Andächtig hörend sitzen Menschen vor dem Rednerpult, an dem ein Vorleser das von ihm Gelesene intoniert. Vermutlich ist er allen ausser mir bekannt, doch das stört mich nicht. Ich bin nicht seinetwegen hier, ich möchte das Werk hören. Vermutlich ist das nicht immer so. Ich kriegte davon eine Ahnung, als ich mal als Fan und Leser bezeichnet wurde. Mir war diese Bezeichnung fremd, da ich mich nie als solchen bezeichnet hätte, nicht mal bei dem Schriftsteller, mit dem ich 9 Monate verbrachte, als ich über ihn schrieb, als ich alles aufsog, was er je zu Papier gebracht hatte, in sein Leben und Schreiben eintauchte. Ich hätte es als Neugier und Forschungsdrang bezeichnet. Nun war ich plötzlich Fan von Schriftstellern, die ich nie gelesen hatte. So schnell kann es gehen.
Der Raum ist klein. Er ist durch provisorisch wirkende Wände von der Buchhandlung, in der er angesiedelt ist, abgetrennt. Immer wieder dringen Geräusche herein, Lachen von Kunden des Ladens, Gespräche beim Eingang zum Leseraum, Kindergeschrei, vermutlich, weil ein Buch nicht gekauft wurde oder aber das Kind lieber Eis statt Bücher gehabt hätte. Unbeirrt liest der Lesende weiter. Stockt ab und an, da das Vorzulesende Schweizerdeutsch, er selber dessen nicht mächtig, es nicht mal verstehend ist. Es macht ihn sympathisch, gibt der Lesung eine gewisse Würze.
Bei jedem Geräusch von ausserhalb sieht man einige Zuhörer sich entsetzt umdrehen. Wie kann es angehen, dass die Welt da draussen weiter dreht und nicht stumm steht? Was ist so ein Eis in einer Kinderwelt wert gegen Kulturgenuss? Die hochgezogene Augenbraue soll wohl diese Haltung unterstützen. Dass weder das weinende Kind noch dessen Mutter sie sieht, ist unbeachtetes Detail. Dass es wohl selbst im andern Fall wenig genützt hätte – das Kind will nun mal einfach schreien, es hat seine Gründe, die in seiner Welt gross und richtig sind und hat Absichten, die es auf diese Weise zu erreichen denkt, was über allem steht – ebenso.
Ich gönne mir eine Pause, schlendere durch die Stadt. Ich denke an all die geschenkte Zeit, zu Hause ein Babysitter (mein lesefauler Sohn liest das zum Glück nicht, da er sich sonst über das Baby beim Sitter erzürnen würde), hier nichts zu tun. Ich beschliesse, shoppen zu gehen, das tun Frauen schliesslich so. Ich laufe zuerst durch alle Abteilungen der Buchhandlungen (denke dabei an die über 2 Meter zu lesende Bücher zu Hause), danach in die Papeterie (Notizbücher sind immer gut), danach in ein Schuhgeschäft (eigentlich sind meine Turnschuhe noch gut und ich zieh eh nur die an, ausser heute, da trage ich die schwarze Schuhe meines Sohnes, die mal meine waren, die ich ihm dann aber gegeben habe, die nun verlockend bequem aussehen und die er eh nie trägt) und denke dann, dass ich nochmals in die Lesung gehen könnte, shoppen ist nicht meines.
Ich gehe also zurück in die Buchhandlung, frage mich, ob die mich nicht alle gesehen haben, als ich so zögerlich, nicht wissend, was ich eigentlich wollen könnte, sollen müsste (sowas ist mir ja noch nie passiert in einer Buchhandlung) durch die Regale streifte, und bemühe mich, zügig zum Leseraum vorzustossen. Ich gehe auf Zehenspitzen hinein. Setze mich auf den ersten freien Stuhl. Bin froh, es geräuschlos geschafft zu haben. Der Lesende liest.
Plötzlich kauert eine Frau neben mir, legt ihre Hand auf meine Schulter. Ich schaue sie an. Sie flüstert mir zu, das sei eine Lesung, die aufgezeichnet werde. Man dürfe hier keine Geräusche machen. Das sei live. Es gebe Pausen, man solle diese beachten. Ich solle nicht vorher rausgehen. Bitte sagt sie noch. Ich schaue sie in Gedanken an all das Kindergeschrei, Gelächter, Geplauder von vorher (es ist immer noch da) verständnislos an. Sie wiederholt alles, etwas lauter flüsternd, wobei man schon das erste Mal sicher gut hörte auf der Liveaufnahme. Ich lächle freundlich, frage, ob ich wieder gehen soll. Sie meint, nein (klar, die Pause ist noch nicht da, man darf ja nur zwischen den Blöcken gehen. Selbst wenn man mich nicht hören würde, ihr Nein hört man durchaus).
Ich bin ordnungsgemäss nach der Sequenz gegangen. Damit auch alles seine Ordnung hatte.
Eine lesenswerte Beschreibung des Alltäglichen, sie hat mir gefallen. Und immer ist die Welt da draußen, die sich weiter dreht, ganz gleich, ob man bloggt, eine Lesung besucht, oder ein Konzert, oder man meint, des Abends vor dem Fernseher etwas vom Leben da draußen zu verstehen. Danke.
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Danke dir für diesen Kommentar. Ja, dieses ewige Drehen… es hat etwas beruhigendes durch seine Konstanz (was wäre, wenn sie nicht mehr drehte?) und auch ab und an etwas beunruhigendes (wo dreht sie hin?).
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herrlich- ich mag umfassende Beschreibungen „kleiner Momente“- deren wirkliche Grösse genau dadurch erst bemerkbar wird …
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Danke dir!
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Habe es nochmal gelesen- und mir ist aufgefallen … es hat nie etwas _seine_ Ordnung- es ist immer nur eine Ordnung, weil wir Menschen die ganz subjektiv bestimmen- anlegen- ändern. Darin liegt auch der Unterschied beispielsweise des Wohlfühlens begründet. Noch tiefer… oftmals kann, was heute grenzenloses Wohlfühlen ausmacht, morgen kann anders wirken…
weil es eben immer nur eine Ordnung ist- in der wir uns bewegen. Und die ist subjektiv.
Kannst/willst Du den Gedankenaufnehmen/weiterdenken?
ich finde das spannend.
Liebste Grüsse
ACR
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Ich sehe das genauso. Es gibt keine allgemeine Ordnung, zumindest nicht im menschlichen (Zusammen)Leben. Jeder hat sein Gefühl für Ordnung, sein Bedürfnis nach einer nach eigenen Massstäben bestimmten Ordnung, und folgt dem. Das ist sicher ein Grund für viele Konflikte: Unterschiedliche Vorstellungen und jeder sieht die eigene als die richtige oder kommt zumindest innerlich nicht von ihr los.
Ganz liebe Grüsse zu dir!
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