heutige Zeit, in welcher sich wieder immer kleinere Gruppen positionieren und gegen andere abgrenzen, statt gemeinsam Kräfte zu nutzen und so mehr zu erreichen.

«Der Handelnde bleibt immer in Bezug zu anderen Handelnden und von ihnen abhängig; souverän gerade ist er nie.» Maike Weisspflug

Wir scheinen vergessen zu haben, dass diese Welt immer eine geteilte ist und die verschiedenen Einzelinteressen zwar wichtig und gut sein mögen, wir sie aber allein und nur auf uns gestellt mit uns im Blick nicht umsetzen können.

«Und eine gemeinsame Welt kann, so Arendt, nur zwischen Personen entstehen, die um ihre Unterschiedlichkeit wissen – als geteilte Welt, in die viele Welten passen.» Maike Weisspflug

Die Welt, in die wir durch unsere Geburt treten, ist so, wie sie die vor uns gestaltet haben. Als Neuanfang in dieser Welt – so sieht Arendt jeden neuen Menschen – ist es an uns, unseren Faden in das Gewebe der Welt zu schlagen.

«Der Mensch ist vielmehr das, was er aus sich macht. Und zwar im Rahmen seiner Möglichkeiten und Grenzen, die Arendt die ‚menschliche Bedingtheit‘ nennt.» Maike Weisspflug

Dabei ist es wichtig, einzusehen, dass wir mit dem arbeiten müssen, was wir haben. Nicht jeder besitzt jede Fähigkeit oder Möglichkeit. Das mag ungerecht erscheinen, doch lässt es sich leider nicht in allen Belangen ändern. Besser ist, die vorhandene Energie in das zu stecken, was sich ändern lässt, um das best mögliche herauszuholen aus dem, was ist.

«Geschichten erschliessen Bedeutung, ohne etwas zu eng zu definieren.» Maike Weisspflug

Hannah Arendt ist nicht nur eine tiefgründige und analytische Denkerin, sie ist eine begeisterte Geschichtenerzählerin. Ihre Bücher sind gespickt mit Literaturbezügen und auch selbst greift gerne zur Geschichte statt trockener Theorie.

Maike Weisspflug hat sich dieser Denkerin auf 100 Seiten angenommen. Ein denkbar kleiner Ramen für ein so immenses Werk, zu dem schon 1000e von Seiten geschrieben worden sind. Aber genau in dieser Kürze liegt auch der Wert dieses Büchleins. Es geht der Frage nach, wie Hannah Arendt heute noch gelesen werden kann? Wie passen ihre Theorien und Ideen in die heutige Zeit?

«Arendt kann ich solchen Momenten wie eine gute Freundin sein, die mir hilft, wieder in einen anderen Denkmodus zu kommen.» Maike Weisspflug

Maike Weisspflug geht diesen Fragen anhand von Arendts wichtigsten Werken und Gedanken nach und versucht so, Arendts Relevanz auch in Bezug auf heutige Probleme aufzuzeigen. Dass in der Kürze keine wirkliche Tiefe erreicht werden kann, liegt auf der Hand, allerdings bietet das Buch Inspirationen und Ansporn zur eigenen Lektüre. Schön wären genauere Stellenangaben zu einzelnen Zitaten gewesen, aber das wäre auf Kosten von Lesbarkeit und Platz gegangen, so dass sich das Fehlen verschmerzen lässt. Ein gelungener Versuch und gut abgerundet durch weiterführende Literatur.

Ingeborg Gleichauf: Hannah Arendt und Karl Jaspers


Geschichte einer einzigartigen Freundschaft

«…als ich jung war, waren Sie der einzige Mensch, der mich erzogen hat. Als ich Sie nach dem Krieg als erwachsener Mensch wiederfand und eine Freundschaft zwischen uns entstand, haben Sie mir die Garantie für die Kontinuität meines Lebens gegeben. Und heute ist es so, dass ich an das Haus in Basel wie an die Heimat denke.»

Das schreibt Hannah Arendt in einem Brief an Karl Jaspers. Sie, die in so vielen Bereichen ihres Lebens Brüche und Verluste erlebte, fand in der Freundschaft zu ihrem früheren Professor, Doktorvater und später Freund und Vertrauten einen Menschen, der ihr ein Stück Lebensverbundenheit und Rückhalt bot, ein Gefühl von Dauer und Beständigkeit.

Er war ihr Mentor, ihr Professor, sie schreibt von Erziehen, doch die Verbindung der beiden, die enge Freundschaft über viele Jahrzehnte, war eine auf Augenhöhe. So schreibt er denn in seiner philosophischen Autobiografie:

«Mit ihr konnte ich noch einmal wieder auf die Weise diskutieren, die ich mein Leben lang begehrte… in der vollkommenen Rückhaltlosigkeit, die keine Hintergedanken zulässt – in dem Übermut, sich vergaloppieren zu dürfen, da es korrigiert wird und selber etwas anzeigt, das sich lohnt, in der Spannung vielleicht tief gegründeter Differenzen, die doch umgriffen sind von einem Vertrauen, das auch sie offenbar zu werden erlaubt, ohne dass die Neigung gemindert würde…»

Ingeborg Gleichauf hat sich dieser Beziehung angenommen. Anhand von verschiedenen Themen erzählt sie von der Freundschaft in Briefen und Gesprächen zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers, weist auf Gemeinsamkeiten und Gegensätzlichkeiten hin, belegt diese mit Passagen aus dem Werk der beiden. Die Autorin erweist sich dabei als durchaus belesen und kompetent, doch die beiden Menschen, um die es geht, bleiben seltsam blutleer.

