Das Leben ist kein Wunschkonzert

Clara. Ledig, Single, Anfang 50. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als einen Mann. Jeder ihr ins Blickfeld kommende Mann wird als potentielles Objekt der Begierde abgecheckt. Das Zusammensein mit dem Mr. Right wird in schillernden Farben ausgemalt, sie lechzt förmlich danach. Selbst wenn sie ihn nur schnell im Supermarkt an der Kasse sah, weiss sie, dass er der Mann ihrer Träume sein könnte, mit dem sie gemeinsame Schaumbäder einlassen, in die Sterne schauen, den neusten Tatort diskutieren und die gemeinsame Zeit geniessen könnte. Sie sieht das Bild, wie sie zusammen durch die grüne Natur schlendern, an Konzerten abrocken, im Kino Taschentücher austauschen und auf der Parkbank Händchen halten vor sich. Jede freie Minute möchte sie mit ihm verbringen.

Doch er zahlt und geht. Aus den Augen, aus dem Sinn, denn in der Garage steht der nächste Anwärter, kurze braune Haare, blaue Augen, ein umwerfendes Lächeln. Mit dem würde das alles noch viel besser gehen. Die einsamen Abende wären Geschichte, die nutzlosen Sonntage ebenso. Das Leben wäre lebenswerter, angeregter, ausgefüllter, denn da wäre jemand, mit dem man es teilen könnte. Und alle Sehnsüchte werden in die potentiellen, immer wieder wechselnden, Objekte gepackt. Leider sind sie alle genauso schnell weg, wie sie kamen.

Damit sich Clara keine Blösse geben muss, propagiert sie das tolle Singleleben, schwärmt von interessanten Kontakten, hält hoch, keine Socken waschen und Hemden bügeln zu müssen. Und überhaupt, sie möchte gar keinen Mann, sicher in der nächsten Zeit. Bis – ja bis… der nächste auftaucht.

Susanne, Anfang 40, verheiratet, zwei Kinder. Es gab Zeiten, da genoss sie ihre Freiheit, flippte rum, war im Ausgang, verdrehte den Männern die Köpfe. Dann wieder Zeiten, da war sie in Beziehung. Nie ganz einfach, nie wirklich schlimm. Und dann waren da die Zeiten, da war sie alleine und hatte sich mit dem Alleinsein arrangiert, weil es ganz ok war. Sie tat, was ihr lag, meistens nicht viel Spektakuläres, sondern einfach nur das, was ihr und ihrem Rhythmus entsprach. Dieses völlige auf sich gestellt sein gefiel ihr gut. Es hätte ewig so weiter gehen können. Ab und an sah sie am Wochenende Paare gemeinsam einkaufen. Dachte, das wäre schön. Wünschte sich das kurzzeitig auch, um dann wieder die ruhigen Abende für sich zu geniessen. Und just da tauchte der Mann auf. Sie heirateten, kriegten Kinder. Der langgehegte Traum ging in Erfüllung. Was Susanne fehlte, waren die Momente für sich. Einfach mal nur sein, ohne Erklärung, ohne Rechenschaft. Mal alleine, sie für sich. Susanne hörte von Singlefreundinnen, die  Mädelsabend hatten, hörte von Abenden im Schaumbad mit Sekt und Buch, malte sich einen Abend im Gammellook vor dem TV aus. Sie schickte ihren Mann ab und an mit Kinderwagen auf Erkundungstour in die Stadt und stiess bei ihren Singlefreundinnen auf Unverständnis: Du bist nicht bei deinen Liebsten? Wieso das denn? Ich gäbe die Welt dafür. Susanne gab in dem Moment grad die Welt für ein paar Minuten durchatmen. Freiheit. Wenn auch auf Zeit.

Und immer scheinen die Trauben in Nachbars Garten süsser. Vermisst man im Singleleben die gemeinsamen Stunden, fehlen im gemeinsamen Leben die einsamen. Man neigt dazu, das Leben des anderen zu glorifizieren. Sieht in Einsamkeitsphasen nur, was einem fehlt, sieht ihn Zweisamkeitsphasen, was man mal hatte, damals nicht schätzte.

