Werkstattgespräche – Friedrich Ani

Foto: Susie Knoll

Friedrich Ani
Er trat als Sohn einer Schlesierin und eines syrischen Arztes am 7. Januar 1959 in Kochel am See in diese Welt, absolvierte die Schule bis zum Abitur und veröffentlichte bald danach erste Hörspiele und Theaterstücke. In der Drehbuchwerkstatt München der Hochschule für Fernsehen und Film lernte er das Handwerk des Schreibens und publizierte bald schon seinen ersten Roman. Er gewann mehrere Preise, wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, bewegt sich in den unterschiedlichsten Genres, vom Drehbuch über (Kriminal-) Romane bis hin zu Gedichten. Es ist nicht leicht, ihn in wenigen Worten zu beschreiben bei einer solchen Vielfalt.

Für uns hat er die Tür zu seiner Schreib-Werkstatt geöffnet und gewährt uns einen Blick hinein.

Wer bist du? Wie würdest du deine Biografie erzählen?

Ich bin Schriftsteller, Verfasser melancholischer Kriminalromane, von Gedichten, Hörspielen und Theaterstücken. Geboren an einem See, zu Hause in einem Zimmer in der Stadt.

Wieso schreibst du? Wolltest du schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen Auslöser für dein Schreiben?

Zu schreiben begann ich, weil ich feststellte, dass mir das Erfinden von Geschichten oder Szenen Freude bereitete. Meine Großmutter las mir viel vor, und ich bekam Lust, mir selbst etwas auszudenken. Ich schrieb, wie andere Kinder auf einer Trommel herumhauen oder plötzlich auf dem Klavier Noten beherrschen, ohne jede Vorkenntnis. Ich schrieb, als hätte ich einen neuen Atem für mich erfunden.

Wenn du auf deinen eigenen Schreibprozess schaust, wie gehst du vor? Entsteht zuerst ein durchdachtes Gerüst, ein Konvolut an Notizen oder aber schreibst du drauflos und schaust, wo dich das Schreiben hinführt?

Ich erstelle ein vages Konzept, ein Exposé mit den Hauptfiguren und einem ungefähren Verlauf der Geschichte. Die Biografien der Figuren sind mir früh vertraut, alles andere muss folgen während des Schreibens.

Wie sieht es mit dem Schreibmaterial aus? Schreibst du den ersten Entwurf von Hand oder hast du gleich in die Tasten? Wenn von Hand, muss es dieser eine Füller sein oder das immer gleiche Papier?

Die meisten Vorarbeiten – Recherchen, Ideen, Fetzen von Dialogen – schreibe ich mit der Hand. Manchmal benutze ich eine meiner mechanischen Schreibmaschinen, wie früher. Dann haue ich in die Tasten, als wären es die siebziger Jahre.

Ich hörte mal, der grösste Feind des Schriftstellers sei nicht mangelndes Talent, sondern die Störung durch andere Menschen. Ich glaube, du würdest dem zustimmen?

Menschen stören grundsätzlich oft. Der größte Feind des Schriftstellers ist der Tod.

Ich las in einem Interview, du bezeichnest dich als Zimmerling. Ein Mensch also, der am liebsten allein in einem Zimmer schreibt. Paul Auster meinte, Schriftsteller seien verwundete Menschen, da sich keiner ansonsten in ein einsames Zimmer zurückzöge. Paul Nizon sagte etwas ähnliches. Beuys würde nun wohl sagen: Zeige deine Wunde. Woher kommt der Wunsch nach dem Alleinsein?

Das Alleinsein beherrsche ich seit früher Kindheit, das habe ich aus verschiedenen Gründen früh lernen müssen, und es wurde Einsamkeit. Aber ich gehe darin umher wie in einem Mantel, ich trage ihn aufrecht, manchmal schnürt er mich ein, dann lege ich ihn vorübergehend ab. Das klappt. Meistens. Nicht lang.

Thomas Mann hatte einen strengen Tagesablauf, in dem alles seine zugewiesene Zeit hatte. Wann und wo schreibst du? Bist du auch so organisiert oder denkst du eher wie Nietzsche, dass aus dem Chaos tanzende Sterne (oder Bücher) geboren werden?

Meine Schreibzeit ist morgens. Bis zum frühen Nachmittag. Das heißt nicht, dass ich die ganze Zeit etwas aufs Papier bringe, es heißt nur, ich laufe nicht weg, bleibe in der Nähe der schweigenden und unsichtbaren Figuren. Sie entscheiden, wann sie auf die Bühne wollen. Na ja, manchmal scheuche ich sie auch raus. Vermutlich gar nicht so selten.

Was sind für dich die Freuden beim Leben als Schriftsteller, was bereitet dir Mühe?

Mühen beim Schreiben sind nicht das Gegenteil von Freude. Schreiben ist mein Werk, ich habe mich dafür entschieden und versuche, der Herausforderung gewachsen zu bleiben.

Hat ein Schriftsteller je Ferien oder Feierabend? Wie schaltest du ab?

Wenn ich nicht schreibe, sehe ich mich selten als Schriftsteller, eher als jemanden, der etwas ratlos herumsteht. Ich glaube, für solche Leute wurde die Gastronomie erfunden.

Du schreibst in verschiedenen Genres, vom Krimi über Jugendbücher bis hin zur Lyrik. Landläufig heisst es, „Schuster bleib bei deinen Leisten“ – wieso diese Vielfalt?

Anders kann ich nicht leben.

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiografisch. Dein Ermittler trägt dein Pseudonym von früher. Wie viel von dir steckt in ihm? Und generell in deinen Krimis und anderen Werken?

Meine Autobiografie ist das, was ich schreibe, ich bin in allen Figuren. Vielleicht habe ich deswegen damit begonnen: Um eine Zeitlang wahrhaftig in der Welt zu sein.

Du schreibst keine Krimis nach Lehrbuch, immer überwiegen die Tiefenansichten von Menschen am Rand der Gesellschaft. Was fasziniert dich daran?

Ich wüsste nicht, worüber ich sonst schreiben sollte.

Es gibt die Einteilung zwischen hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur (was oft einen abschätzigen Unterton in sich trägt). Was hältst du von dieser Unterteilung und hat sie einen Einfluss auf dich und dein Schreiben?

Diese Kategorien sind außerhalb meines Schreibens. Ich bewerte sie nicht, und sie bedeuten mir nichts.

Was treibt dich immer wieder an, noch ein Buch zu schreiben? Oder anders gefragt: Wäre ein Leben ohne zu schreiben denkbar für dich?

Vermutlich, aber ich kenne kein anderes Leben.

Was muss ein Buch haben, damit es dich beim Lesen begeistert und wieso? Legst du Wert auf das Thema, die Sprache oder die Geschichte? Ist das beim eigenen Schreiben gleich?

Ich lese Bücher wegen der Sprache, weniger wegen der Handlung, wegen der Gedanken der Figuren und des Autors, der Autorin, wegen deren Haltung zur Welt und den Menschen. Ich lese, um zu lernen.

Was rätst du einem Menschen, der ernsthaft ein Buch schreiben möchte?

Wenn jemand ernsthaft ein Buch schreiben möchte, muss man ihm nichts raten, dann schreibt er es schon.

Zwei aktuelle Buchempfehlungen aus der grossen Vielfalt von Publikationen:

Friedrich Ani: Lichtjahre im Dunkel (Roman)

„Eines frühen Morgens im Juli wankte ich ins Bad, sah in den Spiegel und bemerkte, dass ich alt geworden war. Das erschien mir kurios.“

Das Aufwachen nach einer durchzechten Nacht ist mitunter schwer. Noch schwerer ist das Leben an sich, in welchem mysteriöse Dinge passieren. Zum Beispiel verschwindet Leo Ahorn eines Tages nach vergeblichen Versuchen, Geld für seinen maroden Laden aufzutreiben. Obwohl seine Frau noch unschlüssig ist, ob sie ihn überhaupt wiederhaben will, muss sie etwas tun. Polizei kommt nicht in Frage, also wendet sie sich an den Privatdetektiv Tabor Süden, von welchem sie allerdings auch nicht vollends überzeugt ist. Bei seinen Ermittlungen trifft dieser auf die unterschiedlichsten Gestalten und erfährt mehr über das wenig glückliche Leben des Verschwundenen. Als ob das nicht alles schon genug wäre, findet sich auch noch eine Leiche, die Polizei mischt nun auch mit und sich ein und plötzlich sieht alles nochmals ganz anders aus.

Friedrich Ani: Stift (Gedichte)

„Worte hauchen, allmählich
Gewöhn ich mich ein, wie die
Anderen auch, so muss es
Sein, wir leben zum Gebrauch“

Friedrich Ani nimmt die Sprache, zerlegt sie in Worte, zerbricht ihre Sätze, gliedert sie neu und entdeckt so die doppelten Böden und eröffnet neue Felder. Seine Gedichte sind Sprachanalysen in Poesie gegossen. Es sind Freilegungen von tieferen Schichten, die zwischen den Zeilen, über Punkte hinaus und durch Buchstaben hindurch schimmern. Es sind Gedichte zum Wiederlesen, zum Wiederkäuen, zum Bedenken. Gedichte, die sich setzen lassen müssen.

100 Jahre ohne Franz Kafka

«Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.»

Heute vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Es waren ihm nur 40 Jahre vergönnt gewesen, 40 Jahre, in denen er an vielem gelitten und vor allem eines geliebt hat: Das Schreiben.

Die Etappen seines Lebens aufzuzählen, würde wenig von dem Menschen aufzeigen, der er war. Ganz erfassen kann man ihn wohl sowieso kaum. Wie viele Versuche sind schon unternommen worden, ganze Regalbretter biegen sich durch unter der Last der Deutungen. Am ehesten findet man ihn vermutlich in seinen Schriften, denn in ihnen liegt sein Herzblut. Da hat er die geheimen Windungen seines Denkens und Fühlens auszudrücken versucht, indem er sie in abstruse Geschichten verpackte, die bei Lichte betrachtet nicht an den Haaren herbeigezogen sind, sondern die Absurdität des Lebens, wie er es sah, abbilden.

Er hat sogar ein Wort geprägt: Kafkaesk. So nennt man eine Situation, in welcher der Mensch sich in einer bedrohlich erscheinenden Lage hilflos ausgeliefert fühlt. Von Solchen Situationen handeln seine Werke: Sei es als Josef K., der einfach verhaftet wird, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein, sei es als Landvermesser, der den Vorschriften der Verwaltung des Schlosses ausgeliefert ist, sei es als Gregor Samsa, der eines Morgens als Käfer im Bett aufwacht.

Immer wieder schreibt er vom Suchen und vom Hadern, etwas, das ihm wohl aus dem eigenen Leben vertraut war. Er haderte mit dem Vater, dem er einen Brief schrieb, aber auch mit der Liebe. Zwar verliebte und verlobte er sich, zeigte sich dann aber doch eher zögerlich und entschied sich am Schluss dagegen und für das Schreiben. Bis es fast zu spät war. Ein Jahr Liebe war ihm noch vergönnt, leider schon von seiner Krankheit gezeichnet. Mir gefällt der Gedanke, dass er nach diesem kurzen Leben das Glück doch noch kennenlernte. Die Liebe sehen und sterben.

Lesemonat Mai

«Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist.» Paul Auster

Ich war sehr suchend und immer wieder findend, um wieder zu verwerfen und neu zu suchen. Und manchmal suchte ich nicht mal, merkte nur, dass ich noch nicht gefunden habe. Und ich ermahnte mich zu mehr Geduld und fand sie nicht. Das war die Grundstimmung im Mai. Zu schreiben, was diesen Monat sonst geprägt hat, fällt mir schwer, er ist mir bei all dem sprichwörtlich zwischen den Fingern zerronnen. Ich habe viel geschrieben, viel gelesen, wobei ich selbst die Fülle des Lesens nicht wirklich realisiert habe, sondern immer dachte, ich käme zu wenig dazu – die Liste belehrte mich eines Besseren. Was ich aber weiss: Es waren grossartige Lektüren.