Die einzelnen Kapitel sind wie Perlen auf einer Kette aneinandergefügt ohne Verbindung. So erfährt man mehr über einzelne Ansichten als die Menschen dahinter und deren Beziehung zueinander. Das ist durchaus interessant, in der Kürze aber nicht umfassend und leider am erwarteten Thema etwas vorbei.

Trotzdem ist ein aufschlussreichendes, anregendes Buch entstanden, das Lust macht, in die Werke der beiden Protagonisten einzutauchen, mit ihnen ins Gespräch zu treten, wie Gleichauf es immer wieder propagiert, leider aber zu wenig tut.

Alois Prinz: Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt.


Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

«Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […], immer wie ein Wunder an.»

Viele Philosophen sehen das Leben als Weg zum Tod. Philosophieren, so ein bekannter Ausspruch, heisst, sterben lernen. Hannah Arendt legt den Schwerpunkt nicht auf die Mortalität, sondern auf die «Natalität». Die Geburt ist für sie der Moment, in dem etwas Neues in die Welt kommt. Sie ist ein Anfang, der mit jedem neuen Menschenwesen gemacht wird. Dieser Blick aufs Menschsein zeigt sich auch in ihrer Definition von Gesellschaft, die sich immer nur als pluralistische sehen kann. Ein jeder Mensch hat darin in seinem So-Sein seinen Platz. Die Welt existiert nur als Geschaffene, sie ist das Dazwischen, das, was die verschiedenen Menschen zwischen sich durch Kommunikation errichten.

Wir schaffen uns unsere Welt, indem wir mit anderen in einen Dialog eintreten. Der Diskurs, die Auseinandersetzung mit anderen war es denn auch, was Hannah Arendt immer am Herzen lag. Und sie war unerbittlich. Sie sagte selbst einmal, sie sei eine Axt. Sie mied keine Auseinandersetzung, dachte «ohne Geländer» und redete niemandem nach dem Mund. Ihre unabhängige Denkart war ihr heilig.

«Immer noch scheint es mir unglaubhaft, dass ich beides habe kriegen können, die ‚grosse Liebe‘ und die Identität mit der eigenen Person. Und habe doch das eine erst, seit ich auch das andere habe. Weiss nun endlich auch, was Glück eigentlich ist.»

Es war eine grosse Liebe und eine ebensolche Verbundenheit zwischen Heinrich Blücher und Hannah Arendt. Er war der erste, mit dem sie ihre Gedanken diskutierte, die sie in ihren einsamen Denkmomenten mit sich selbst ausgemacht hatte.

«Lieber Liebster, das einzig Gute ist, dass ich schön klar weiss, wie ich zu dir gehöre.»

Er war es, der ihr immer Halt war, von ihm getrennt zu sein, war nie einfach, so dass sie die getrennten Zeiten mit vielen Briefen füllten, die hin und her flogen. Wie sie einmal ohne ihn leben solle, wisse sie nicht. Das sagte Hannah Arendt und musste es doch lernen, als Heinrich an einem Herzinfarkt starb.

Hannah Arendt stürzt sich wieder in die Arbeit, obwohl ihr die Ärzte mehrfach zum Ruhigertreten raten. Am 4. Dezember 1975 stirbt sie an einem Herzinfarkt. Hans Jonas fand diese Worte zum Abschied:ß

«Du hast die Treue gehalten, du warst immer da. Wir sind ärmer ohne dich. Die Welt ist kälter geworden ohne deine Wärme. Du hast uns zu früh verlassen. Wir werden versuchen, dir die Treue zu halten.»

Fazit zum Buch von Alois Prinz:
Ein kompetenter, gut lesbarer Einblick in das Leben und Schaffen einer der grössten Philosophinnen des letzten Jahrhunderts. Alois Prinz gelingt es, Leben und Werk in die Zeitumstände einzubetten und die Geschichte dieser Denkerin auf gut lesbare und doch kompetente Weise zu erzählen.

Bücherwelten: Barbara Bleisch – Mitte des Lebens

Kennt ihr das? Ihr wollt ein Buch so sehr mögen, weil ihr den Autor, die Autorin mögt, doch es wird schwierig?

So ging es mir mit diesem Buch. Die Mitte des Lebens. Da stecke ich gerade. Ich wäre die prädestinierte Zielgruppe. Doch es erreichte mich nicht. Barbara Bleisch nimmt sich der Mitte des Lebens an, einem Thema, das aktuell zu boomen scheint neben dem Alter danach. Ist sie Fülle oder nahendes Ende? Krise oder Aufbruch zu Neuem?

Entstanden ist ein teilweise persönliches Buch mit philosophischem Anspruch. Es ist ein Buch, das viele zitiert. Es werden mögliche Erklärungen für Befindlichkeiten geliefert, Sichtwechsel propagiert, Dankbarkeit und Genügsamkeit empfohlen. Es gibt für dieses Buch sicher ein Publikum, es ist gut lesbar geschrieben, man merkt, die Autorin ist belesen, kompetent, persönlich betroffen. Nur leider: Es war schlicht nicht für mich. Ich fand nichts Neues darin. Es war mir zu wenig lebenspraktisch und ebenso zu wenig philosophisch. Vielleicht war der Anspruch, beides abdecken zu wollen, hoch gegriffen. Was mich schmerzt: Ich wollte es so gerne mögen. Vielleicht, weil ich kurz vorher ein Interview mit ihr gehört habe und das so toll fand. Im Interview fand ich mich wieder. Im Buch leider nicht.