Das Leben ist nie perfekt. Man selber ist es nicht. Irgendwas fehlt immer und irgendwas ist immer zuviel. Vermutlich ist die Kunst, zu sehen, was man hat, dies zu schätzen, um dann das Zuviel und das Zuwenig zu ertragen. Ideal wäre ein Singleleben, in dem immer dann jemand da wäre, wenn man sich einsam fühlte, oder eine Beziehung, in welcher immer genau dann Abstand herrschte, wenn man diesen brauchte. Nur sind Menschen keine Batteriewesen und jeder hat seinen eigenen Rhythmus. Und so kommt es, dass man in Beziehungen oft dann alleine ist, wenn man es nicht möchte, dann zu zweit, wenn man Zeit für sich sucht. Alleine ist man oft dann einsam, wenn einem nach anderen Menschen ist, in Massen, wenn man sich verkriechen wollte.

Das mag nach einer pessimistischen Sicht aussehen. Ist es bei Weitem nicht. Zu sehen, was man Gutes hat, hilft, sich bewusst zu werden, was man braucht und sucht. Und wenn man das weiss, kann man sein Leben im Miteinander und im Alleinsein so einrichten, dass es genau das Leben ist, das einem gut tut. Geniessend, was ist, wissend, was fehlt, daran nicht verzweifelnd, sondern dankbar, dass es noch Ziele und Wünsche gibt, die das Leben vorantreiben. Im Wissen, dass man schon sehr viel hat, das gut ist. Und gewollt. Und gebraucht.

Biologie überbewertet?

Jede 2. Ehe wird geschieden. Dabei verlieren viele Kinder ihre Ursprungsfamilie. Neue Menschen dringen ein, wenn die Mutter sich neu bindet, der Vater zu neuen Ufern aufbricht. Was ist heute noch normal? Was ist eine Familie? Wie definiert man sie? Und wo bleibt das Kind in dem ganzen Schlamassel?

2 Minuten Spass, die Folgen sind frappant: eine Lebensaufgabe. Solch weitreichenden Konsequenzen sind kaum je zu erwarten, nur bei einem – der schönsten Nebensache der Welt. Kurz die Zweisamkeit genossen, kann daraus etwas entstehen, das alles Gedachte übersteigt. Neues Leben entsteht. Und damit fangen die Probleme an.

Im besten Fall träumt man von Familie, Kindern, dem ganzen schönen Leben, wie es im Bilderbuch erscheint. Die Realität heute sieht anders aus. Dass es ungewollte Kinder gibt, lassen wir mal aussen vor, traurig genug. Aber auch die gewollten kommen nicht mehr immer in den Genuss einer heilen Familie, wie sie in Heimatfilmen vorkommt. Man hätte den Märchen glauben sollen, denn schon diese sind nicht eitel Sonnenschein, sondern strotzen von bösen Stiefmüttern, mörderischen Vätern und dergleichen mehr.

Wenn ich zurück denke, an meine Kindheit: Woran erinnere ich mich? An gemeinsame Zeit, an Dasein, an das Taschentuch, das Tränen trocknete, die Hand, die Hustensirup reichte. Ich erinnere mich an gebaute Legostädte, an starke Schultern und kitzelnde Hände. Ich erinnere mich an Schokoladenkuchen zum Geburtstag und an gemeinsame Ausflüge. Ich erinnere mich an gemeinsame Zeit. Samen und Zellen? Blut? Davon wusste ich nichts. Ich hatte das Glück, Blutsverwandte als Eltern zu haben. War das relevant?

Es gibt Beispiele von Kindern, die bei Grosseltern aufwachsen. Es gibt Beispiele von Kindern, deren Eltern starben, die ihre Pflegeeltern lieben, wie eigene – ob es genau so ist, weiss man nie, jeder fühlt nur, was er fühlt. In den Anderen hineinschauen und –fühlen, um zu vergleichen, geht schlecht.

Meine These in dem Ganzen ist: Die gemeinsame Zeit, gemeinsame Erinnerungen, der sichere Hafen, der Halt in der Not – das sind die Dinge, die binden, die Familie ausmachen. Was kümmern da zwei Minuten Spass am Anfang, was kümmert Blut? Es ist die Herkunft, bringt vielleicht ein paar Veranlagungen mit sich (wie viele ist noch umstritten, die Wissenschaftler arbeiten dran). Doch lebendige Verbindungen sind anderswo zu suchen.  Sie entstehen da, wo ein Miteinander stattfindet. Wo Vertrauen aufgebaut wird. Wo ein Austausch ist. Das alltägliche Umfeld ist das, was prägt. Was das Zuhause ausmacht.

