Schaut man Dokumentationen über Indien, sieht man, dass neben der Schönheit der Natur, der Vielfalt der Götter und der Buntheit der Traditionen vor allem eines vorherrscht: Missstände. Armut treibt Bauern in den Selbstmord, die hinterbliebenen Familien kommen mehr schlecht als recht über die Runden, Mädchen sind unwert, werden entweder gleich abgetrieben oder aber vernachlässigt und so dem Tod anheim gegeben. Kastensysteme sind noch heute vielerorts undurchdringbar, was vor allem für die unteren Kasten ein oft mehr als bedenkliches Leben bedeutet.
Aus diesen Land stammt der Yoga, der in unseren Breitengraden einen Höhenflug erlebt, der seinesgleichen wohl sucht. Ständig öffnen neue Studios ihre Türen, Shops an prominenter Lage mit teuren Yogakleidern, glänzenden Böden und ebensolchen Bildern an den Wänden laden gewillte Yogis ein, sich stilgemäss für die Yogastunde einzudecken. Die ganz ernsthaften Yogis üben nicht nur regelmässig auf der Matte, nein, sie sind schon weiter und belächeln die noch still übenden als Mattenturner. Denn: Yoga ist mehr, Yoga ist nicht nur Sport, es ist eine Philosophie. Mit Werten, Geboten und spirituellen Ansprüchen. Die werden gerne propagiert, jedem, der sie hören will – oder auch nicht – um die Ohren gehauen.
Von Yamas und Niyamas ist die Rede, das erste der ersten ist Ahimsa: Gewaltfreiheit. Das wird besonders gerne auf die Ernährung angewendet: Veganismus ist das einzig Wahre, alles andere übt Gewalt an Tieren aus und ist damit zu verdammen. Die Art und Weise, das den Ungläubigen zu vermitteln ist oft aggressiv und abwertend, vom Gedanken des Nicht-Wertens, der im Yoga ebenfalls sehr hoch angesiedelt ist, merkt man kaum mehr was. Man kann nun mit gutem Willen sagen, dass hier ein Wertekonflikt herrscht und die Gewaltlosigkeit das Nichtwerten übertrifft an Relevanz und drum aussticht. Ob die oft aggressive Art allerdings nicht auch eine Form von Gewalt ist? Das bleibe dahingestellt. Sie gehen so ja gegen Ignoranten vor, sagen sie, der Zweck heiligt wohl quasi die Mittel.
Nun geht, wer ein guter Yogi sein will, gerne zurück zu den Wurzeln. Er reist nach Indien. Mindestens einmal im Jahr, wenn möglich, gerne auch für länger. So mancher mag sich wohl fragen, wie sich das finanziert, doch das geht keinen was an, über Geld spricht man nicht, man hat es nur – auch in der Yogaszene, sonst würden die glänzenden Angebote nicht so ziehen. Oft wird es auch anstrengend verdient, durch Retreats an entlegenen Orten, Workshops rund um die Welt. Der moderne Yogi jettet um die Welt – gibt es eine ökologische Gewalt? Die darf man wohl nicht anführen, schliesslich muss der Mensch ja von etwas leben und wir wollen nicht werten. Aber zurück:
Der moderne Yogi sitzt nun also in Indien und will sich eine Zeit lang den Ursprüngen seiner Lebenswese widmen. Durch die sozialen Medien kann die Welt daran teilhaben und wird Zeuge der enthusiastischen Ausrufe. Es ist die Rede vom „Paradies“, Indien wird als „Wundervolle Heimat“ bezeichnet und alles ist wundervoll, erhaben. Ich sah noch nie Bilder von Obdachlosen, welche die Strassen säumen nachts, hörte nie etwas über die Missstände vor Ort. Dieselben Yogis, die hier also Menschen aggressiv angehen wegen ihrer Ignoranz Tieren gegenüber, propagieren ein Land, das Menschenrechte (und vor allem auch Frauenrechte) noch heute mit Füssen tritt, als Paradies. Als Heimat des Herzens.
Es gibt diese Situation vermutlich in vielen Gruppierungen und bei Menschen verschiedener Überzeugung. Vielleicht sollte man einfach mal die eigenen Werte überdenken und sich fragen, ob man sie wirklich konsequent anwendet… oder nur situativ, wie sie grad ins Bild passen.