Habt ihr das Buch schon gelesen? Wie ging es euch damit?

Jagoda Marinić: Sanfte Radikalität

«Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu schaffen.»

Das sagte Hermann Hesse und weist damit darauf hin, wie sehr wir uns mit unserem Grenzdenken selbst beschränken. Wie oft schauen wir auf die Welt und denken: „Es ist unmöglich, da etwas zu verändern.“ Oder wir sehen Missstände in der Gesellschaft und geben schon auf, bevor wir Lösungen gesucht haben, weil wir denken, dass die Strukturen nicht zu verändern sind. Wir vergessen dabei, dass diese Strukturen nicht durch eine Naturgewalt entstanden sind, sondern von Menschen gemacht wurden. Und was der Mensch macht, kann der Mensch auch verändern. Dies war auch die Ausgangslage von Jagoda Marinić. Sie wollte nicht nur in der Theorie verharren, sondern etwas auf die Beine stellen. Praktisch. Für Menschen. Ein interkulturellen Zentrums in Heidelberg.

Ein grosser Motivator war die Hoffnung: Denken, dass es möglich ist. Es gab viele Steine auf dem Weg, sie stiess auf kritische Stimmen, Ablehnung und Beleidigungen. Statt mit Wut und Hass zu reagieren entschied sie sich für eine Haltung, die zwar durchaus radikal die Ziele verfolgt, dies aber auf eine gemässigte, leise Weise. Sie suchte den Dialog, hielt durch, war beharrlich. Und es gelang. Von all dem handelt ihr neues Buch «Sanfte Radikalität».

«Sanfte Radikalität, das ist für mich die Entscheidung, eine Idee oder ein Projekt wirklich in die Welt zu bringen, statt Radikalität nur dafür zu nutzen, jene anzuprangern, die anders denken.»

Jagoda Marinić ist der Überzeugung, dass

«Zustände, die sich verändern sollen, nicht besser werden können, wenn die Menschen, die sie verbessern wollen, auf dem Weg dorthin ihre Werte und ja, ihre Sanftmut verlieren.»

In vielen jüngeren Schriften wird Wut gelobt als Motivator, etwas zu bewegen, gegen Missstände aufzubegehren. Dabei passiert es oft, dass sich Fronten mehr und mehr verhärten, weil die, welche mit Wut angegangen werden, nicht einfach anhören, was die Wütenden zu sagen haben, sondern ihre Schutzschilder, die meist aus Gegenschlägen bestehen, hochzuhalten. Auf beiden Seiten wüten dann die Emotionen, die Wut ist das Öl ins Feuer des destruktiven Konflikts, sie verunmöglicht einen sachlichen und konstruktiven Dialog und damit auch die Möglichkeit eines Wandels. Aus dieser Einsicht heraus ging Jagoda Marinić einen anderen Weg:

«Ich brauchte meine Klarsicht, um meine Fähigkeiten zusammenzuhalten, um das, was ich als Möglichkeitsraum sah, zu betreten und meine Kritik an Missständen in etwas Konstruktiveres zu verwandeln.»

Die Welt mag heute wie ein oftmals düsterer Ort erscheinen, in dem viel Unrecht und Leid herrschen. Statt mit Blick darauf zu verzweifeln und Schuldige zu suchen, dürfen wir die Hoffnung nicht verlieren, dass wir die Dinge nicht so lassen müssen, dass wir sie verändern können. Das schaffen wir nur in einem Miteinander. Es gilt also, sich zu verbinden statt immer neue Fronten zu schaffen oder bestehende zu verhärten.

«Wer Wandel will, muss jene finden und gewinnen, die für eine Sache zu begeistern sind, statt auf Radikales mit derselben Art von Radikalität zu antworten.»

Dabei ist jeder aufgefordert.

«Der Einzelne kann immer auch Verantwortung übernehmen, statt anderen nur vorzuwerfen, dass sie die Dinge nicht so tun, wie man es selbst richtig fände.»

Hannah Arendt: Über Palästina

«Unmittelbar vor den Grenzen des Staates Israel gibt es rund eine Million Menschen, die aus ihren Häusern, von ihren Bauernhöfen und Arbeitsplätzen vertrieben wurden. Sie leben hauptsächlich von den Almosen einer provisorischen und unzureichend finanzierten UN-Organisation in erzwungener Untätigkeit, Frustration und Verbitterung, mehr als ein Drittel davon in Flüchtlingslagern.»

Es geht weiter:

«Doch nicht nur der Frieden im Nahen Osten ist gefährdet. Die ganze Welt lebt im Schatten einer nuklearen Katastrophe.»

und kommt zum Schluss:

«Eine Lösung dieses Problems ist (natürlich unter anderem) für die Sicherheit der ganzen Welt nötig.»

