Eine Geschichte: Zeichnen (VI)

Lieber Papa

Als ich vor einigen Jahren wieder begann zu zeichnen, hast du dich gefreut. Ich zeigte dir ein paar Skizzen aus meinem Skizzenbuch und du hast gelächelt und gemeint, ich hätte schon immer gut zeichnen können. Das Zeichnen half mir in dieser Zeit, als mir so vieles im Leben weggebrochen war. Damit kriegte ich meinen Kopf frei. Ich konnte mich in etwas hineingeben, das mich vom Nachdenken wegbrachte.

Erinnerst du dich, Papa, wie das war, als ich ein Kind war? Du musstest mir nur Papier und Stifte geben, dann war ich glücklich. Dann sass ich da und zeichnete. Ich liebte es und für euch war das ein sicherer Wert in Restaurants oder anderen Situationen, in denen ich mich gelangweilt hätte. So fiel ich wenigstens nicht auf.

Ich war etwa drei Jahre alt, als ich ein Bild mit einer Sonne über einer Blumenwiese gezeichnet habe. Du warst begeistert. Manchmal glaube ich mich daran zu erinnern, wie ich das Bild gemalt habe. Vermutlich ist das eine Illusion. Ich erinnere mich wohl nur an mich, wie ich an einem Tisch sass und zeichnete, weil ich das oft tat, damals. Das Bild kenne ich nur vom Sehen und von deinen Erzählungen. Ich erinnere mich auch nicht daran, wie ich es dir gezeigt habe oder wie du darauf reagiert hast. Auch das weiss ich alles nur aus deinen Erzählungen. All diese Erzählungen wurden zu etwas, das sich anfühlt wie eine eigene Erinnerung. Interessant, wie man Menschen Erinnerungen einpflanzen kann, indem man ihnen etwas oft genug erzählt. Irgendwie auch gruselig.

Das Bild hing all die Jahre in unserem Wohnzimmer. Du hast allen, die kamen, sichtlich stolz erzählt, dass ich das mit drei gezeichnet habe. Das sei grossartig für eine Dreijährige, hast du hinzugefügt. Darum hättest du es aufgehängt. Daraufhin sei ich schludrig geworden, hätte immer mehr und schneller Bilder gezeichnet, nicht mehr so gut. Das hättest du natürlich nicht mehr belohnt. Ich müsse merken, dass ich mir Mühe geben muss. Das alles hast du erzählt, wenn Leute das Bild ansahen.

Es war mir damals nicht bewusst gewesen, dass ich pfuschte. Ich dachte, ich hätte gezeichnet, was ich konnte, und es mit Freude schenken wollen. „Das ist nicht gut genug, um es aufzuhängen“, sagtest du oft. Das hat das Lob über die gute Zeichnung aufgehoben. Ich konnte mich nicht mehr freuen. Der Rest wog ungleich schwerer. Zu deinen Worten kamen die Blicke der anderen. Sie richteten sich weg vom Bild und hin zu mir. Ich kam mir klein vor. Ich war die, die pfuschte und sie wüssten es nun alle. War es mir am Anfang nur um die Freude am Zeichnen, um das Ausprobieren und Spielen mit Farben gegangen, merkte ich nun, dass meine Bilder Kriterien erfüllen mussten, was sie mehrheitlich nicht taten. Sie waren nicht gut genug. So wollte ich nicht weitermachen. Ich hörte auf zu zeichnen. Bei den wenigen Versuchen, die ich später unternahm, sagte gleich eine innere Stimme: „Das taugt nicht. Das ist Pfusch. Das hängt keiner auf.“

Und doch: Irgendwann, nach vielen Jahren, Jahrzehnten gar, probierte ich es wieder aus. Du freutest dich. „Du hattest immer Talent“, sagtest du. Doch meine innere Stimme war noch da. Und sie befand, mein Talent reiche nicht. Ich habe wieder aufgehört.

An all das musste ich kürzlich denken, als ich in meinen alten Skizzenbüchern blätterte. Im Nachhinein fand ich vieles gar nicht so schlecht. Aber vielleicht hat auch alles seine Zeit und jeder seine Stimme. Meine zeigt sich in Worten, weswegen ich dir nun diesen Brief schreibe und kein Bild male.

(„Alles aus Liebe“, VI)


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4 Kommentare zu „Eine Geschichte: Zeichnen (VI)

  1. Das kenne ich. Wieso hat uns damals keiner gesagt, dass manchmal das Tun und der Flow wichtiger sind als das Resultat?
    Oder dass dort, wo das Resultat wichtig ist, man alles so lange überarbeiten darf und kann, bis es gut ist?
    Der Anspruch, dass alles schon beim ersten Entwurf perfekt sein muss, hat mich Jahrelang vom Schreiben abgehalten.
    Aber schwimmen lernen kann man nur im Wasser!

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    1. Es fällt mir gerade aktuell auf, wie sehr ich mich behindern liess und selbst behinderte wegen alter Glaubenssätze. Deine Zeichnungen sind Pfusch. Das taugt nichts. Künstlerdasein ist Unsinn und brotlos (mag sogar stimmen, aber wieso es nicht doch versuchen? Zumal anderes auch brotlos ist… ). Ich hatte sogar eine Zusage für eine Hochschule sur Dossier – und sagte ab, weil ich mir das nicht zutraute. Ich hörte immer wieder auf zu malen, weil ich mich für nicht gut genug befand. Nun habe ich neu wieder angefangen und merke, wie viel Freude und Leidenschaft da drin steckt. Es ist nie ein Müssen, eher wird ständig die Zeit zu knapp.

      Mut. Das braucht es wohl. Und wie du sagst mehr Gelassenheit dem Tun und dem Ergebnis gegenüber.

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