Claudia stand gerade in der Küche, die Balkontüre war einen Spalt weit offen, um Luft in die Wohnung zu lassen. Nicht zu weit, damit die Katze nicht raus ging. Claudia hatte immer Angst, dass Minouche etwas passieren könnte. Sie wohnte im 5. Stock, also sehr hoch oben. Einen solchen Sturz würde keine Katze überleben. Claudia stellte sich immer vor, wie Minouche aufs Balkongeländer sprang und runterfiel. Allein die Vorstellung liess ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Jeder, dem Claudia von dieser Angst erzählte, lachte sie aus. Katzen seien klug, kriegte sie zu hören. Sie sprängen nicht einfach runter. Dass Minouche einfach spränge, wollte Claudia nicht mal behaupten (wobei sie auch dafür nicht die Hand ins Feuer legen würde), aber was, wenn sie eine Fliege jagte? Dabei vergass sie sich in der Wohnung völlig, sprang ohne Rücksicht auf Verluste (bei sich und beim Mobiliar) durch die Lüfte, ganz vertieft in ihre Jagd. Würde sie bei einer Balkonbrüstung wissen, dass es dahinter runter ging, und nicht einfach springen? Claudia glaubte nicht, dass Minouche sich von ihrer Jagd abhalten liesse. Darum durfte Minouche nicht auf den Balkon. Und jeder, der bei ihr auf den Balkon ging, musste die Tür hinter sich zuziehen, und auch sie war ständig in Habacht-Stellung, wenn die Tür mal offen war.
Plötzlich hörte Claudia ein Geräusch. Minouche hatte sich am Spalt der Balkontüre zu schaffen gemacht und war rausgekrochen. Schnell rannte Claudia hinterher. Sie kam gerade auf den Balkon, als sie sah, wie Minouche schon auf dem Balkongeländer stand und runterschaute. Claudia stockte der Atem. Sie rief nach ihrer Katze, wollte sie greifen, da sprang Minouche. Claudia schaute ihr hinterher, schaute auf die grauen Steinplatten weit unten am Boden. Sie dachte nichts mehr, sie stand nur noch da, spürte, wie sich ein grosses Loch in ihrem Bauch auftat. Dann setzte sie sich in Bewegung. Sie rannte durch die Balkontür in die Wohnung, aus der Wohnungstür hinaus. Sie rannte nicht die Treppe hinunter, sie sprang jede einzelne Treppe – immerhin sieben Stufen – auf einmal hinunter, schwang sich um die Kurve, sprang wieder, schwang sich, sprang. Neun mal sprang sie, dann war sie bei der Haustüre, riss sie auf, rannte um die Briefkästen herum.
Und sah sie liegen. Zerschmettert. Claudia kniete nieder, aus ihrem Mund kam ein halb erstickter Laut. Minouche bewegte sich nicht mehr. Tränen schossen Claudia in die Augen, sie weinte – nein heulte. Stossartig. Die Trauer übermannte sie wie eine riesige Lawine. Es gab kein Halten mehr, sie versank in dieser Trauer.
Claudia wachte auf. Sie spürte die Tränen auf ihren Wangen, hörte sich selber laute Klagelaute ausstossen. Konnte sich kaum beruhigen. Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Traum hatte. Die letzten Male hatte sie ihn mit der Vorgängerkatze von Minouche geträumt. Auch Felix war auf die Brüstung gesprungen, auch Felix war runtergefallen. Felix landete aber immer im weichen Gras und wenn Claudia runterkam, war er noch am Leben, man merkte ihm nichts an. Dieses Mal war es anders gewesen. Obwohl alles nur ein Traum gewesen war, steckte Claudia der Schreck tief in den Gliedern.
Minouche musste gehört haben, dass Claudia aufgewacht war. Laut schnurrend tappte sie über Claudia, legte sich neben sie, wie immer, wenn Claudia aufwachte.
Der Traum sagt wohl, daß man das Bedürfnis hat, Kontrolle über die eigenen Agressionen zu haben? Die Katze ist ja ein wildes Tier. In einem selbst kocht es bisweilen – man will das deckeln, aber geht das überhaupt?
LikeLike