Wenn man bedenkt, dass Hannah Arendt diesen Text 1958 geschrieben hat, und dann auf die Welt heute schaut, zeigt sich, wie wenig sich zum Guten getan hat (im Gegenteil) und wie aktuell Hannah Arendt auch heute noch ist. Ihre Analyse der Problemstellung ist konzis und differenziert. Sie beleuchtet die Situation aller Beteiligter und weist auf die grössten Herausforderungen hin. Sie bleibt dabei aber nicht bei der blossen Theorie und Analyse und Theorie stehen, sie denkt auch über eine mögliche Lösung nach.

«Das gegenwärtige Problem kann nicht gelöst werden, indem man über die relative Legitimität von Eroberungsansprüchen von vor dreitausend, tausend oder zehn Jahren diskutiert… Die einzigen Ansprüche, die uns an dieser Stelle interessieren, sind die Rechte der Flüchtlinge auf ein würdevolles und normales Leben, sowie die Rechte des Nahen Ostens und der ganzen Welt auf ein höheres Mass an Sicherheit für alle Menschen.»

Hannah Arendt präsentiert in der Folge einen Plan mit 23 Punkten, der zu einer Lösung führen soll. Er gewährleistet, dass keine Nation das Gefühl hat, bedroht zu sein, gibt den Flüchtlingen ein Zuhause zurück und soll den Frieden im Nahen Osten gewährleisten. Wichtig dabei ist Hannah Arendt, wie es ihrer Philosophie eigen ist, der Dialog zwischen den Beteiligten. Es soll keine Lösung am Tisch gezeichnet und über das Ganze gestülpt, sondern in einem Miteinander soll eine solche geschaffen werden.

Wer weiss, wie die Lage im Nahen Osten aussähe, hätte man Hannah Arendts Punkten damals Gehör geschenkt. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Was Hannah Arendt schreibt, könnte auch heute noch zu einer Lösung beitragen – wenn nur die Beteiligten und Betroffenen ein Interesse daran hätten.

Das Buch hat mit betroffen und nachdenklich zurückgelassen. Und es hat mir einmal mehr gezeigt, was für eine grossartige Denkerin Hannah Arendt war. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.

Susan Sontag: The Doors und Dostojewski

«Das meiste, was ich tue, ist entgegen landläufiger Auffassung intuitiv und unreflektiert und ganz und gar nicht intellektuell und berechnend… Ich folge einfach meinen Instinkten und Eingebungen.»

Das schreibt Susan Sontag, von der man eine solche Aussage wohl kaum erwarten würde, gilt sie doch als Intellektuelle par excellence. Es ist nicht die einzige Stelle in diesem langen Interview, welche Susan Sontag in einem neuen Licht erscheinen lässt. Offen spricht sie über ihre Krankheit, ihr Schreiben und ihr Leben. Immer wieder lässt sie mich beim Lesen innehalten, nach- und weiterdenken. Ich habe das Gefühl, ich komme ihr näher, entdecke neue Facetten dieser grossartigen Frau. Und oft spricht sie mir auch aus dem Herzen, so dass ich eine Verbundenheit fühle.

Ein Satz, den ich mitnehme aus diesem Buch, ist der:

«Interpretieren heisst die Welt arm machen.»

Er erinnert mich daran, wie schnell wir dabei sind, die Dinge zu interpretieren, ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben, die wir dann als einzig wahre akzeptieren und damit all die Möglichkeiten, die es auch gegeben hätte, die Dinge zu sehen, ausblenden. Was für eine Verarmung, was für eine Einschränkung.

Habt einen schönen Tag!

Leseerlebnisse – Michaela Kastel: Verirrt

«Schmerz. Es gibt unterschiedliche Arten davon. Manchmal tut es weh, obwohl überhaupt nichts verletzt ist. Der Schock und die Scham reichen dann aus, um den letzten Widerstand in dir zu brechen. Um dich niederzuringen, ganz tief nach unten, bis du Dreck unter den Füssen anderer bist. Und dann gibt es den richtigen Schmerz. Schmerz, der dich Farben sehen lässt, meistens Rot. Ich weiss nicht, welcher Schmerz schlimmer ist. Welcher dich mehr zerstört, jedes Mal aufs Neue.»

Von ihrem Mann geprügelt flüchtet Felizitas mit ihrer Tochter zu ihrer Mutter. 12 Jahre haben sie sich nicht gesehen, noch immer sind die Monster präsent, die sie damals von zu Hause weggehen und nie mehr wiederkehren liessen. Nun ist es die einzige Zuflucht. Und noch immer sind da diese offenen Fragen, die Ängste, die Gefahren -und die grosse Frage: Wird ihr Mann sie finden? Und: Wem kann sie trauen? Wer sind die wirklichen Monster?

„Das Problem ist, du willst es nicht glauben. Du erfindest Erklärungen, wo es keine mehr geben kann. Du redest dir ein, dass es nur ein blöder Scherz war. Dass er sich im Ton vergriffen hat, passiert doch jedem mal. Alles bist du bereit zu tun, um dich selbst vor der Wahrheit zu bewahren. Um zu retten, was längst verloren ist. So schwach und erbärmlich bist du, wenn du dich in der Gewalt eines anderen befindest.“

Häusliche Gewalt ist leider keine Fantasie, sie passiert in unserer Realität immer wieder. 250’000 Menschen sind 2023 Opfer von häuslicher Gewalt geworden. Oft passiert sie im Geheimen, im Versteckten. Meist sind Frauen und auch Kinder die Betroffenen. Und sie schweigen. Aus Angst, noch mehr davon erleiden zu müssen. Aus Angst, dass ihnen niemand glaubt. Weil sie die Gewalt kennen, alles andere neu wäre und dadurch Angst macht. Und teilweise glauben sie auch, die Gewalt zu verdienen, weil sie sind, wie sie sind. Weil ihnen das regelrecht eingeprügelt wird von denen, die die Gewalt ausüben.