Nachdem ich mit André Gorz die Liebe gefeiert habe und berührt wurde, tauchte ich in die Welt Simone de Beauvoirs zurück, las von ihren Reisen, Lektüren, ihrem Schreiben und der politischen Lage ihrer Zeit. Mit Lena Gorelik erforschte ich, was Herkunft bedeutet und wie sie uns prägt. Bei Sartre erfuhr ich mehr über dessen Kindheit und bewunderte seine grossartige Sprache, seinen Humor. Ich tauchte in das Leben von Paul Auster ein, nachdem er selbst gestorben war, und habe mich verliebt in seine Sprache und seine Art des Erzählens. Ich litt mit Tove Ditlevsen und war erschüttert über Salman Rushdies Bericht darüber, wozu Menschen in der Lage sind und was sie damit bewirken. Zum Glück fand Salman Rushdie einen guten Umgang damit: Er schrieb darüber. Und ich las übers Schreiben und Stehlen und Sterben und Erzählen – ach, es war so viel und es war grossartig.

Im Juni stehen noch einige Memoirs an, zudem möchte ich mal wieder historische oder Gesellschaftsromane lesen. Ein paar liegen schon bereit, sie werden mit mir nach Spanien reisen, denn es ist wieder so weit. Leider nicht für lange dieses Mal.

Was habt ihr im Mai gelesen? Habt ihr schon (Lese-)Pläne für den Juni?

Die ganze Mai-Liste findet sich hier:

André Gorz: Brief an G. Geschichte einer LiebeNach achtundfünfzig gemeinsamen Jahren schreibt André Gorz seiner Frau Dorine diese wundervolle Liebeserklärung, die voller Tiefe, Wärme, Poesie ist. Die Liebe dieser beiden Menschen ist förmlich spürbar und sie rührt zeitweise zu Tränen. Bei aller Liebe geht André Gorz aber auch hart mit sich ins Gericht und schilt sich einiger Fehler, denen er mit dieser Schrift entgegenwirken möchte. Berührend!6 von 5
Simone de Beauvoir: Alles in allemSimone de Beauvoir geht weiter in ihrer Lebensgeschichte, dieses Mal nicht mehr ganz chronologisch, sondern oft auch thematisch. Im Grossen und Ganzen behandelt sie die 60er-Jahre, erzählt von gemeinsamen Reisen mit Sartre, von ihrer Beschäftigung mit Musik, Kunst und Kultur, von ihrem Schreiben und sehr intensiv auch von den globalen politischen Ereignissen. 5
Lena Gorelik: Wer wir sindWas nehmen wir mit, wenn wir fliehen müssen, was lassen wir zurück? Wie prägt uns unsere Herkunft, unsere Familie, wie sind wir mit ihr verbunden? Die Geschichte eines Aufwachsens als Tochter und Enkelin, als Mitglied einer Familie mit all ihren Brüchen, Umbrüchen, Erlebnissen und Prägungen. Ein persönliches Buch, das sich Erinnerungen entlang tastet, diese durch das Schreiben verständlich und erfahrbar macht. Der Sog der Sprache, die so eigen ist, zieht am Anfang in die Geschichte herein, lässt dann aber nach und nach und ein Gefühl der Länge auftauchen. 4
Yasushi Inoue: Meine Mutter – abgebrochenIm Alter zieht die Mutter des Autors zu ihm und seiner Familie. Das Buch handelt von diesem Zusammenleben mit der älter werdenden Mutter mit all ihren Vergesslichkeiten und Eigenheiten, sowie von Gedanken darüber und über die Vergangenheit und die Erinnerungen daran. Mich hat es nicht überzeugt, das Buch blieb seltsam blass und distanziert, so dass ich keinen wirklichen Zugang fand. 
Jean-Paul Sartre: Die WörterSartres Erinnerungen an seine Herkunft, auf seine Familie, auf seine Schreibanfänge und darauf, was ihm das Schreiben bedeutet, wofür es steht. Ein sehr analytischer, selbstkritischer, teilweise ironischer, schonungslos offener Blick auf sich selbst und die eigenen Eigenheiten und auch Selbstüberschätzungen.5
Gisèle Halimi: Alles, was ich bin. Tagebuch einer ungeliebten TochterGisèle Halimi schreibt über ihr Aufwachsen mit einer Mutter, die sie nicht liebt. Sie analysiert, wie es zu dieser fehlenden Liebe kommen konnte, wie das ihre Kindheit, ihr Aufwachsen und ihr Sein prägte. Was bewirkte dieses Ungeliebtsein in ihrem Leben, wie beeinflusste es ihre Ziele und ihre Haltung im Leben. Sie breitet ihr Leben von der Kindheit bis zum Tod der Mutter aus und lässt den Leser durch das Erzählen der Geschichten, wie alles war, teilhaben.3
Rebecca F. Kuang: YellowfaceAthena Liu und June Hayward sind seit ihrem gemeinsamen Literaturstudium Freundinnen, beide streben sie eine Karriere als Schriftstellerin an. Während Athena der Erfolg nur so zufliegt, will June der Durchbruch nicht gelingen. Beim Feiern eines weiteren Erfolges erstickt Athena vor Junes Augen und diese wittert ihre Chance: Sie stiehlt deren fertiges Manuskript und gibt es nach intensiver Umarbeitung als eigene Geschichte heraus. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten, doch dann droht der Diebstahl aufzufliegen. Ein Buch Themen wie das Schreiben, den Buchmarkt, Rassismus, Aneignung und die Frage, wer Autor eines Werkes ist. Und vieles mehr. 4
Paul Auster: Bericht aus dem InnernPaul Auster erinnert sich an seine Kindheit, an sein Aufwachsen und seinen Weg hin zum Schreiben. Er spricht sein kleines Ich an, geht in den Dialog mit ihm, erzählt ihm, was war und wie er es aus der heutigen Sicht sieht. Und er nimmt den Leser mit auf diese Reise, die eine persönliche ist, eine Reise in sein Inneres, das er herausholt und sichtbar werden lässt.6 von 5
Veronika Reichl: Das Gefühl zu denkenGeschichten vom Lesen, davon, wie das Lesen und die Lektüre das eigene Leben prägen, wie sie ins Leben eingreifen, weil man sich dem Lesen hingibt und nach Antworten sucht, die man schlussendlich nicht in den Büchern, sondern in den eigenen Gedanken zu diesen finden. Veronika Reichl hat diverse Interviews und Gespräche zum Thema Lesen geführt und diese in die in diesem Buch enthaltenen Erzählungen fliessen lassen. 3
Paul Auster: WinterjournalPaul Auster erzählt aus seinem Erwachsenenleben, er zählt auf: Seine Behausungen, seine Lieben, seine Verletzungen, seine Reisen, Begegnungen mit dem Tod und vieles mehr. Es sind dieses Mal mehr die äusseren Dinge im Blick, und doch prägen auch die ganz tief. Davon handelt dieses Buch.5
Marjan Slobo: Der leere Himmel. Lob der Einsamkeit – abgebrochenMarjan Slobo erkundet das Gefühl der Einsamkeit, sieht es in einer mangelnden Verbundenheit mit der Welt begründet und vor allem auch in der menschlichen Fähigkeit des Selbst-Bewusstseins, durch welches wir diese mangelnde Verbundenheit und die Gefühle, die diese hervorruft mittels Sprache wahrnehmen. Sie beruft sich dabei auf Daniel Dennett, verweist auf Philosophen und Literaten, Filme und Musik. Sie mäandert in ihrem Text durch die verschiedensten Bereiche, ohne die konzis auf das Thema zu beziehen, so dass es an Stringenz fehlt. Viele Wiederholungen, falsche Schlüsse (die Logik stimmt nicht) und eine gewisse Ziellosigkeit führten zum Abbruch meinerseits. Schade, das Thema hätte mich interessiert. 
Tove Ditlevsen: AbhängigkeitTove Ditlevsens Erinnerung an ihre Ehen, ihr Abdriften in die Abhängigkeit nach Schmerzmitteln und anderen Medikamenten. Die Geschichte einer Flucht in eine Scheinwelt, weil die wirkliche nicht ertragbar war, die Geschichte des Kampfes, sich mit der Wirklichkeit wieder zurechtzufinden und den Weg aus der Sucht zu schaffen. Ein eindringlicher Roman, der einen durch die Sprache, durch die Unmittelbarkeit, mit der das beschriebene Leben aus den Zeilen spricht, fesselt und nicht mehr loslässt.5
Salman Rushdie: KnifeIn «Knife» schildert er seine Geschichte rund um den Anschlag auf sein Leben. Er schreibt von der Erschütterung durch die wieder aufgebrochene Gefahr, über den Schmerz beim Angriff und den weiteren beim Bewusstsein, womit er die Zukunft seines Lebens umgehen lernen muss. Er schreibt aber auch von der Kraft der Liebe und wie diese ihn durch all das Leid hindurchtrug. Er schreibt offen, zeigt sich verwundet und verwundbar. Er berührt, bewegt, erschüttert, hallt nach. Ein Buch, das mich mit jeder Faser meines Körpers und Fühlens ergriffen hat. Bis in die Träume hinein.5
Oskar Negt: Überlebensglück – abgebrochenOskar Negt ist es gelungen, aus einer durch Flucht geprägten Kindheit auf dem Bauernhof den sozialen Aufstieg ins Bildungsbürgertum mit Universitätsabschluss zu schaffen. Davon handelt diese Autobiografie. Sie beleuchtet die Hintergründe, weswegen die einen als Gebrochene und Opfer, die anderen als Kämpfer und Gesunde aus schwierigen Lebensumständen hervorgehen. Er schaut auf Theorien und behandelt Philosophien und schafft damit eine Distanz zum Gegenstand einer Autobiografie – zu sich selbst. Ich habe ihn verloren in all den Zeilen und irgendwann abgehängt. 
Sigrid Nunez: Sempre SusanEin sehr persönliches Porträt von Susan Sontag. Sigrid Nunez ist 25, als sie beginnt, für Susan Sontag zu arbeiten. Bald zieht sie bei ihr ein, ist die Freundin von deren Sohn, mit dem sie zusammen ist.  Ein Zusammenleben, das aufreibend ist, das sie in eine Mutter-Sohn-Dynamik hineinzieht, in welcher eine dritte Person einen schweren Stand hat. Es ist ein schonungsloser Blick, aber kein verletzender, ein ehrlicher, unverstellter, der sowohl Hochachtung wie auch Unverständnis ausdrückt, die Sigrid Nunez Susan Sontag in verschiedenen Situationen entgegenbringt. 4
Joan Didion: Wir erzählen uns Geschichten, um zu lebenEssays über sich, ihr Leben und die Welt – vor allem auch die der Kunst und des Films, der Künstler und Bohemiens – um sich. Einblicke und Analysen, persönlich und klar, ein unverstellter Blick auf die Wirklichkeit Amerikas in den Sechzigerjahren.4
Nelio Biedermann: Anton will bleibenNach seiner Krebsdiagnose überlegt Anton, wie er das verbleiende Jahr verbringen könnte, um in die Geschichte einzugehen, schliesslich sollte nach seinem Tod etwas von ihm zurückbleiben. Er versucht sich im Schreiben, mit Fotografieren, Malen, Philosophieren. Er schliesst neue Freundschaften, macht eine Reise, überzeugt einen Jungen mit Selbstmordabsicht von der Schönheit des Lebens. Nur der ewige Ruhm, der scheint ihm nicht gegönnt. Oder doch?4
Andreas Kilcher: Kafkas WerkstattEin Blick hinter die Kulissen von Kafkas Schreiben. Wie haben sein Leben und Lesen sein Schreiben inspiriert? Wie durchzogen sie seine Texte? Eine Analyse seiner Lektüren, Interessen und der historischen und lebensnahen Kontexte und daraus abgeleitet ein Bezug zu einzelnen Texten. Der Schreibprozess selbst bleibt leider eher aussen vor, einige Redundanzen lassen das Ganze etwas langatmig wirken, aber es ist eine informative und kompetente Annäherung an Kafkas Schreiben und ein Hinweis auf eine andere Lesart von dessen Werk. 4
Mely Kiyak: Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens anPapa Kiyak hat Krebs. Die Tochter kümmert sich. Sie spricht mit den Ärzten, kocht Essen, will für ihn da sein, redet gut zu und hat selbst keine Kraft. Sie weint plötzlich in den unmöglichsten Situationen, kämpft immer wieder an allen Fronten, wütet über die Bedingungen von Migranten. Und zwischendurch lässt sie sich von ihrem Papa Geschichten erzählen. Von früher. Von der Familie. Berührend. Bewegend. Tief. 5

Salman Rushdie: Knife

«Ich musste das Buch schreiben, das Sie jetzt lesen, denn das Schreiben war mein Weg, das Vorgefallene anzuerkennen, die Kontrolle zurückzugewinnen, mir das Geschehene anzueignen und nicht ein blosses Opfer zu sein. Auf Gewalt wollte ich mit Kunst antworten.»

