Biografien von A bis Z: A

KI ist in aller Munde, dass diese nun auch schreiben kann, ängstigt. Was wird dann aus den Schreibenden? Sind die überflüssig? Ich denke, die Frage ist falsch gestellt. Abgesehen davon, dass Schreibende natürlich, um leben zu können, gelesen werden müssen, schreiben sie auch, weil sie nicht anders können. Schreiben ist Leidenschaft, Drang, Notwendigkeit. Ebenso bei den Philosophen das Denken, das dann in einer Form auch aufs Papier fliesst. Seit ich denken kann, interessieren mich hinter den Texten immer auch die Menschen, die sich diese ausgedacht haben: Wie haben sie gelebt, wie haben sie geschrieben und wieso? Was hat ihr Denken geprägt? 

Aus diesem Grund liebe ich Biografien. Ein paar davon möchte ich hier vorstellen, ich taste mich dazu dem ABC entlang und starte heute mit A:

Wie könnte es anders sein: Hannah Arendt – Lieblingsdenkerin, spannende Persönlichkeit, interessante und vielschichtige Frau. Müsste ich eine empfehlen, wäre es die von Elisabeth Young-Bruehl, sie ist und bleibt für mich der Klassiker.

«Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit des Menschen in dem Masse abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet..» (Hannah Arendt)


Aristoteles – Einer der ersten, der wohl systematisch über alles, was auf dieser Welt vorkommt, nachdachte. Gewisse Gedanken sind noch heute bedenkenswert, zum Beispiel seine Theorie eines gerechten Staates. Flashar als ausgewiesener Experte zu Aristoteles hat hier eine grossartige Biographie geschrieben.

„Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ (Aristoteles)


Ilse Aichinger – Repräsentantin der deutschen Nachkriegsliteratur, deren Werk immer wieder die sozialen und politischen Zustände kritisierte und die Verantwortung des Menschen thematisierte.

«Schreiben kann eine Form zu schweigen sein.» (Ilse Aichinger)

Lou Andreas-Salomé – faszinierende, intelligente, vielschichtige Frau, die die Herzen der berühmtesten Männer brach.

«Glaubt mir, die Welt wird euch nichts schenken. Wenn ihr ein Leben wollt, so stehlt es.» (Lou Andreas-Salomé)

Rose Ausländer – Verfasserin wunderbarer Lyrik mit einem sehr bewegten Leben.

«Ich schreibe mich ins Nichts – es wird mich ewig aufbewahren.»

Was für Biografien zu A könnt ihr empfehlen?

Ilse Aichinger (1. November 1921 –  11. November 2016)

Geboren am 1. November 1921 erlebte Ilse Aichinger eine glückliche Kindheit. Sie selber bezeichnete diese immer als ihre glücklichste Zeit. Umso mehr traf sie der Verlust derselben, als ihr Jüdischsein zum Stigma wurde im Nazideutschland. 

„Ich habe unter keinem Verlust so gelitten wie unter dem Verlust der Kindheit. Er ist das Gemeinste an der Entwicklung der Menschen. Dagegen ist Altern gar nichts. Man verliert nicht mehr so viel.“

Es gab noch eine weitere glückliche Zeit in ihrem Leben: die Ehe mit Günter Eich, welchen sie 1951 bei einer Tagung der Gruppe 47 kennengelernt hatte. Leider war den beiden kein langes Glück beschert, da Günter Eich 1972 im Alter von nur 65 Jahren starb. Durch ihn sei sie kritischer und engagierter geworden, sagte Aichinger. Es war unter anderem auch ein Engagement der Sprache, ein Anschreiben gegen den Sprachverlust, gegen den Sprachmissbrauch. Das klingt in einer Rede (Rede an die Jugend) nochmals an, welche sie 1988 im Zuge einer Preisverleihung hielt: 

„Und nicht nur die Tage, auch die Worte müssen neu erkämpft werden, gerade in einer Zeit, die geneigt ist, sie über die Welt zu streuen und unbrauchbar zu machen, die sie in den Ohren dröhnen und nicht zu sich kommen lässt.“

Wie aktuell dies auch heute noch ist. Aus derselben Rede stammt auch die folgende, Mut machende und hoffnungsvolle Passage:

„Immer wieder wird es notwendig sein, die Träume aus dem Schlaf zu holen, sie der Ernüchterung auszusetzen und sich ihnen doch anzuvertrauen. Immer wird es ein Grat sein, der zu begehen ist. Die empfindlichen Instrumente des Gleichgewichts und der Unterscheidung müssen eingesetzt, Sein und Denken müssen aufeinander abgestimmt werden, massgeblich für alles, was kommt.“