«Zweifel überfallen dich schneller, als dir lieb ist, wenn das Wetter dich zwingt, innezuhalten und dich mit deinem Vorhaben auseinanderzusetzen.»

Michaela Kastel hat das Thema der häuslichen Gewalt aufgegriffen. Ihre Protagonistin erlebt sie und fasst den Mut, ihren Mann und Peiniger zu verlassen. Trotz der Angst. Sie nimmt ihre Tochter in einer Nacht mit und flieht zu ihrer Mutter. Leider ist nun nicht alles gut. Neben der Angst, gefunden zu werden, muss sich Felizitas auch den Monstern ihrer Vergangenheit stellen. Es sind die Monster, mit denen ihre Mutter sie die Kindheit hindurch verunsichert hat. Die Monster, die nun erneut ihr Leben zu überschatten drohen.

„Ich will nicht länger in diesem Vergessen leben. Ich will mich wieder erinnern. An diejenige, die ich einmal war. Die niemals Teil dieses Wahnsinns geworden wäre, hätte die Liebe nicht alles kaputt gemacht.“

«Verirrt» ist ein spannender, rasanter Thriller, der in die menschlichen Abgründe blickt. Themen wie Vertrauen, Angst, Gewalt und Prägungen der Kindheit werden aufgegriffen, führen als Fäden durch die Geschichte und werden am Schluss aufgelöst. Eine grosse Leseempfehlung.

(Michaela Kastel: Verirrt, Wilhelm Heyne Verlag, München 2024.)

Leseerlebnisse – Benedict Wells: Die Geschichten in uns

Vom Schreiben und vom Leben

«Denn Erzählen, ob mündlich oder schriftlich, holt uns vielmehr erst in die Welt. Es macht uns greifbar und gibt uns die Möglichkeit, das Erlebte zu teilen.»

Nicht nur der Untertitel erinnert an Stephen Kings Buch «Das Leben und das Schreiben», das ganze Buch tut es. Trotzdem ist es nicht einfach eine Kopie. Benedict Wells schreibt offen wie nie über sein Aufwachsen, über seinen Weg hin zum Schriftsteller, der er heute ist. Er schreibt von seinen Plänen, von der Umsetzung, schreibt davon, wie ein Roman entsteht bei ihm und woran er anfangs scheiterte. Ein ehrliches, ein tiefgründiges, ein persönliches Buch.

«Ich habe Geschichten erfunden, weil ich meine eigene lange nicht erzählen konnte.»

Wenn die eigene Geschichte keine leichte ist, fällt es oft schwer, genauer hinzuschauen. Es braucht eine Distanz, die den Schmerz mildert, der zu befürchten ist, wenn man noch in das Vergangene hineinsticht. Und das muss man, will man davon erzählen. Benedict Wells hat Zeit gebraucht, seine eigene Geschichte zu erzählen. Er hat sie hinter sich gelassen und doch immer wieder an ihr entlang geschrieben, indem die Themen seiner Bücher immer um die Themen kreisten, die auch ihn über all die Jahre seines Aufwachsens geprägt haben.

«Wenn ich keine Worte für meine tieferen Gefühle habe, empfinde ich sie überhaupt? Weiss ich dann wirklich, wer ich bin, oder bleibe ich mir am Ende ein Schatten?»

Dass das so ist, hat er nicht selbst gemerkt. Erst als ihn Leser und Freunde darauf hinwiesen, dass in allen seinen Büchern die Einsamkeit ein zentrales Thema war, fiel es auch ihm auf. Irgendwann beschloss er, nun eine Weile keinen Roman mehr zu schreiben. Das war der Moment, an dem er sich für seine eigene Geschichte öffnete. Die Zeit war wohl reif dafür. Entstanden ist dieses wunderbare Buch, in welchem er einen wirklich offenen Blick gewährt auf seine Kindheit, auf sein Aufwachsen, auf seine Hintergründe, die ihn zu dem Schriftsteller werden liessen, der er ist.

«Ich habe Schreiben gelernt, um Gefühlen nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern sie ins Bewusstsein zu holen und mit Menschen zu teilen, die mir wichtig sind.»

Neben dem Blick auf sein Leben gewährt er auch einen auf sein Schaffen. Er schreibt über seinen Prozess von der Idee hin zum fertigen Buch, schreibt von seinen Schwierigkeiten, Niederlagen, von seinem Scheitern und auch vom Erfolg. Entstanden ist ein wunderbar tiefes, ehrliches und authentisches Buch.

«Und so haben wir alle unsere charakterlichen Defizite und Stärken, die sich auf unseren Arbeitsprozess auswirken. Es bringt nichts, sich zu vergleichen und von Hand zu schreiben, nur weil die Lieblingsautorin das macht.»