Am 12. August 2022 wurde der weltbekannte Autor Salman Rushdie während einer Lesung in Chautauqua, New York, Opfer eines brutalen Messerangriffs. Rushdie, bekannt durch sein Buch „Die satanischen Verse“, welches in vielen islamischen Ländern als blasphemisch gilt, wurde schwer verletzt. Der Angriff auf Rushdie ist nicht nur ein Angriff auf eine Einzelperson, sondern auch auf die Werte der freien Meinungsäußerung und die demokratischen Grundprinzipien. Zum Thema Meinungsfreiheit äussert sich Rushdie folgendermassen:

«Hat man Angst, was man sagt, könnte unangenehme Folgen haben, ist man nicht frei. Und als ich Die satanischen Verse schrieb, wäre mir nicht im Traum eingefallen, Angst zu haben.»

Salman Rushdie ist seit der Veröffentlichung seines Buches im Jahr 1988 einer der prominentesten Verfechter der Redefreiheit. Die „satanischen Verse“ lösten eine Welle der Empörung und Gewalt aus, die 1989 in einer Fatwa des iranischen Ayatollah Khomeini gipfelte, die zur Tötung Rushdies aufrief. Danach lebte Rushdie jahrelang im Untergrund und unter ständiger Bedrohung.

«Ich errang meine Freiheit dadurch, dass ich wie ein freier Mensch lebte.»

Dass dieses Leben im Versteck nicht das sein konnte, war bald klar. Er wechselte den Kontinent, fing nochmals von vorne an und bemühte sich in den Staaten, ein öffentliches, ein sichtbares, ein unbeschütztes Leben zu führen. Im Glauben daran, dass die so gelebte Normalität Wirklichkeit sei, die Gefahr vorüber.

Der Angriff von 2022 zeigt auf erschreckende Weise, dass die Bedrohung durch extremistische Gewalt gegen freie Meinungsäußerung noch immer präsent ist. Rushdies Verletzungen erinnern uns daran, wie fragil die demokratischen Errungenschaften sein können und wie wichtig es ist, diese zu verteidigen. Die Redefreiheit ist eine der Grundsäulen jeder Demokratie. Sie erlaubt es, unterschiedliche Meinungen zu äußern und Debatten zu führen, ohne Angst vor Repressalien oder Gewalt haben zu müssen.

In einer Zeit, in der Populismus und autoritäre Tendenzen weltweit auf dem Vormarsch sind, ist der Angriff auf Rushdie ein Weckruf. Es geht nicht nur um die Sicherheit eines einzelnen Autors, sondern um die Verteidigung grundlegender demokratischer Werte gegen extremistische Bedrohungen. Der Vorfall mahnt uns, dass der Kampf für Demokratie und Freiheit ein fortwährender Prozess ist, der ständigen Einsatz und Wachsamkeit erfordert.

Darüber hinaus zeigt der Angriff auch die Gefahr, die von religiösem Fanatismus ausgeht. Wenn Meinungsverschiedenheiten in Gewalt münden, wird der öffentliche Diskurs vergiftet und die Basis für eine pluralistische Gesellschaft untergraben. Es ist die Aufgabe demokratischer Gesellschaften, für die Sicherheit und Freiheit ihrer Bürger einzutreten und Gewalt in jeder Form zu verurteilen.

Zusammengefasst steht der Angriff auf Salman Rushdie symbolisch für die anhaltenden Kämpfe um Meinungsfreiheit und Demokratie. Es liegt an uns allen, diese Werte zu schützen und zu verteidigen, um sicherzustellen, dass Stimmen wie die von Rushdie weiterhin Gehör finden können.

«Ich begriff, dass ich mich mittels Literatur selbst reparieren konnte.»

Einen Weg hin zu diesem Gehör hat Salman Rushdie mit seinem neusten Buch unternommen. In «Knife» schildert er seine Geschichte rund um den Anschlag auf sein Leben. Er schreibt von der Erschütterung durch die wieder aufgebrochene Gefahr, über den Schmerz beim Angriff und den weiteren beim Bewusstsein, womit er die Zukunft seines Lebens umgehen lernen muss. Er schreibt aber auch von der Kraft der Liebe und wie diese ihn durch all das Leid hindurchtrug. Er schreibt offen, zeigt sich verwundet und verwundbar. Er berührt, bewegt, erschüttert, hallt nach. Ein Buch, das mich mit jeder Faser meines Körpers und Fühlens ergriffen hat. Bis in die Träume hinein.

«Ohne die Katastrophen von gestern wären wir nicht die, die wir heute sind.»

Was kann ich über ein solches Buch schreiben? Welche Worte sind angemessen, welche hinreichend? Was Salman Rushdie passiert ist, kann nur als grosses Unglück bezeichnet werden. Und doch ist da noch mehr.

«Auch Sprache ist ein Messer. Sie kann die Welt aufschneiden und ihre Bedeutung zeigen, ihre inneren Mechanismen, ihre Geheimnisse, ihre Wahrheit.»

Fast möchte ich sagen, der Täter hat versagt. Zwar ist es ihm gelungen, Salman Rushdies Leben mit Schmerz, Leid und auch Angst zu belasten. Was ihm aber nicht gelungen ist: Ihn auszulöschen, ihn zum Verstummen zu bringen. Im Gegenteil. Salman Rushdie hat noch mehr zu seiner Stimme gefunden, er lässt sie sprechen, sucht Gehör und findet es. Er steht ein für das Gute, für Werte und vor allem für die Liebe und das Miteinander, welche ihm die Kraft gaben, weiterzuleben, weiterzumachen.

Lena Gorelik: Wer wir sind

«Das ist meine Geschichte. Ich schreibe sie auf, in der Sprache, die mir am besten gehorcht. Ich schreibe Worte auf, verletze Menschen, weiss Liebe, spüre Respekt, streiche weg, gehe zurück, bleibe stehen. Murmle Entschuldigung, zwischen die Zeilen hinein. Tippe Buchstaben, sortiere Worte, habe Angst vor Fragen, vor denen, die ich liebe, vor dem, was ich schreiben könnte, ordne Worte an. Die Worte beugen sich ächzend. Das ist meine Geschichte, tippe ich, Buchstaben für Buchstaben trotzig.»

Mit 11 Jahren lässt die Ich-Erzählerin Sankt Petersburg und alles, was da war, zurück: Die Kindheit, die Erinnerungen, die Freunde, den Hund. Sie kommt in Deutschland mit nichts als den Eltern und der Grossmutter und ein paar notwendigen Dingen, die in einem kleinen Koffer Platz hatten, an. Sie merkt bald, dass ein wirkliches Ankommen nicht möglich ist, weil sie immer die Fremde, die andere ist. Weil sie aussieht, wie keiner aussieht, weil sie ausgelacht wird für das, was sie trägt. Weil die Eltern es nicht schaffen, die Sehnsüchte, die sie an den Westen, an die Freiheit hatten, umzusetzen, zu leben, zu geniessen gar. Und dann findet sie in der Sprache eine neue Heimat, eine, die von allem, was war, Distanz schafft, weil sie nicht eine mit den Eltern geteilte Heimat wird. Und immer ist da Scham. Und auch Stolz. Aufbegehren, um wieder in Anpassung überzugehen.

Davon handelt dieser autobiografische Roman.

««Hast du Pläne, ein Buch zu schreiben?», fragt mein Vater. Ich schreibe nichts. Ich schreibe über dich, über uns. Ich schreibe uns auf, ich erzähle von mir, ich kann dich nicht weglassen, ich bin, weil ihr seid, und wir sind, auch wenn du die Arme verschränkst und ich mit den Zehen wackle. Was schreibe ich, wenn ich versuche, nicht zu viel zu erzählen? «Ich weiss nicht, was für Pläne ich habe.»»

Ich lese mich durch die ersten Seiten und verstehe nicht, was da passiert. Vielleicht passiert auch nichts. Es sind lose zusammengewürfelte Erinnerungen, Gespräche mit den Eltern, Erinnerungen an solche Gespräche. Der Inhalt erscheint bedeutungslos und doch ist er bedeutsam. Er steht schwarz auf weiss geschrieben. Vielleicht steht er für etwas anderes, ist er ein Abbild, ein Ausdruck der Bedeutungslosigkeit, der Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kind.

«Wir haben so viel auf dem Weg verloren… Meine Mutter denkt, vielleicht auch uns. Die Familie haben wir verloren, alles, was wir einmal waren an Gefühl. Den Zusammenhalt, dieses Gefühl: … Wir, gemeinsam.»

Eine Verbindung, die nur durch die Herkunft noch hält, der die Sprache fehlt, das Gefühl. Die gilt es zu ergründen. Was hält Familien zusammen? Welches Band steht zwischen Eltern und ihren Kindern, wenn da keine Gemeinsamkeiten mehr sind und das, was war, lieber vergessen als erinnert würde? Was war gut, wo wurde es schwer? Was hallt noch nach, was bleibt?

Und dann sind da diese wunderbaren Sätze. Sie sind in eine Geschichte gebettet und in ihnen steckt eine weitere Geschichte, vielleicht sogar die meine eigene als Lesende:

«…wir sprechen über nichts. Verhindern die Stille.»

Ich finde mich in solchen Sätzen. Ich weiss, wie sie sich anfühlen. Sie wecken in mir Erinnerungen, Gefühle. Das Wissen um all das Ungesagte, das Wissen um das Schweigen da, wo viele Worte gewünscht, aber nicht aussprechbar gewesen sind. Es findet sich in vielen Familien wohl. Und dann denke ich, vor allem beim Lesen eines Buches wie diesem, dass ich hätte sprechen sollen. Oder es noch könnte. Und dann sitze ich da, schweigend, das Buch in der Hand. Es wirkt nach.

(Lena Gorelik: Wer wir sind, Rowohlt Verlag, 2022.

Inspirationen für die Woche – KW 22

Während meine Tagesstrukturen immer gleich sind (was von anderen oft belächelt oder gar verspottet wird, aber dem Umstand geschuldet ist, dass das selbständige Tun eines Menschen, der im Kopf immer von diversen Reizen in verschiedene Richtungen getrieben ist und herumschwirrt zwischen Themen und Orten und Projekten und Gedanken und Ideen, einer äusseren Struktur bedarf, da er sonst a) den Halt verliert und b) die Disziplin nicht aufbringt, Dinge täglich ohne äusseren Zwang und zielgesteuert auf ein Ende zuzuführen), ändern sich die Inhalte doch immer wieder und das teilweise enorm. Ich mag das. Ich mag das freie Fliegen zwischen den Themen, zwischen Zeiten und Denk (!!)-Räumen. Ich mag meinen strukturierten Alltag, denn nur so ist das freie und kreative Fliegen möglich.