Ilse Aichinger schrieb einen Roman, Essays und Erzählungen, doch ihre grosse Liebe galt immer der Lyrik. Mit ihren Texten wurde sie zur Gruppe 47 eingeladen, gewann 1952 deren Preis. Es sollten noch viele weitere Preise folgen, verdient, da ihre Texte von einer eigentümlichen Schönheit und Tiefe sind. Leider wird Ilse Aichinger als Schriftstellerin mit ihren Texten viel zu wenig beachtet. Der grosse Erfolg beim grossen Publikum blieb aus, vielleicht, weil der Umgang mit ihren Texten nicht nur einfach ist, weil man sich wirklich auf diese einlassen muss, um sie zu verstehen und in ihrer Wohldurchdachtheit bis ins letzte Wort erkennen will. 

Ab 1985 veröffentlicht Ilse Aichinger immer weniger, teilweise beschränken sich ihre Texte auf einzelne prägnante Sätze. Gefragt, was sie als ihre grösste Begabung ansähe, antwortete Ilse Aichinger anlässlich ihres 75. Geburtstags:

«Aber die grösste Begabung ist doch die, auf der Welt sein zu können. Es auszuhalten, mit einem gewissen Frohsinn.»

1998 kommt es zu einem grossen Schicksalsschlag für Ilse Aichinger, als ihr Sohn Clemens bei einem Autounfall ums Leben kommt. Zwei Jahre später beendet sie ihre Schreibpause und beginnt, für die österreichische Tageszeitung «Der Standard» Texte zu schreiben, welche mehrheitlich autobiographischer Natur waren.

Ilse Aichinger stirbt am 11. November 2016 in Wien.

#abcdeslesens – A wie Ilse Aichinger (1.11.1921 – 11.11.2016)

In einem Interview sagte Ilse Aichinger mal, dass die glücklichste Zeit ihres Lebens die im Krieg gewesen sei. Da hätte man immerhin gewusst, woran man sei, wer Freund und wer Feind sei. Zudem wäre es eine Zeit voller Hoffnung gewesen. Diese Worte aus dem Mund einer Kriegsüberlebenden, einer Frau, die als jüdisches Mädchen nur mit Glück den zweiten Weltkrieg überlebte, da einen grossen Teil der eigenen Familie verloren hat, machen nachdenklich.

Ilse Aichinger begann schon 1945 mit dem Schreiben gesellschafts- und politikkritischer Werke. 1951 wurde sie in die Gruppe 47 eingeladen, deren Preis sie bereits 1952 gewann. Gefragt, wieso sie schreibe, sagte sie einst:

„Ich schreibe, weil ich keine bessere Form des Schweigens finde.“

Sieht man Fotos von damals, lacht Ilse Aichinger immer. Man sieht eine schöne junge fröhliche Frau. Leise rührt sich die Frage, wo die oft tieftraurigen, verbitterten Aussagen ihren Anfang nahmen, die man in späteren Interviews von ihr hörte. Hat sie diese damals überspielt? Sind sie dem Leben geschuldet, welches ihr 1972 den Mann nahm, 1998 den Sohn? Oder wirkte die Kriegszeit zeitlebens nach? Worauf bezieht sie sich, wenn sie sagt:

„Man überlebt nicht alles, was man überlebt.“

Ihr grösster Erfolg war wohl der 1948 erschienene Roman «Die grösste Hoffnung», es folgten verschiedene Erzählungen auch Gedichtbände. Es fällt auf, dass ihre Sprache sich immer mehr verdichtet – in allen Formen. Das hatte seinen Grund auch darin, dass Ilse Aichinger Sprache immer mehr auch als Ausdrucksmittel unbrauchbar empfand, da diese zu sehr der Konvention, dem fraglosen Bezeichnen anheimfiel. Ihre Konsequenz war eine «Poetik des Schweigens», etwas, mit dem sie übrigens nicht alleine war, auch bei Paul Celan finden sich solche Ansätze.

Das folgende Gedicht spricht in meinen Augen von all dem:

Ortsanfang

Ich traue dem Frieden nicht,
den Nachbarn, den Rosenhecken,
dem geflüsterten Wort.
Ich hörte,
daß sie die Häute an die Schlinge legen,
daß sie die Bänke kippen vor dem Winter,
ihre Jauchzer flogen
zum Schlaf gerüstet
durch Schul- und Kirchenhäuser
auf und fort.
Wer erwartet noch die Vögel,
die bleiben,
den Rauch übers kurze Gras?
(aus Verschenkter Rat, 1978)

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#abcdeslesens ist eine Aktion, die ich auf Instagram durchführe. Ich lese mich anhand des Alphabets durch mein Bücherregal und stelle einzelne Autoren vor.