Wer hofft, mit diesem Buch nun den ultimativen Ratgeber für das Schreiben eines eigenen Buches zu haben, den wird das Buch enttäuschen. Zwar legt es den Schreibprozess von Wells offen, zeigt seinen Werkzeugkasten, zeigt, wie er arbeitet und was auf dem Weg vom ersten Gedanken hin zum fertigen Buch alles zum Einsatz kommt, doch ist es eben genau das: Der Schreibprozess von Benedict Wells. Es gibt wohl so viele Möglichkeiten, ein Buch zu schreiben, wie es Schriftsteller gibt. Jeder muss für sich herausfinden, was am besten passt.

«Es gibt keine todsicheren Tipps für das Schreiben, nur Übung und das Sammeln von Erfahrung.»

(Benedict Wells: Die Geschichten in uns. Vom Leben und vom Schreiben, Diogenes Verlag 2024.)

Leseerlebnisse – Oliver Thalmann: Mord im Landesmuseum

«Monti war sich sicher, dass es das Richtige war, aber es fühlte sich trotzdem nicht gut an. «Was kann man gegen die Wahrheit tun?» Urech seufzte: «Man muss sie akzeptieren, sonst frisst sie einen auf.»

16 Jahre lebte ich in Zürich, es war eine schöne Zeit und ich lernte die Stadt nach gewissen Startschwierigkeiten lieben. Es fühlte sich also an wie Heimkommen, als ich in diesen Krimi eintauchte. Ich kannte die Lokationen, ich sah sie vor mir. Damit hatte das Buch sprichwörtlich einen Heimvorteil bei mir, den es aber gut nutzte.

«Nun beging er den gleichen Fehler wie das Rotkäppchen im Märchen der Brüder Grimm: Er kam vom Weg ab.»

«Mord im Landesmuseum» ist der dritte Krimi von Oliver Thalmann. Fabio Monti muss zuerst in fremden Gewässern, da er sich statt mit Mord mit einem Diebstahl beschäftigt, doch das soll sich bald ändern:

Fabio Montis Schwiegervater, der renommierte Anwalt Christian Huber, bittet ihn um Hilfe: Monti soll den Besitzer des Bildes „Rotkäppchen“ von Albert Anker ausfindig machen. Er hatte es vor Jahren erworben und seiner Frau geschenkt, musste es dann wegen Geldsorgen wieder veräussern. Nun soll es in die Familie zurückkommen als Geschenk für seine Frau. Kurz darauf verschwindet just dieses Bild aus einer Ausstellung im Landesmuseum, wo es als Leihgabe hing, wenig später wird dessen Besitzerin umgebracht. Wie hängen der Raum und der Mord zusammen? Als auch noch der Kurator der Ausstellung verschwindet und ein Erpresserbrief auftaucht, tappen die Ermittler vollends im Dunkeln: Welches Motiv steckt hinter all dem und wer hat ein Interesse? Monti ahnt noch nicht, dass die Aufklärung dieses Falls auch für ihn gefährlich werden kann. 

Da haben wir ihn also, diesen grundsoliden Ermittler, der die persönlichen Emotionen aussenvor lässt und im Wissen, sich selbst das eine oder andere Grab zu schaufeln, der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Dass er selbst dabei die eigene Befangenheit und einiges mehr ignoriert, sei ihm vergeben bei so viel Einsatz. Ich glaube, ein solcher Krimi geht nur in der Schweiz, wie anders sähe er in Italien oder Spanien aus – man schaue nur auf die entsprechenden Krimis und ihre Plots und Nebenplots. Krimis, das liebe ich an ihnen, sind immer auch ein Spiegel der Kultur und der Gesellschaft. Sie decken Mentalitäten und Verhaltensmuster auf, weil sie die Situationen thematisieren, in welchen diese am besten ans Licht kommen: Konflikte zwischen widersprüchlichen Wünschen und Bedürfnissen.

Ein solider Krimi, den ich flüssig weggelesen habe und nun gespannt bin, wie es mit Monti weitergeht. Da muss ich mal nachfragen beim Autor – seid gespannt.

(Oliver Thalmann: Mord im Landesmuseum, emons Verlag, 2024.)

Ina Haller: Aargauer Grauen

Nach ein paar blutigen Thrillern tauchte ich in diesen Krimi ein und dachte erst, nun ein paar gemütliche Lesestunden vor mir zu haben. Weit gefehlt. Ich hätte es wissen können, ist «Aargauer Grauen» doch nicht der erste Krimi rund um Andrina, die sich immer wieder mittendrin in einem Verbrechen befindet und dieses dann auf eigene Faust aufzuklären versucht, wodurch sie selbst in Gefahr oder Verdacht (oder beides) gerät. Immerhin ist sie bei ihren Ermittlungen nie allein, neben Enrico, ihrem Mann, helfen auch ihre Freunde tatkräftig mit, so dass kein Täter ungestraft davonkommt.

«Andrina erblickte Gregor Hartmann auf dem Bett. Er lag auf dem Rücken und starrte mit aufgerissenen Augen zur Decke. Der Mund war wie zu einem Schrei geöffnet.»

Was ich sehr mag an einem Krimi: Die Geschichte nahm schnell Fahrt auf und bald schon fand ich mich atemlos blätternd auf dem Sofa. Worum geht es:

Ein Mitarbeiter aus Enricos Pharma-Unternehmen wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Bald stellt sich sein Tod als Mord durch eine Spinnenbiss heraus. Als kurz darauf Medikamente aus der Firma verschwinden, beschliessen Enrico und Andrina, die Sache selbst zu verfolgen, womit sie jemandem gewaltig auf die Füsse stehen und selbst in Gefahr geraten. Zudem stehen sie bei der Polizei plötzlich im Verdacht, selbst etwas mit allem zu tun zu haben.