Ich weiss gar nicht, wieso ich nun darauf komme. Vielleicht, weil die Ferien vor der Tür stehen und damit gewisse – bei mir zum Glück geringfügige – Änderungen auf mich zukommen. Zu meiner Woche:

Worauf stiess ich? Was kam mir in den Sinn und was möchte ich mit euch teilen? Hier die Inspirationen für die Woche 22: Zuerst wir versprochen, mein

Krimi-Special

Es ist nicht das, woran man als erstes denkt, wenn man ihre Namen: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre lasen gerne Krimis. Sie verschlangen sie teilweise regelrecht, diskutierten drüber, schätzten die abgrundtiefen Welten, die sich in Krimis auftaten. Nun stehen die Sommerferien vor der Tür, für viele Gelegenheit, sich einfach mal in Bücher fallenzulassen. Was wäre da schöner als ein spannender Krimi oder Thriller? Darum hier ein paar, die ich gerne empfehlen möchte:

Claire Douglas: Girls Night – Nur eine kennt die ganze Wahrheit

«Von Furcht und Schmerz gepackt, begann Olivia unkontrolliert zu zittern; alles in ihr erstarrte u Eis, als ihr wieder einfiel, wie es zu dem Unfall gekommen war… Die Gestalt auf der Strasse, die jetzt menschenleer dalag und sich in eine endlose dunkle Leere zu erstrecken schien. Wer war das gewesen? Und wohin waren ihre Freundinnen entschwunden?»

Vor zwanzig Jahren war Olivia mit ihren drei Freundinnen im Auto unterwegs und geriet in einen Unfall. Sie überlebt schwer verletzt, von den anderen fehlte jegliche Spur. Der Fall wurde nie geklärt, die Vermissten tauchten nie mehr auf, was blieb, war das Misstrauen, dem Olivia fortan in ihrer Kleinstadt ausgesetzt war.

Die Journalistin Jenna plant einen Podcast zum Jahrestag, befragt dabei Bekannte und Verwandte der Beteiligten, um sich ein genaues Bild des Unglückstags zu verschaffen. Damit tritt sie offensichtlich jemandem auf die Füsse, denn plötzlich sieht sie sich mit Drohungen konfrontiert. Was ist damals wirklich passiert? Wer befürchtet, dass man ihm auf die Schliche kommt? Klar ist: Das Ganze scheint gefährlich zu werden.

Christine Brand: Vermisst. Der Fall Anna

«Es ist kurz nach sieben. In einer halben Stunde muss er los; es bleibt gerade noch genug Zeit, den ersten Schritt ztu tun, um seinen Entschluss von heute Abend umzusetzen… Dario öffnet das Dokument, an dem er sei einer gef¨ühlten Ewigkeit arbeitet… Er löscht den ersten Satz, und schreibt ihn noch einmal neu.

Mein Name ist Dario Forster. Ich brauche Eure Hilfe.»

Oft schreibt Christine Brand über wahre Kriminalfälle, nun hat sie eine Ermittlerin erfunden, die sich ungeklärten Verbrechen annimmt, weil sie Gerechtigkeit sucht. In ihrem ersten, mittlerweile dreissigjährigen ungelösten Fall sieht sich Malou Löwenberg, keine konventionelle Polizistin, sondern eine eigenwillige junge Frau mit einem mit Namen versehenen Roller, Tattoos und einem sonderbaren Hobby, mit einer Mutter konfrontiert, die just als ihr Sohn Dario fünf Jahre alt wird, verschwindet. Bei ihren Nachforschungen stösst Malou auf ähnliche, ebenfalls ungeklärte Fälle: Frauen, die am fünften Geburtstag ihrer Kinder verschwinden. Sind die jährlichen Geburtstagskarten, welche alle Kinder erhalten, ein Zeichen, dass die Mütter noch leben, oder aber ein makabres Spiel mit den Hoffnungen der Zurückgebliebenen?

Jens Henrik Jensen: Oxen. Pilgrim

«Er sah das Schwert vor seinem geistigen Auge aufblitzen und spürte die Anstrengung wie einen Phantomschmerz in seinem rechten Arm. Den Hieb schräg nach unten. Die klaffende Wunde, die er hinterliess… Er meinte, noch immer den Schaft des Schwertes zu umklammern. Doch seine rechte Hand war fest geballt um… nichts…»

Der sechste Band der Reihe, aber auch für sich allein gut lesbar: Wochenlang war Niels Oxen in den Katakomben gefangen gewesen, grausame Kämpfe galt es zu überstehen, doch er hat überlebt. Und braucht nun vor allem eines: Abstand von dem, was war. Er geht wandern. Margarethe Franck, vom dänischen Geheimdienst suspendiert wegen eines Zerwürfnisses, sucht eine neue Herausforderung, die sich bald einstellt – nichts Grosses, nur ein kleiner Finanzbetrug. Heisst es. Schon bald hat Franck die leise Ahnung, dass es sich doch um mehr handeln könnte, und Oxen sieht sich mit dem nächsten Albtraum konfrontiert.

Arne Dahl: Stummer Schrei: Eva Nymans Erster Fall

«Er fängt Feuer, der Fahrer verliert die Kontrolle und schert in der Kurve in die falsche Richtung aus, rast von der Autobahn und pflügt wie ein Feuerball durch das goldgelbe Rapsfeld. Das Letzte, was von dem Fahrer zu sehen ist, ist sein ausgestreckter Mittelfinger, der wie eine Fackel brennt.
Das Fernglas senkt sich in der einen Hand, der Fernzünder in der anderen… Es hat begonnen.»

Wenn man gerne Krimireihen liest, ist es besonders schön, von Anfang an dabei zu sein. Diese Chance gibt uns Arne Dahl, indem er nach seiner sehr erfolgreichen Serie um Carl Mørck eine neue Ermittlerin an den Start schickt: Eva Nyman. Zwei selbstgebaute Bomben töten zwei Menschen: Einen Marketingmanager, der sich der Autolobby verschrieben hat, und einen Konzernboss aus der Stahlindustrie. Die Bekennerbriefe deuten auf einen Klimaaktivisten hin, der seine Anliegen mit fanatischen Parolen und sehr brutalen Mitteln zu verfolgen scheint. Oder steckt doch noch mehr dahinter? Das glaubt zumindest Eva Nyman und nimmt die Fährte auf.

Ich lese normalerweise eher selten Krimis, die Leidenschaft kommt immer in Phasen und dann packen sie mich dermassen, dass ich einen nach dem anderen verschlinge. Dann endet die Phase wieder und es folgt eine lange Pause. Was ich immer gerne mache, das gestehe ich nur hier und ganz unter uns: Ich liebe die ganz banalen, eher seichten Krimiserien wie SOKO Stuttgart, Die Chefin, etc. sehr. Ja, sie sind nicht so packend und schillernd wie Netflixserien. Sie hinken an Tempo und Brutalität massiv hinter amerikanischen Serien hinterher. Aber sie haben ihren eigenen Charme. Und so viel Menschliches neben den Fällen. Das mag ich. Ganz praktisch ist: Man kann sie in der ZDF-Mediathek nachschauen. Grossartig (und gefährlich für Prokrastinierer).

Ich stiess über sieben Ecken, wie das oft so geht bei mir, auf folgende Poetik-Dozentur aus Tübingen (grossartige Reihe, die ich nicht kannte, aber nun auf dem Radar behalten möchte) auf die Vorlesung von Eva Menasse aus dem Jahr 2021. Der schöne Titel des Ganzen: «Treppen, Rampen, Räume». Spannende Einblicke in die Entstehung eines Romans, die ich gerne teilen möchte: Poetikdozentur mit Eva Menasse

Ich wünsche euch eine schöne Woche!

Anne Pauly: Bevor ich es vergesse

«Der Tod ist nichts: Ich bin nur ins Zimmer nebenan gegangen. Ich bin ich. Ihr seid ihr. Was ich für euch war, das bin ich nach wie vor.» Charles Péguy

Als Anne Paulys Vater stirbt, müssen sie und ihr Bruder die Formalitäten regeln und die Abdankung planen. Die Konfrontation mit dem toten Vater, mit den Erinnerungen an die vielfältigen Erfahrungen, Gefühle, Erlebnisse aus der gemeinsamen Vergangenheit sowie die Aufarbeitung der zurückbleibenden Gefühle an diesen Menschen, der so viele Seiten in sich trug, vom gewaltvollen Alkoholiker über den Liebhaber von Gedichten bis hin zum Interessierten für Spiritualität und östliche wie westliche Philosophien handelt dieses Buch.

«Während ich seine Hand hielt, die in meiner langsam kalt wurde, wünschte ich mir von ganzem Herzen, niemals seinen Duft zu vergessen und wie weich seine trockene Haut war.»

Was wird bleiben nach dem Tod, wenn der Mensch, der mal war, der zum eigenen Leben gehörte, durch den dieses wurde und war, wie es war, stirbt? Was wird man mitnehmen können ins neue Leben, in das ohne diesen Menschen? Die Angst, dass die Erinnerung an die Dinge verloren geht, die so wichtig schienen, die diesen Menschen ausmachten, ist oft gross. Man fürchtet, damit alles zu verlieren, vielleicht ein Stück von sich selbst.

«Im Gegensatz zu meiner Mutter habe ich immer verstanden, welchen Trost er daraus zog, Bücher zu besitzen, und welche Sehnsucht sich dahinter verbarg.»

Bücher sind Tore zur Welt. Sie können helfen, die Welt, in der man sitzt und sich vielleicht nicht wohlfühlt, für einen Moment zu verlassen. Nur schon sie zu besitzen heisst, die Möglichkeit zu haben, die in den Büchern steckt. Bücher sind auch ein kulturelles Symbol. Bücher im Regal zu haben, deutet darauf hin, einer bestimmten Schicht, einer bestimmten kulturellen Klasse zuzugehören. Sie vermitteln zumindest den Schein der Zugehörigkeit.

«Ja, sicher, er hatte es übertrieben, und doch war es diese Seele, die mir in all den Jahren nah gewesen war, und es war dieser Mann, der mich, zwischen zwei Besäufnissen, fest in seine langen Arme geschlossen hatte, wenn er fühlte, dass die Angst mit ihren schwarzen Händen nach mir griff.»

Kein Mensch hat nur eine Seite. Selbst der gewaltvollste Vater, ein Vater mit all seinen Schwächen und dunklen Seiten, hat auch die andere, die, auf die man bauen und vertrauen möchte. Die kleinen lieben Gesten zwischendurch, die, welche Halt geben, wenn man ihn braucht, mildern das Gesamtbild.

«Ich fand am Ende immer eine Entschuldigung für ihn: seine Schwermut, seine Einsamkeit und seine Langeweile, der nichts je hatte bekommen können, machten ihn verrückt.»

Wenn wir jemanden lieben, möchten wir ihn im besten Licht sehen. Das ist nicht immer möglich, vor allem, wenn die Schattenseiten zu deutlich herausstechen. Wie oft suchen wir dann Gründe, diese zu entschuldigen, suchen nach Erklärungen, die mildernd wirken, die den Blick nachgiebiger machen sollen. Belügen wir uns damit selbst? Oder sind wir damit der Wahrheit auf der Spur, die immer keine einfache ist, sondern mehrere Seiten aufweist?

Mascha Kaléko schrieb in ihrem Gedicht «Memento»:

«Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?»