Familie wächst, sie ist nicht durch einen quasi Urknall geschaffen. Familie entsteht mit der Zeit und mit der Bereitschaft, sich einzulassen, sich einzusetzen. Man kann sich nicht durchschmuggeln. Man kann sich nicht einkaufen. Das funktioniert kurzfristig, aber nie auf Dauer. Am Schluss siegen Gefühle. Und die entstehen, wenn das Kind sich aufgehoben fühlt und sich ernstgenommen wähnt. Das hat jeder in der Hand, dazu braucht es keine Gesetze, die an alten Mustern festhalten wollen.

Nimmt man das und schaut auf die heutige Welt, ergeben sich neue Modelle: Kinder können viele Bezugspersonen haben.  Jeder kann sich seine Rolle selber zuschreiben. Und wenn man das im Kopf hat, niemand denkt, ein anderer nimmt einem was weg, sondern sieht, dass der dem Kind was gibt, dann wäre ein Miteinander möglich, das im Sinne des Kindes wäre. Und damit mittel- und langfristig im Sinne der Gesellschaft.

Der Halt im Leben

Man ist Kind, wächst auf unter der Obhut der Eltern. Zwar findet man nie alles toll, was die tun, findet vieles sogar ungerecht, falsch, zu streng, völlig daneben. Und doch sind sie ein sicherer Hafen (im guten Fall), ein Halt, ein Auffangnetz.

Irgendwann setzt die Pubertät ein. Man strampelt sich frei, rebelliert, setzt sich gegen die Eltern, steht auf, will eigene Wege gehen. Und doch sind sie im Ernstfall immer noch da (im besten Fall) und sind Halt, Stütze, Zuhause. Der sichere Wert, auf den man bauen kann.

Man wird erwachsen, zieht aus, geht wirklich eigene Wege. Die Eltern bleiben da. Auf Distanz, mal mehr, mal weniger, sie sind ein fester Bestandteil des Lebens. Sogar wenn man verkracht ist, sind sie ein Orientierungspunkt. Entweder will man sein wie sie oder gerade anders. Immer aber sind sie der Punkt, der ein sicherer Wert ist. Man fühlt sich nie verloren.

Beziehungen kommen, sie gehen. Die zu den Eltern bleibt. Ob gut oder schlecht, sie ist da. Was wäre man ohne Eltern? Haltlos? Man suchte wohl einen anderen Halt. Menschen brauchen irgendwo einen, sonst fühlten sie sich haltlos, würden ungehalten, gerieten in die Gefahr, zu fallen. Manchmal empfindet man den Halt als einengend, zürnt, hadert. Denkt, er schränke einen zu stark ein, man möchte ihn los sein. Doch wenn es hart auf hart kommt, wie froh ist man dann um ihn?

Wann wird man erwachsen? Wann kann man diesen Halt ablegen? Was, wenn er einfach entzogen wird? Wenn es von einem Tag auf den anderen heisst: Dein Platz hier ist nun weg. Wir geben ihn auf? Wir lieben dich, aber da ist einfach kein Platz mehr? Früher hatte man immer im Hinterkopf: Wenn alle Stricke reissen, da ist noch ein Platz, ich stehe nie im Schilf. Und dann ist der weg. Anderes war wichtiger (zurecht, es ist ihr Leben – oder sind Eltern ein Leben lang dazu da, ihre flügge gewordenen Kinder zu halten?), man musste sich entscheiden.

Der Verstand sagt: Alles gut, es war richtig und ich habe kein Recht, etwas anderes zu sagen. Das Herz blutet. Die Seele wankt. Alt genug bin ich. Etwas verlangt habe ich nie. Von niemandem. Ich bin so doof. Vielleicht gehofft… und vertraut. Und ein ums andere Mal gemerkt: Wenn es hart auf hart kommt, ist sich selber jeder der Nächste. Wieso also auf andere bauen? Kann man das?