„Halte dich lieber von ihr fern. Sie ist nicht die, die sie zu sein scheint.“

Zeitweise fand ich, die Autorin gibt zu viele Zeichen auf den möglichen Täter, doch streute sie gleich hinterher auch wieder Zweifel. Die Auflösung war dann sehr überraschend, mein vielleicht einziger Kritikpunkt.

Ein solider, spannender Krimi mit plastischen Figuren, authentischen Schauplätzen, die ich gut kannte, da ich selbst einmal in Aarau wohnte, und einem guten Plot.

(Ina Haller: Aargauer Grauen, Emons Verlag, Köln 2024)

Leseerlebnis – Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels

«Ringsum wogten Bäume, als Saint die Zweige einer Weide teilte und auf Wurzeln stiess, die wie grosse Hände aus der Erde ragten und bei jedem Schritt zur Vorsicht mahnten.»

Was für eine Sprache! Sie hat mich gleich in ihren Bann gezogen. Dafür, das soll hier erwähnt sein, ist auch der Übersetzerin Conny Lösch ein grosses Lob auszusprechen: Eine grossartige Arbeit!

Wir schreiben das Jahr 1975. In malerischen Bildern führt mich Chris Whitaker in die Welt von Saint Brown ein, entwickelt eine Stimmung, die das bevorstehende Unheil anklingen lässt. Und dann passiert es: Saints bester Freund Patch wird entführt, als er Misty Meyer rettet, auf die es der Mann im Van eigentlich abgesehen hat. Danach ist nichts mehr, wie es war. Saints Gedanken sind bei Patch, sie will ihn wiederfinden und forscht auf eigene Faust. Ein Jahr wird es dauern, dann wird Patch gefunden. Er war nicht allein festgehalten worden, mit ihm war ein Mädchen eingesperrt, Grace. Weil von ihr jede Spur fehlt, glaubt ihm niemand, die Polizei denkt, er hätte Grace erfunden. Patch will nicht länger ruhen, bis er Grace gefunden hat.

Saint, die all ihre Kräfte in die Suche nach Patch gesteckt hat, ist verletzt in ihrer Liebe und Freundschaft, trotzdem hilft sie ihm. Die Suche wird über dreissig Jahre dauern.

Chris Whitaker ist ein Meister im Erzählen. Er entwirft Figuren, die lebendig und authentisch sind, die sich in ihren Sehnsüchten, Wünschen, Eigenheiten zeigen und ihre ganz eigene Sprache sprechen. Er schafft es, Landschaften und Begebenheiten so zu beschreiben, dass man sich mittendrin wähnt. Er zeichnet das Bild einer amerikanischen Kleinstadt mit all ihren Energien und Dynamiken, indem er den Leser einfach mittenhineinführt und teilhaben lässt.

«In den Farben des Dunkels» ist ein episches Werk von 592 Seiten. Es ist Gesellschafts- und Charakterstudie, Coming of Age Roman, Krimi und Thriller in einem. Es handelt von Freundschaft, von Loyalität, vom Erwachsenwerden, von Familie und Zugehörigkeit und vor allem von Freundschaft und Liebe. Und über alles zieht sich diese eine Frage: Was ist damals passiert, als das Leben so vieler Menschen von einem Tag auf den anderen in ein Davor und ein Danach eingeteilt wurde. Trotzdem steht die Aufklärung des Falls nicht im Vordergrund, vielmehr geht es um die Menschen und wie sie mit dem Erlebten umgehen, es geht darum, was Menschen bewegt und wie sie traumatische Ereignisse verarbeiten.

Dass ein so dickes Buch seine Längen hat, bleibt nicht aus, doch wie so oft ist es wohl auch hier: Was dem einen zu lange ist, in dem schwelgt der andere. So oder so: Eine absolute Leseempfehlung.

(Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels, Piper Verlag, München 2024.)

Leseerlebnisse – Max Bentow: Der Federmann

«Unsere Ängste können uns beherrschen und unser Verhalten bestimmen. Wir müssen uns ihnen stellen. Nur so gewinnen wir die Kontrolle zurück.»

Ich hüpfe lesend von einem zum anderen, der Erzählfluss stoppt immer wieder schnell, um an einer anderen Stelle wieder einzusetzen. Die einzelnen Figuren bleiben mir so anfangs fremd, ich lese ihre Namen, sehe, was sie tun, doch ich komme ihnen nicht näher, weil sie immer wieder zu schnell verschwinden. Auch die Handlung bleibt an der Oberfläche. Es passiert einiges, auch Grausames, doch es geht nicht tief, ich kann es nur zur Kenntnis nehmen, weil es sich nicht setzt, da ich schnell wieder an einem anderen Punkt bin. Und doch zieht mich die Geschichte mit. Worum geht es?

Sie sind alle jung, blond und schön. Er schneidet ihnen die Haare ab, zerfleischt ihren Körper mit Messern, hinterlässt als Markenzeichen einen ausgeweideten Vogel ohne Federn. Der Berliner Kommissar Nils Trojan muss diesen verrückten Serientäter finden, bevor noch eine Frau sterben muss. Dass seine eigene Tochter in das Beuteschema passt, erhöht den Druck, zudem war da diese Warnung, dass auch Trojan selbst das alles nicht überleben wird. Blutig, temporeich und von der ersten bis zur letzten Seite packend.