Wenn jemand stirbt, bleibt eine Lücke. Lücken haben etwas Bedrohliches: Wie sollen wir sie füllen? Lücken bedeuten Leere, bedeuten, dass da, wo etwas war, nun nichts mehr ist. Ein Nichts ist unbestimmt, wir sind daran gewohnt, dass immer etwas ist, etwas zu sein hat. Wir haben, in heutigen Zeiten noch viel mehr als früher, das Bedürfnis, alle Leerstellen zu füllen. Wir packen förmlich unser Leben voll, um nicht ins Nichts zu fallen. Die Lücke durch einen Tod lässt sich nicht einfach füllen. Sie ist endgültig. Vielleicht liegt auch darin ein grosser Teil der Angst vor dem Tod.

Anne Pauly setzt sich in ihrem Buch mit dieser Lücke auseinander. Sie beleuchtet ihre Beziehung zu ihrem Vater, schaut hin, welchen Stellenwert dieser in ihrem Leben hatte. Sie erinnert sich an ihr Aufwachsen, an die Reibungen, Auseinandersetzungen und das Verbindende zwischen sich und ihrem Vater. Sie denkt über ihre Gefühle nach, über ihre Sehnsüchte, Ängste, Enttäuschungen. Was hiess es, Tochter dieses Vaters zu sein? Und was bleibt davon nun noch übrig? Was kann sie mitnehmen? Was ist verloren? Was wird sie weiter erinnern, was fällt dem Vergessen anheim?

Von all dem handelt dieses Buch. Es ist ein Buch über Liebe, Gewalt, Trauer und Trost, es ist ein Buch über Abschied und ein Buch über eine Beziehung zwischen Vater und Tochter.

André Gorz: Brief an D: Geschichte einer Liebe

«Bald wirst du zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je.»

Wenn ein Buch so anfängt, dann weiss ich, dass hier etwas Wunderbares auf mich wartet, in das ich mich ganz reingeben möchte. Aufsaugen werde ich dieses Buch, da bin ich mir sicher.

Worum geht es?

«Du hast mir Dein ganzes Leben und alles, was du bist, geschenkt; ich möchte Dir in der Zeit, die uns noch bleibt, alles von mir schenken können.»

Nach achtundfünfzig gemeinsamen Jahren schreibt André Gorz seiner Frau Dorine mit diesem Buch eine wundervolle Liebeserklärung voller Tiefe, Wärme, Poesie. Die Liebe dieser beiden Menschen ist förmlich spürbar und sie rührt zeitweise zu Tränen. Neben dieser wunderbaren Liebeserklärung blickt André Gorz klar auf die Zeit, die war, beleuchtet die einzelnen Stationen des gemeinsamen Lebens und geht auch mitunter hart mit sich ins Gericht. Er schilt sich einiger Fehler, denen er diese Schrift gegenüberstellen möchte.

«Und so bin ich bald der Chefredakteur dieses Pressedienstes geworden. Du kamst oft in die Redaktion, um einen grossen Teil der englischen Publikationen durchzusehen… Deine Eleganz und Dein britischer Humor erhöhten mein Ansehen bei den Vorgesetzten.»

Zu sehen, wie Dorine André Gorz nur zudiente, sich in seinen Dienst stellte, obwohl sie ihm ebenbürtig wäre, von ihm in gewissen Bereichen sogar als Überlegene gesehen wird, verwundert mich. Ist es der Zeit geschuldet? Einerseits sicher, doch verkehrten die beiden eng mit Beauvoir und Sartre, so dass sie ein anderes Beispiel gehabt hätten (wobei Simone durchaus sich unterordnende Züge hatte trotz aller Unabhängigkeit). Wie sah Dorine ihre Rolle? Waren sie ein wirkliches Team, wie es durchaus oft klingt in diesem Buch, oder doch Macher und Helferin? Später ist Dorine auch eigene Wege gegangen, hat eine eigene Karriere angestrebt.

André Gorz beschreibt ihren Weg immer mit Ehrfurcht, Anerkennung und voller Zugewandtheit. Er betont dabei, dass ihr Weg immer auch ein gemeinsamer war, dass diese Gemeinsamkeit sie nährte und ihrem Leben Sinn verlieh.  

«Ich kann mir nicht vorstellen, weiter zu schreiben, wenn du nicht mehr bist. Du bist das Wesentliche, ohne das alles Übrige, so wichtig es mir erscheinen mag, solange Du da bist, seinen Sinn und seine Bedeutung verliert.»

Das Schreiben war für André Gorz das wichtigste, das zentrale Element in seinem Leben. Er bedankt sich bei Dorine immer wieder für ihr Verständnis diesem Schreiben gegenüber und für ihre Unterstützung dabei. Ohne sie hätte er es nicht geschafft, so zu schreiben, und ohne zu schreiben, hätte er nicht sein können.

Ich sitze mit diesem Buch in meinem Sessel und lese mich durch die Zeilen. Ich lese von der Liebe zwischen diesen beiden Menschen, die beim Lesen fast körperlich spürbar ist, sie geht sprichwörtlich zu Herzen. «Brief an D. Geschichte einer Liebe» ist ein persönliches und berührendes Buch. Es ist das Buch eines Menschen, der liebt und der es schafft, diese Liebe spürbar werden zu lassen. André Gorz ist es gelungen, ein authentisches Buch zu schreiben, das von grossen Gefühlen spricht und nie pathetisch wird. Er hat ein wahres Buch geschrieben, das auch die schwierigen Momente und Zeiten nicht ausblendet, und es doch immer wieder schafft, zur Liebe zurückzukehren, die die Basis von allem ist.

«Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.»

In diesen letzten Zeilen klingt das Ende dieser Liebe an. Sie haben kurz darauf beschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu gehen. Und ja, ich wünsche mir von Herzen, dass sie dieses gemeinsame zweite Leben haben (auch wenn ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaube).

Was soll ich noch zu dem Buch sagen? Es ist schon viel zu viel und reicht doch nicht an das heran, was ich fühle nach dem Lesen. Vielleicht noch das: Ich kann es nur ans Herz legen. Von Herzen!

Inspirationen für die Woche – KW 21

Im Moment rast die Zeit an mir vorbei. Ich bin im Kopf so sehr in meinen Projekten, dass ich wohl ziemlich absorbiert bin. Zwar lese und höre ich immer noch viel, das mich inspiriert, aber ich lasse es vergehen, ohne etwas festgehalten zu haben. Ab und zu mache ich mir noch Notizen ins Notizbuch, aber dabei bleibt es dann. Trotzdem habe ich wieder ein paar Dinge, die mich besonders inspiriert oder angesprochen haben gesammelt.

Als ich letzte Woche auf den runden Geburtstag von Adolf Muschg aufmerksam machte, kommentierte Beat Werder, mit dem ich auf Linkedin verbunden bin mit einer Liste von Links, die er zu diesem Anlass gesammelt hat. Ich möchte die gerne teilen:

►FAZ. net: LINK
►Dokumentarfilm von Sept. 2021 / 86 min. von Erich Schmid
Titel: „ADOLF MUSCHG – DER ANDERE“ / Internet zum Film: LINK
►Literaturkritik. de / Würdigung: LINK

► Feier im ZH-Literaturhaus / So. 12.5.24: LINK

►Tagblatt. ch: LINK

Ich habe (viel zu spät) meine Begeisterung über Paul Auster und dessen Büchern entdeckt. Mein erstes Buch von ihm war sein letztes: Baumgartner. Ich kann es nur empfehlen. Ebenfalls empfehlen kann ich die Sendung mit Elke Heidenreich zu Paul Auster: WDR 4: Erinnerung an Paul Auster.

Und da ich, wenn mich etwas packt, gerne tiefer tauche, habe ich mir auch noch diese Dokumentation auf Arte angeschaut und er hat mich so für sich eingenommen, dass dies meinen Entschluss bestärkt hat, die Romane zu lesen. Alle. Sogar – und vor allem – dieses Monsterbuch, obwohl ich dicke Bücher eigentlich gerne meide.

Paul Auster – was wäre wenn.

Immer wieder überlege ich mir, in welchem Stil ich meine Bücher, die ich gerne ans Herz legen, von denen ich aber keine Rezensionen schreiben möchte (aus Gründen, die ich vielleicht mal in einem eigenen Artikel erläutere), vorstelle. Die Lösung ist gefunden: ich baue sie in meine Inspirationen ein. Heute möchte ich nicht nur einzelne Bücher ans Herz legen, sondern die Arbeit eines Verlags:

Wenn die Liebe zur Literatur auf Buchmacherkunst trifft, entsteht schönes. So beim Input-Verlag in Hamburg. Der Verleger Ralf Plenz hat es sich zur Aufgabe gemacht, grosse Literatur aus Europa neu aufzulegen und sie trotz der wunderbaren Buchgestaltung erschwinglich auf den Markt zu bringen. Titel der Reihe: Perlen der Literatur. Und ja, das sind sie: kleine Schmuckstücke mit viel Liebe zum Detail wie den kaligrafischen Zitaten im Text oder der Banderole mit Stichworten zum Inhalt, mit Aquarell in Buchstaben gemalt. Zudem ist es grosse Literatur, hier nur drei Beispiele:

Gottfried Keller: Die missbrauchten Liebesbriefe – Viggi Störteler, selbsternannter Stern am Literaturhimmel, will nach Vorbild der grossen Schriftsteller einen Briefwechsel mit seiner Frau beginnen. Diese sieht sich dazu ausserstande und holt sich mit einem Trick Hilfe beim Nachbarn, Schullehrer Wilhelm. Schon bald ist das Chaos perfekt.

Virginia Woolf: Orlando. Eine Biografie – ein Leben, das 350 Jahre umfasst und eine Verwandlung von einem Mann zur Frau, eine Reise durch Zeit und Raum. Ein wilder Ritt, ein Werk, das zur Zeit seiner Entstehung mit allen literarischen Konventionen brach, und auch eine Form von Autobiografie. «Orlando» hinterfragt die gängigen Geschlechterrollen, dient als Spiegel des damaligen Sittenkodex und ist zudem ein (teilweise autobiografischer) Künstlerroman.

Michael Krüger: Aus dem Leben eines Erfolgsschriftstellers – kleine Geschichten über die verschiedensten Menschen, die eines eint: Ihre Liebe zur Literatur. Es sind Geschichten, die die oft verworrenen Verbindungen in Familien in lakonischer Sprache offenlegen, zudem Geschichten, die immer auch von Büchern und vom Schreiben handeln.

Nächstes Mal kommt hier passend zu den kommenden Sommerferien ein Krimi-Special für ein paar unbeschwerte, spannende Lesestunden.

Ich wünsche euch eine schöne Woche!

Sigrid Nunez: Der Freund

«Denn es geht nur um den Rhythmus, hast du gesagt. Gute Sätze beginnen mit einem Taktschlag.»

Zuerst brauchte ich etwas Zeit, in den Rhythmus des Buches hineinzufinden. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der ehemalige Lehrer und bald engste Freund der Ich-Erzählerin stirbt, er hinterlässt drei Ehefrauen und einen Hund. Als die dritte und letzte der Angetrauten der Ich-Erzählerin sagt, dass der Verstorbene den nun depressiven Hund ihr zugedacht habe, erachtet sie das nicht als wirkliche Option. Aber: der Hund, eine Dogge namens Apollo, zieht ein – zuerst in die Wohnung und dann mehr und mehr ins Herz und ins Leben. Dass die Gefahr besteht, die Wohnung zu verlieren,weil diese keine Hundehaltung erlaubt? Egal, auch wenn das in New York keine banale Sache ist, wenn man eine neue zahlbare bräuchte. Das Argument, dass sie eigentlich Katzenmensch wäre, ist bald vergessen. Klar ist: Diesem Hund muss in seiner Trauer geholfen werden, er braucht einen Freund, der für ihn da ist – oder ist es nicht eigentlich umgekehrt? 