Das scheint das neue Erzählen zu sein, dieser Wechsel von einer Perspektive zum nächsten, dieses Hin- und Herfliegen zwischen Personen und Orten und teilweise auch Zeiten (das hier zum Glück nicht auch noch). Und ja, ich mag es nicht, ich bin wirklich ein Fan der schön linearen Erzählweise, in der ich dem Geschehen ununterbrochen folgen kann. Vielleicht habe ich mich mittlerweile ein wenig daran gewöhnt, so dass ich nicht gleich abbreche, sondern durchhalte, aber nach kurzem Stöhnen begab ich mich in die Geschichte und folgte ihr trotz einiger sehr abrupter Wechsel gut. Die Wechsel sollen wohl der Spannung dienen, ich frage mich nur, ob das a) wirklich klappt und b) nicht ein billiger Trick ist, um komplexere Techniken vermeiden zu können.

Max Bentow kennt den Werkzeugkasten des Thriller-Schriftstellers und nutzt die ihm zur Verfügung stehenden Mittel gut. Wir haben die steigende Spannung, die Twists, die persönliche Gefahr, den Wettkampf mit der Zeit und schlussendlich ein Finale, in dem nochmals alles an einen Höhepunkt kommt. Auf diese Weise erzählt er einen soliden, teilweise gruslig blutigen Thriller. Zum Glück werden mit der Zeit auch die Figuren erfahrbarer, zumindest die Hauptfigur offenbart ihre menschlichen Seiten, die anderen erzählen immerhin davon, dass sie welche haben.

«Auch Du wirst sterben, Trojan.»

Diese Drohung wurde zum Glück nicht wahr. Dieses war der erste Streich, sprich, der erste Band der Reihe um den Kommissar Nils Trojan. Das Schöne daran, Reihen erst lange nach ihrem ersten Band zu beginnen ist, dass auf einen Schlag ganz viele weitere Bände auf einen warten. Das ist ein bisschen wie beim Streamingdienst: Früher musste man bei Krimiserien eine Woche warten, um die nächste Folge sehen zu können, heute kann man sich in einer Nacht ganze Staffeln einverleiben. Sicher ist: Ich bleibe dran, meine Zeit mit Nils Trojan ist noch nicht zu Ende.

Vincent Kliesch: Auris. Tödlicher Schall

Nach einer Idee von Sebastian Fitzek

«Wenn dein Leben eine einzige Show ist, dann lassen wir die Show doch einfach in die nächste Runde gehen. Nur dass du dieses Mal nicht der Regisseur bist, sondern das Versuchskaninchen.»

Man stelle sich vor, man ist vom Leben verwöhnt. In ein reiches Elternhaus hineingeboren, die nötige Intelligenz zur erfolgreichen Schulkarriere hat man dabei mitbekommen und zusätzlich noch eine herausragende Fähigkeit, die einen von den anderen abhebt. Im Falle von Matthias Hegel ist das sein absolutes Gehör. Der Phonetiker ist durch diverse Fälle der Vergangenheit zu einem kleinen Star geworden, was natürlich Neider auf den Plan ruft – allen voran Veith Vries, ehemaliger Freund und nun erbitterter Feind Hegels, der langsam vom Genie in den Wahnsinn abgleitete. Jahrelang hegte er einen Hass gegen Hegel, doch als bei ihm Krebs diagnostiziert und sein Leben nur noch kurz dauern wird, hat er nichts mehr zu verlieren und ersinnt ein perfides Spiel, um an Hegel Rache zu üben. Der Weg zum Finale ist mit Leichen gepflastert, es gibt nur einen, der Vries gewachsen ist: Hegel.

Es steht viel auf dem Spiel, denn Vries’ Ziel ist einerseits eine grausame Rache an Hegel und andererseits ein monströses Verbrechen, das ihn über den Tod hinaus berühmt machen soll.

„Es wird dich zeichnen! Ganz egal wie lange du nach meinem grossen Finale noch zum Leben verflucht bist, du wirst nie wieder in den Spiegel sehen können, ohne an mich zu denken.“

Es soll nicht einfach der Tod sein, den er über Hegel bringen wird, denn der Tod ist für den Betreffenden keine Strafe, er kriegt ihn nicht mit. Leiden würden nur die anderen. Doch Hegel soll leiden.

«Ein Spiel macht nur dann Spass, wenn dein Gegner eine faire Chance hat, dich zu besiegen.»

Hat Hegel eine Chance? Wird er sie erkennen und nutzen können? Das ist die grosse Frage und sie lässt den Leser die Seiten atemlos umblättern, bis er es weiss.

Dieses ist der fünfte Fall für den Phonetiker Matthias Hegel. Das Buch lässt sich gut lesen und verstehen, wenn man die ersten Bände nicht gelesen hat, allerdings wird man sie nachher nicht mehr lesen – und verpasst dabei wohl gute Lektüre. Dieser Band enthält so viele Verweise auf die früheren Geschehnisse, dass wohl die Spannung des Lesens wegfiele. Also: Wer sich für die Reihe an sich interessiert und sie gerne als Ganzes lesen möchte, der sollte unbedingt bei Band eins anfangen.