«Was sind wir, Apollo und ich, wenn nicht zwei Einsame, die einander schützen, grenzen und grüssen? Es ist gut, dass die Dinge klar sind. Wunder oder kein Wunder, was immer geschieht, nichts wird uns trennen.“

So oder so: Sigrid Nunez schrieb einen wunderbaren Roman über das Zusammenwachsen zweier Wesen, über eine Liebe, die tief geht. Sie schreibt zudem immer wieder auch über das Schreiben:

«Statt über das zu schreiben, was ihr wisst, hast du zu uns gesagt, schreibt über das, was ihr seht. Geht davon aus, dass ihr sehr wenig wisst und nie viel wissen werdet, ausser ihr lernt, zu sehen. Führt ein Notizbuch, um aufzuschreiben, was ihr seht, zum Beispiel, wenn ihr draussen auf der Strasse seid.»

*Der Freund» ist eine Geschichte über Risken und Verluste im Leben, über den Tod, über Freundschaft, über Hunde und deren Welt, wie sie durch Apollo nach und nach erfahrbar wird:

«Sie begehen keinen Selbstmord. Sie weinen nicht. Aber sie können zerbrechen und sie tun es. Ihre Herzen können brechen, und sie tun es. Sie können den Verstand verlieren, und sie tun es.»

Nicht zuletzt ist es eine Geschichte über das Loslassen. 

«Was wir vermissen – was wir verlieren und worum wir trauern -, ist es nicht das, was uns zuinnerst zu der Person macht, die wir wirklich sind.“

Am Schluss dieses Buches sass ich da und seufzte tief. Ums Herz war mir schwer und doch warm. Die Träne im Auge wäre zu kitschig, sie noch zu erwähnen, weswegen ich das lasse. 

Sigrid Nunez’ «Der Freund» ist ein Herzensbuch, eines, das man ungern aus der Hand legt, das man in einem Zug weglesen möchte und doch Angst hat, es könnte zu Ende gehen. Es ist ein Buch, das tief geht und da auch noch eine Weile bleibt. 

Gedankensplitter: Mutter

Mutter:  ein Mysterium im Universum, eine Rolle mit vielen Zuschreibungen, ein Ideal, ein Wunsch, eine Sehnsucht, die Ursache allen Übels und der hochgelobte Quell von Honig und Milch. Und alles davon ist oft geglaubt und ebenso oft reine Fantasie.

Kaum etwas ist so behaftet und so beladen wie das Muttersein. Von der Natur so eingerichtet, dass gewisse körperliche Gegebenheiten dazu führen, dass etwas in einem Menschen wächst und später mal in die Welt entlassen wird, sieht man sich als austragendes Wesen vom Zeitpunkt der Empfängnis mit den diversesten Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert. Die bedingungslose Liebe wird schon gefordert, bevor man die paar formierten Zellklumpen von blossem Auge sehen kann, das nun adäquate Verhalten von allen Seiten an einen herangetragen. Ist der neue Erdenbürger erstmal auf der Welt, nimmt das alles noch zu. Ein eigenes Leben? Vergiss es. Du hast nun für ein anderes Wesen da zu sein und zu sorgen. Daneben musst du selbstverständlich auch noch alles andere, was gesellschaftlich, privat und politisch gefordert ist, erfüllen. Das widerspricht sich oft? Egal. Dazu kommt: Kinder werden immer Kinder bleiben, also hört auch die Sorge nie auf – und die Zuschreibung. Alles, was dieses Kind irgendwann mal falsch macht, kann man auf die Mutter zurückführen. Weil sie war und tat, wie sie war und tat, ist das nun alles so.

Und so sitzen wir hier alle als Kinder von Müttern. Und ja. Sagen danke. In allen erdenklichen Tonlagen und Bedeutungsnuancen.  

Hier ein paar Mutterbücher passend zum Tag:

  • Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter – wenn am Gewicht der Mutter das ganze Familienleben aufgehängt wird – vordergründig.
  • Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter – wie sich an eine Mutter erinnern, die schöner und toller war als alle, wenn auch kühl und distanziert? Wie mit ihrem Freitod umgehen? Eine Suche nach Antworten über das eigene Aufwachsen.
  • Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter – Eine Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die keine ist und doch präsent.
  • Edouard Louis: Die Freiheit einer Frau – ein schonungsloser und liebevoller Blick auf die eigene Mutter, die den Weg in die Freiheit sucht
  • Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod – ein persönlicher und tiefgründiger Blick auf das Sterben der Mutter und die Erinnerungen, die dadurch ausgelöst werden
  • Gisèle Halimi: Alles, was ich bin – vom Aufwachsen als ungeliebte Tochter
  • Albert Cohen: Das Buch meiner Mutter – wehmütige Erinnerungen an eine Mutter, im Bewusstsein, sie zu Lebzeiten zu wenig gesehen und geschätzt zu haben.

Damit wünsche ich euch einen schönen Tag.

Arthur Schnitzler: Die Traumnovelle

«So gewiss, als ich ahne, dass die Wirklichkeit einer Nacht, ja dass nicht einmal die eines ganzen Menschenlebens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.»

«Und kein Traum», seufzte er leise, «ist völlig Traum.»

Was ist Realität? Was Traum? Ist, was wir im Wachen erleben, unsere Wirklichkeit oder zeigt die sich im Traum, wenn das Denken ausgeschaltet ist und sich die unbewussten Regungen an die Oberfläche bewegen, sich da zeigen, wirken, sicht- und fühlbar werden, um dann wieder zu verblassen bei Erwachen, gar oft ganz zu verschwinden? Arthur Schnitzler ist nicht der erste, den diese Frage bewegt. Schon Georg Büchner hat sie aufgeworfen. Sein «Lenz» schwankt auch zwischen Wachen und Traum, fragt sich danach, was blosses Spiel und Rolle, und was Realität ist.

Fridolin und Albertine leben mit ihrer kleinen Tochter ein glückliches Leben. Sie sind innig verbunden, einander zugetan. Als sie eines Tages beschliessen, sich alles sagen zu wollen, bekommt die heile Welt Risse. Albertine erzählt Fridolin von einem Traum, der ihn verwirrt und verstört. Die traumhaften erotischen Fantasien seiner Frau stellen alles, was er bislang von ihr und ihrer Beziehung zueinander glaubte, in Frage. In einer inneren Aufgewühltheit streift er durch die Strasse, sucht nach eigener Befriedigung. Die Erlebnisse dieser Nacht hallen tief nach, doch sieht er seinen Verrat an der Ehe mit Albertine ungleich geringer als den Albertines, die ihm von einem weiteren Traum erzählt, wodurch für Fridolin ihr Betrug klar und ein weiteres glückliches Zusammenleben unmöglich erscheint. Er sinnt nach Rache, sucht nach Möglichkeiten dafür und will Albertine schliesslich alles erzählen.

Und über allem steht die Frage: Was ist wirklich Wirklichkeit? Was ist blosser Traum?

Gedanken zum Buch

Zum ersten Mal las ich die Geschichte im Rahmen meines Studiums, als ich es mir zur Aufgabe machte, für die Abschlussprüfung Schnitzlers Gesamtwerk zu lesen. Vom Professor mit hochgezogener Augenbraue gefragt, ob ich das nochmals überdenken wolle in Anbetracht des Umfangs, bestätigte ich die Wahl und habe das nie bereut. Beim Wiederlesen weiss ich, wieso: Die Sprache Schnitzlers ist von einer Schönheit, wie man sie in der heutigen Literatur nicht mehr findet. Sein Blick in die menschliche Psyche, sein Erzählen, das einen in das Unbewusste seiner Figuren eintauchen lässt, sind grossartig. Schnitzler vermag, einen den Menschen in seiner ganzen Seinsfülle sehen zu lassen, er konfrontiert mit den unbewussten Beweggründen des menschlichen Handelns und öffnet den Blick für das, was im Menschen vorgeht.

Es gelingt ihm dabei aber auch, ein Zeugnis seiner Zeit und der Gesellschaft zu liefern. Ohne den Moralzeigefinger zu schwingen weist er auf die Doppelmoral im menschlichen Denken und Urteilen hin, zeigt die Rollen, in welchen die einzelnen Figuren verstrickt sind, und hinterfragt deren Aufrichtigkeit. Auf diese Weise gelingt es ihm, den Menschen in seinem Sein an sich und im Miteinander zu präsentieren, wodurch der Leser immer auch auf sich selbst zurückgeworfen wird, indem er merkt, dass dies auch ihn selbst betrifft.

Schnitzler ist für mich ein sicherer Wert. Zu ihm kann ich immer greifen, wenn ich eine Leseflaute habe, wenn ich wieder eine sichere Lesefreude erleben möchte. Er enttäuscht mich nie.

Zum Autor

Arthur Schnitzler wird am 15. Mai 1862 in Wien geboren, besucht da das Gymnasium und studiert anschliessend Medizin. Er arbeitet erst als Assistenzarzt und in Kliniken, später eröffnet er eine eigene Praxis. Schon da ist er der Literatur zugewandt. Sein Leben war bewegt, viele Frauen säumten seinen Weg. Schrieb er anfänglich hauptsächlich Dramen, wandte er sich später mehr Erzählungen zu. Allen gemeinsam war sein Blick auf die Innenperspektive der Menschen, die psychologische Sicht auf ihr Leben. Schnitzler starb am 21. Oktober 1931 an einer Hirnblutung. Von ihm erschienen sind unter anderem Der Reigen, Fräulein Else, Das weite Land, ThereseAnatol.

Kurzes Porträt Arthur Schnitzlers: HIER

Inspirationen für die Woche – KW 19

Neue Woche, neue Inspirationen. Es war eine spannende Woche, eine, bei denen ich mich durch die verschiedensten Bücher blätterte und mich auch sonst inspirieren liess.

Nach Immanuel Kant kommt Franz Kafka – auch der ist im Moment hoch im Kurs. Und wie es so ist in der Bücherwelt, kommen in solchen Zeiten auch viele Bücher auf den Markt. Doch es sind nicht nur die Neuen, die ich ans Herz legen möchte, hier eine kleine Auswahl von mir:

Wer sich für Kafkas Leben und Schaffen interessiert, dem würde ich folgende Bücher ans Herz legen:

  • Alois Prinz: Auf der Schwelle zum Glück. Die Lebensgeschichte des Franz Kafka
  • Reiner Stach: Ist das Kafka? 99 Fundstücke
  • Rüdiger Safranski: Kafka – Für Kafka war sein Schreiben das zentrale Element im Leben. Rüdiger Safranskis Herangehensweise über dasselbe ist also nicht nur nicht abwegig, sondern sogar sehr klug. Da ich seine Bücher generell sehr lesenswert finde, kann ich auch dieses nur ans Herz legen.
  • Franz Kafka: Tagebücher (drei Bände in der Originalfassung nach der Handschrift, Fischer Verlag 2008)

Ein Buch, das mich arg durchgerüttelt hat beim Lesen und von dem ich nicht weiss, was ich genau davon halten soll, ist dieses:

Elke Naters:  Alles ist gut bis es das dann nicht mehr ist – Elke Naters nimmt den Leser mit auf ihren Lebensweg nach dem Tod ihres Mannes, Lebensgefährten, ihrer grossen Liebe, dem Menschen, mit dem sie schlicht das Leben teilte, das sich durch dieses Miteinander irgendwie definierte. Was bleibt, wenn einer geht? Wie weiter, wenn der, auf welchen man baute, nicht mehr ist? Es ist kein wehleidiges, kein tränentriefendes Buch und doch hat es mich förmlich in den Abgrund gesogen. Ich wurde melancholisch, traurig, demotiviert beim Lesen. Es tat mir nicht gut und doch wollte ich es nicht weglegen. Elke Naters schreibt sehr offen über die Hochs und Tiefs, über ihren durchaus lebensbejahenden, aktiven, mutigen Umgang mit dem Verlust, und doch. Es tat mir nicht gut. Das ist aber wohl eine persönliche Geschichte. Dass ich das Buch trotz allem nicht aus der Hand legen konnte, spricht für das Buch. Ich wollte wissen, wie es ausgeht, im Wissen, dass man das nie abschliessend sagen kann, schon gar nicht so schnell nach diesem Umbruch im Leben.

Ein Zitat von Picasso hat sich diese Woche bewahrheitet:

«Die Inspiration existiert, aber sie muss dich beim Arbeiten finden.»

Ich kam seit einer Weile nicht wirklich in die Gänge, Prokrastinierte mit allem, was sich finden liess und wurde darüber merklich unzufrieden. Irgendwann hielt ich es so mit mir selbst nicht mehr aus, zwang mich hinzusitzen und legte los. Es wurde anstrengend, was ich befürchtet hatte, aber es lief plötzlich wie von selbst, ich mochte gar nicht mehr aufhören. Seit da bin ich wieder im Fluss und es geht vorwärts. Das fühlt sich gut an. Das beste Mittel gegen Arbeitsblockaden oder mangelnden Antrieb: Hinsetzen und tun. Klingt einfach, ist es nicht immer, lohnt sich aber.

Als ich am Mittwoch in die Zeitung schaute, entwich mir ein lautes «Oh nein». Paul Auster ist gestorben. Dass er krank war, wusste ich lange, doch ans Sterben hatte ich doch nicht gedacht. Nicht jetzt. Nicht so schnell. Ich habe ihn erst spät entdeckt. Als Name war er schon lange präsent. Immer dachte, ich will unbedingt was lesen. Das intensivierte sich, als ich mich mit Siri Hustvedt, seiner Frau auseinandersetzte. Vom Leben der beiden mehr erfuhr, vom Engagement. Doch gelesen habe ich ihn nie. Bis zu Baumgartner. Den las ich. Und liebte ich. Und dachte, ich will mehr von ihm lesen. Dazu kam es leider noch nicht. Nun zeigt sich das vielleicht als etwas Positives: Ich habe noch alles vor mir. Zwei Bücher habe ich bereits bestellt.

Hier ein Nachruf aus ZEIT ONLINE von Volker Weidermann, den ich generell sehr mag: Seine innige Verbundenheit mit der Welt.

Folgendes Buch kann ich sehr empfehlen:

Paul Auster: Baumgartner

Fast zehn Jahre ist es her, dass Baumgartners Frau Anna gestorben ist. Zehn Jahre, in denen er scheinbar wie früher weiterlebte, und doch nichts wie früher war. Baumgartner hält nur den Schein aufrecht, er stürzt sich in die Arbeit, in immer neue Buchprojekte. Anna war Dichterin und Übersetzerin. Eines Tages geht er in ihr Arbeitszimmer, das bis heute aussieht, wie sie es verliess. Er findet ihre Manuskripte, liest sie. Er erinnert sich an Anna, an ihre gemeinsame Geschichte, an das Leben, als es noch seines war. Das Leben gibt es nicht mehr, ein neues stellt sich nicht ein. Bis er eines Tages von Anna träumt. Nach diesem Traum ist alles anders. Nun fühlt er sich frei, sein eigenes Leben wieder in die Hand zu nehmen. Wohin es ihn wohl führen wird?

HIER die vollständige Rezension dazu.

Was habt ihr von ihm gelesen? Welches Buch könnt ihr speziell empfehlen?

Habt eine gute Woche!

Lesemonat April 2024

«April Laut flötet der Wind durch den Haselnußstrauch,
Schneeflocken durchwirbeln den Hain,
Bald Hagel, bald Regen und eisiger Hauch,
Bald lachendster Lenzsonnenschein.
Ich weiß ja, daß kurz dieser Sonnenblick dauert,
Daß Hagel und Regen und Schneefall schon lauert
Und Nordwinds erstarrendes Wehn,
Und dennoch mich freudige Hoffnung durchschauert,
Es ist ja so schön, ja so frühlingshaft schön.»

Hermann Löns

Was für ein Monat. Weil: Irgendwie so nichtssagend. Blass. Nur das Wetter machte ihm alle Ehre. Es war durchzogen, durchtrieben. Ich schwitzte, fror, zog Schichten über Schichten, zog sie wieder ab. Hängte Winterkleider weg, um sie wieder zu holen. Und sonst? Ich weiss es schlicht nicht. Ich habe gelesen, mehr als im März. Ich habe geschrieben. Ich war getrieben. Nichts Neues. Wusste nicht ganz, wohin. Auch nicht neu. Ich glaube, es gibt hier nichts weiter zu sagen. Er war nicht schlecht, der April, lassen wir die Bücher sprechen. Meine Highlights. Und nun wird es schwierig, denn es war ein toller Lesemonat. Jedes Buch hätte einen Sonderstatus verdient. Fast jedes. Die Highlights… Trommelwirbel:

Michael Schmidt-Salomon, «Evolution des Denkens». Zuerst dachte ich, das Verhältnis Biografie/Geschichte zu den Gedanken falle für mich zu einseitig aus, ich hätte mehr über die Gedanken erfahren wollen. Doch das änderte schnell. Es griff alles ineinander über und gerade der Blick auf die Lebensumstände zeigte die Motivation der einzelnen Denker. Ein Buch zum Mitdenken, zum Staunen, zum immer mal wieder «Aha, so war das» denken. Ein grossartiges Buch, eines, das gelesen werden sollte.

Sigrid Nunez, «Der Freund». Ich gebe zu, ich hätte am Anfang fast abgebrochen. Zu abgehackt, zu wenig klar. Ich kam in keinen Lesefluss. Irgendwas sagte mir, ich solle dranbleiben. Zum Glück. Was hätte ich verpasst. Ein Buch, das für mich einen richtigen Sog entwickelte. Es weckte Gedanken, Gefühle. Ganz grosses Kino.

Elke Naters, «Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr ist». Irgendwie war es kein Highlight. Und irgendwie doch. Ich kann nicht sagen, was mich weiterlesen liess. Ich kann auch nicht sagen, womit ich immer wieder haderte. Es ist ein Buch, mit dem ich ständig im Clinch lag. Und ist nicht auch gerade das grossartig bei einem Buch? Irgendwie.

Was habt ihr im April gelesen? Kennt ihr das, dass ihr Bücher lest, die ihr irgendwie nicht fassen könnt?

Hier die ganze Liste:

Tessa Hadley: Das Jahr der Veränderungen – abgebrochenKate zieht zurück an den Ort ihrer Kindheit, um ihre Mutter zu pflegen, zu der sie eine merkwürdige Nicht-Beziehung zu haben scheint. Sie trifft auf ihre Jugendliebe, die in Eheproblemen steckt, dessen Sohn, der sich angezogen fühlt und wird bei all dem immer mehr von der Vergangenheit eingeholt. Alles plätschert vor sich hin, das einzige, was sich in dieser eher eintönigen Geschichte abhebt, ist die Sprache, die vom Stil her sehr prägnant ist. Allerdings muss einem dieser Sprachstil liegen, sonst ist es noch schwerer, das Buch mit Genuss zu lesen.
Arthur Schnitzler: Die TraumnovelleDie Geschichte von Fridolin und Albertine, einem jungen Ehepaar mit einer kleinen Tochter, verbunden in einer innigen Beziehung, die Risse bekommt, als sie beschliessen, sich alles zu sagen. Die jeweiligen erotischen und Fantasien und Hoffnungen verwirren nicht nur jeden für sich, sondern führen auch zu emotionalen Abgründen miteinander. 5
Michael Schmidt-Salomon: Die Evolution des Denkens10 grosse Denker, ihr Leben und Schaffen im Blick, um daraus Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Michael Schmidt-Salomon zeigt, dass all die klugen Geister ihr mutiges und neugieriges Denken und Forschen, ihre Unabhängigkeit, ihr Sinn für Vernetzung und ihr offener Blick sowie der Umstand, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, zu den Denkriesen machte, als die wir sie heute sehen. Was können sie uns also zeigen, was uns für unsere Zeit nützt? Ein sehr informatives, kurzweiliges, packendes Buch.5
Simone de Beauvoir: Auge um AugeSimone de Beauvoir hinterfragt in diesen Essays die Welt und die Menschen, die in ihr agieren. Durch den Krieg politisiert und der Überzeugung, dass es Pflicht ist, sich in dieser Welt zu positionieren und zu engagieren, schaut sie kritisch auf den Menschen und seine Glaubenssätze, hinterfragt Begriffe wie Moral, Strafe, Rache, Hass und mehr. Sie legt dar, was der Existenzialismus ist und was er will und blickt auf die Literatur, und was sie uns zeigen kann, wo Philosophie stockt. 5
Sarah Bakewell: Wie man Mensch wirdSarah Bakewell rollt die Geschichte des Humanismus von Anfang an auf. Was heisst es, humanistisch zu denken und zu handeln? Worauf gründen Entscheidungen, was macht den Menschen aus? Ausgehend von der Idee, dass der Mensch im Kern gut sei, bildete sich vor über 700 Jahren eine Lebenshaltung aus, deren Ziel es ist, den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zum Menschen zu machen, der er ist: ein freies, glückliches, im Hier und Jetzt lebendes Wesen, dem das friedliche Miteinander am Herzen liegt, weswegen er auf Mitgefühl und Verantwortung setzt statt auf Gebote und Gesetze. Bakewell erzählt aus dem Leben verschiedener Literaten, Künstler, Denker und zeigt ihre Lebens- und Denkwege auf. Für mich etwas viel Geschichte und zu wenig Denken, was aber subjektiven Vorlieben geschuldet ist. 4
Anne Pauly: Bevor ich es vergesseAls Anne Paulys Vater stirbt, müssen sie und ihr Bruder die Formalitäten regeln und die Abdankung planen. Die Konfrontation mit dem toten Vater, mit den Erinnerungen an die vielfältigen Erfahrungen, Gefühle, Erlebnisse aus der gemeinsamen Vergangenheit sowie die Aufarbeitung der zurückbleibenden Gefühle an diesen Menschen, der so viele Seiten in sich trug, vom gewaltvollen Alkoholiker über den Liebhaber von Gedichten bis hin zum Interessierten für Spiritualität und östliche wie westliche Philosophien handelt dieses Buch. Es ist ein Buch über Liebe, Gewalt, Trauer und Trost, es ist ein Buch über Abschied und ein Buch über eine Beziehung zwischen Vater und Tochter.5
Patrick Kaczmarczyk: Raus aus dem Ego-Kapitalismus. Für eine Wirtschaft im Dienst des MenschenEine konzise Analyse des kapitalistischen Systems heute mit ihren Ungleichheiten und prekären Auswüchsen für viele Menschen. Eine Darlegung der neoliberalen Glaubenssätze mit ihren falschen Versprechungen und zerstörerischen Auswüchsen sowie der Wirkweise von Ideen in der Gesellschaft. Als Lösungsweg wird ein Kapitalismus propagiert, der sich weniger an der Gewinnmaximierung einzelner Weniger, sondern an einer christlichen Ethik des Miteinanders orientiert. Ein fundierter Augenöffner und eine kompetente Analyse, die am Schluss für einen Agnostiker zu bibellastig wurde. 4
Julia Korbik: SchwesternEine Darstellung des Feminismus, wie er sich in den letzten Jahren entwickelt hat, die Vorstellung einzelner Feministinnen und Strömungen. Eine Analyse der Schwierigkeiten, die ihn seit jeher begleiten, allen voran die Konzentration auf das Trennende, die Exklusion statt Integration von unterschiedlichen Bedürfnissen und Kampfthemen. Und nicht zuletzt ein Aufruf zu mehr Miteinander, zu emphatischem Hinhören und gemeinsam Einstehen für die Sache, die allen gemeinsam ist: Eine gerechtere Welt mit mehr Gleichberechtigung – für alle. Nichts Neues, aber das Alte gut zusammengefasst. 5
Simone de Beauvoir: Der Lauf der DingeSimone de Beauvoir erzählt von ihren Reisen mit Sartre, von ihrer Beziehung zu Nelson Algren und Claude Lanzman sowie verschiedenen Bekanntschaften und Freundschaften. Sie breitet ihre Angst vor dem und die Melancholie über das Altwerden aus und zeichnet ein Bild ihrer Zeit mit den Kriegen, politischen Zerwürfnissen, der Stimmung der Menschen und den Lebensumständen generell. Es ist ein persönliches Buch und ein Zeitzeugnis gleichzeitig. 5
Didier Eribon: Eine ArbeiterinDidier Eribons erzählt von seiner Mutter, vordergründig, in tat und Wahrheit erzählt er mehr von sich und seinem Verhältnis und Verhalten der Mutter gegenüber. Er liefert eine Sozialstudie dessen, was es heisst, alt zu sein, Minderheit zu sein, einer unteren Klasse zuzugehören, er zeigt die Zerwürfnisse und Schwierigkeiten in Familien, und er ruft dazu auf, den Alten eine Stimme zu geben, denen, die keine eigene mehr zu haben scheinen, weil keiner mehr hinhört. Nicht sein bestes Buch, trotzdem sehr lesenswert. 4
Sigrid Nunez: Der FreundAls ihr Freund stirbt, hinterlässt er nicht nur eine grosse Lücke in ihrem Leben, sondern auch seinen vor Trauer depressiven Hund, eine Deutsche Dogge. Abgesehen davon, dass sie Gefahr läuft, ihre Wohnung in New York zu verlieren, weil da keine Hunde erlaubt sind, wollte sie nie einen Hund haben. Sie war Katzenmensch. Die Geschichte eines Zusammenwachsens, einer Liebe, die tief geht und viel ans Licht holt. Gedanken zum Schreiben, zum Tod, zu Liebe und Freundschaft – und eine Geschichte vom Loslassen. 5
Colombe Schneck: Paris-Trilogie: Ein Frauenleben in drei RomanenAls Tochter einer bürgerlichen jüdischen Familie wächst Colombe ohne Sorgen zu haben und welche bereiten zu wollen auf. Als sie mit 17 ungewollt schwanger wird, stellt das all dies in Frage: die Herkunft, die Sorglosigkeit, den Drang, perfekt sein zu müssen, um geliebt zu werden. Viele Fragen tauchen auch auf, als ihre beste Freundin Héloise fiel zu früh stirbt. Waren sie wirklich so stark und emanzipiert gewesen, wie sie sich immer gaben? Und was, wenn man erst 50 werden muss, um eine intensive, vielleicht gar glückliche Liebe zu erleben? Was sagt das über einen selbst aus? Drei Geschichten aus einem Leben, erzählt mit einem klaren Blick, Offenheit und Gefühl.4
Catherine Cusset: Janes Roman – abgebrochenEie Frau erhält ein Paket mit einem Manuskript, in welchem sie ihre eigene Geschichte liest und sich fragt, wer sie so gut kennt, dass er die innersten Gedanken und Geheimnisse kennt. Was spannend klingt, hat mich leider in der Umsetzung nicht gepackt, so dass ich abgebrochen habe. 
Lea De Gregorio: Unter Verrückten sagt man duLea De Gregorio erträgt das Lebe nicht mehr, sie wird verrückt und kommt in die Psychiatrie, nachdem man sie entmündigt hat: Alle entscheiden nun für und über sie, sie ist allem ausgesetzt, Entscheiden, Medikamenten, Behandlungen, Massnahmen. Ist das der richtige Weg zur Heilung? Wie sah das früher aus? Was ist richtig, was falsch? Welchen Stellenwert hat sie noch in der Gesellschaft? Ein wichtiger und guter Blick über unseren Umgang mit Menschen, die nicht in der von uns definierten Norm leben.4
Elke Naters: Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr istAls Elke Naters Mann Sven stirbt, verliert sie nicht nur den wichtigsten Menschen in ihrem Leben, sondern das Leben, wie es bislang war, mit ihm. Sie beschreibt in ihrem Buch, wie sie mit diesem Verlust umgeht, wie die Trauer sie übermannt, welche Gedanken sie umtreiben. Sie hat ein Buch geschrieben, das tief ist, das persönlich ist, das mitnimmt, bewegt, berührt, aber auch Mut machen kann. Das Leben geht weiter. Und es ist gut. Nur anders. Irgendwie hat mich das Buch runtergezogen, es lastete zu schwer über weite Strecken. Der positivere Schluss konnte das nicht mehr ändern. 4

Gedankensplitter: Liebe zur Literatur

«Wer Bücher liest, schaut in die Welt und nicht nur bis zum Zaune.» Johann Wolfgang von Goethe

Wenn ich mir die aktuellen Neuerscheinungen im Bereich Philosophie und Soziologie anschaue, frage ich mich manchmal: Welchen Lebensbezug hat all das noch? Wie oft betreffen die gestellten Fragen wirklich den Menschen in seinem Sein, in seinem Alltag, den jeder zu bestreiten hat? Sogar lebensrelevante Fragen der Politik und des Zusammenlebens werden auf eine Weise thematisiert, dass ihnen jeglicher konkrete Lebensbezug genommen ist. Verfasser der Bücher sind mehrheitlich sehr intelligente, oft namhafte Grössen des Universitätsbetriebs oder aber der frei forschenden Intelligenzia. Manchmal scheint es, als ob sie sich gegenseitig die Bälle zuspielten, wie ich dereinst auf dem Pausenplatz am Pingpongtisch.

Ich habe mich lange in diesem hochgeistigen Umfeld bewegt. Und ja ich tat es gerne, ich ging darin auf, weil es etwas war, das ich konnte. Es lag mir, mich in Gebiete zu vertiefen, sie zu erfassen und sie auf konzise Weise wieder von mir zu geben. Das gab mir eine Rechtfertigung für mein Tun, das ich mir hart erkämpft hatte als Klassenaufsteigerin, die ich war, geschlagen noch mit diversen Eigenheiten, die nicht mehrheitskompatibel waren. Es war ein Feld, in dem ich mich behaupten konnte. Ich hatte das dringend nötig, da ich ausser meinem Geist nicht viel hatte, auf das ich vertraute im Leben, vor allem nicht in Bezug auf mich und meinen Stand in diesem.

Nietzsche sagte einst, dass alle Philosophie obsolet sei, wenn sie nicht zum Leben tauge. Ob seine eigene diesem Anspruch genügte, mag ich bezweifeln, doch abgesehen davon stimme ich ihm zu. Schaut man in die Welt, sieht man da Probleme, die in neuen philosophischen Büchern und den meisten geführten Diskussionen kein Thema mehr zu sein scheinen. Die behandelten Themen in der Politik und in den Universitäten haben mit denen des wirklichen Lebens wenig gemein. Die ehemals linken Kreise, die sich um Armut sowie Ausnutzung und Diskriminierung von Unterprivilegierten bemühten, haben sich auf Nischen verlegt, mit denen sich die Mehrheit der Not leidenden Menschen nicht mehr identifizieren können, die rechten Parteien sahnen ab, weil sie vordergründig lebenspraktische Anliegen behandeln. Wir mögen am Schluss vielleicht eine Sprache definiert haben, die keiner mehr sprechen kann, und für alle Befindlichkeiten entsprechende Toiletten gebaut haben. Daneben darben alte Menschen in Armut, alleinerziehende Mütter wissen nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, und einst hart erkämpfte Rechte (straffreier Schwangerschaftsabbruch z. B.), werden nach und nach wieder eliminiert. Ich bin mir der Plakativität dieser Aussagen bewusst, doch sie ist ebenso gewählt.

Die Philosophie hätte so viel zu sagen. Es ist eine Disziplin, die den Überblick hat, und das in einer Zeit, in der man alles in immer noch kleinere Einheiten fasst und die Interdisziplinarität ignoriert, obwohl die wirklich grossen Denker, die wir noch heute kennen, immer das grosse Ganze betrachtet haben und sich ihr Erfolg gerade daraus speiste. Es scheint fast, als hätte Hannah Arendt recht gehabt, als sie sinngemäss sagte, dass da, wo die Philosophie endet, die Literatur einsetzt, weil vieles nicht in abstrakten Begriffen zu erfassen sei, sondern in Geschichten erfahrbar werde.

Die gelehrten Philosophen, die in ihrem Elfenbeinturm sitzen und sich an ihren geistigen Höhenflügen ergötzen, rümpfen oft die Nase über die, welche Geschichten erzählen. Das erscheint ihnen als eine minderwertige Form des Ausdrucks und die Geschichten werden oft als Befindlichkeiten abgetan. Diese Geringschätzung von Autor und Form war auch der Grund, wieso einst Peter Bieri unter Pseudonym zum Romancier wurde. Er hatte recht daran getan, denn als es aufflog, sank er in der Achtung seiner Fachkollegen merklich. Er hat es zum Glück gut verkraftet und seinen Lesern (und seinen Studenten) viel geschenkt).

Wenn man bedenkt, dass der Mensch seit Urgedenken Geschichten erzählt, dass das Erzählen von Geschichten gar oft als den Menschen ausmachende Seinsweise definiert wird, verwundert diese Geringschätzung auf den ersten Blick. Auf den zweiten könnte man sie so deuten, dass man sich durch den abstrakt elaborierten Code über das Allgemeinmenschliche erheben und zum Übermenschen werden möchte. Und ja, wer träumt nicht vom kleinen bisschen Ruhm, vom erhabenen Moment als Pfau im Hühnerstall. Aber vielleicht ist es auch ganz anders:

Beim Schreiben über all das, fällt mir auf, wie sehr sich meine Sprache der Materie anpasst. Die vielen wissenschaftlichen Artikel und Beiträge haben sich in mein Schreiben eingebrannt. Während meine literarische Sprache einen eigenen Stil hat, der komplett anders ist, verfalle ich ohne es zu wollen oder bewusst zu wählen beim Schreiben eines sachlichen Themas in den Duktus der Fachsprache. Eine spannende Selbst-Beobachtung, die eine weitere Möglichkeit der Erklärung mit sich bringt.

Ich trug immer beide Lieben in mir: die zur Literatur und die zur Philosophie. Angefangen hat alles mit Literatur, danach schwang mal die eine, mal die andere oben auf. Missen würde ich keine wollen, doch merke ich, dass das Pendel mit zunehmendem Alter wieder dahin zurückschlägt, wo ich herkam: zur Literatur. Ich bin sehr dankbar für die Philosophie im Rücken, als Unterbau, als Denkschule, als Zettelkasten, auf welchen ich immer wieder zurückgreifen kann beim Lesen und Schreiben. Aber: Die Philosophie, wie ich sie heute erlebe, in all ihrer Abgehobenheit, ihrem Anspruch, ihrer Geziertheit, sie holt mich nicht mehr ab, sie spricht nicht mehr zu mir. Es ist und bleibt immer das gleiche, was mich umtreibt: Der Mensch in seinem Lebensumfeld, sein Sein und Mit-Sein. Ich suche es in den Büchern, ich finde es in der Literatur. Und ja, in ihr steckt alles drin: Philosophie, Kultur, Zeitgeschichte, Lebensrealität. Man muss sie nur finden. Und das kann jeder für sich selbst tun. Für mich ist das ein Stück Freiheit.