Sprache und Haltung

In einer Woche ist Weihnachten und ich kann es irgendwie noch gar nicht ganz fassen, dass das so sein wird. Ich bin kein Weihnachtsfan, vielleicht, weil Weihnachten für mich mit wenig Geschichten, wenig Erinnerungen, wenig positiven Gefühlen verbunden ist. Ich erinnere mich nicht an die Feste, weiss nicht mehr, wie wir zusammensassen, ob und wie ich mich freute über etwas. Ich erinnere mich an nichts und somit verbinde ich nichts mit Weihnachten. Die Gründe dafür können vielfältig sein, vermutlich ist es eher ein Verdrängen als ein Vergessen, schlussendlich ist es irrelevant – es ist, wie es ist. Heute kommt noch etwas dazu bei Weihnachten: Es ist irgendwie ein „Von-allem-Zuviel“: Zu viele Geschenke, zu viele Termine, zu viel Hektik… und zu wenig Ruhe, Musse, wirkliche Besinnlichkeit, die man der Zeit doch immer auf die Fahnen schreiben will. 

Eigentlich komisch, dass ich dann kürzlich sagte, das sei wie Weihnachten, als mir was wirklich Gutes widerfuhr. Ich hatte Zeit und Musse, wirklich lange in einer Buchhandlung zu sein, mich durch Regale und Bücher zu bewegen, zu stöbern, zu versinken. Am Schluss lief ich mit einer wunderbar gefüllten Tasche und ganz viel Vorfreude auf das Leseerlebnis hinaus. Ich kann mich nicht daran erinnern, an Weihnachten früher so ein Gefühl gehabt zu haben. Vielleicht ist es das Gefühl, das ich gerne gehabt hätte. Aber noch eher ist es einfach eine spontane Sprachwendung ohne tiefere Wort-Bedeutung.

Vor nicht langer Zeit kam es zu Diskussionen, weil ein süsses schokoladeüberzogenes Schaumgebäck seinen Namen ändern sollte. Nachdem das N-Wort schon lange nicht mehr adäquat war, sollte es nun auch dem M-Wort an den Kragen gehen. Die Begründung dafür war einfach: Das Wort verletzt die Gefühle von Menschen mit schwarzer Hautfarbe, sie fühlen sich dadurch herabgesetzt und beleidigt. Man könnte meinen, dass so eine Begriffsänderung eine Bagatelle sei, dass es nicht wirklich wichtig wäre, wie das Ding heisst, solange es schmeckt. Weit gefehlt. Das habe man immer so genannt. Das habe nichts mit den sich verletzt fühlenden Menschen zu tun. Die sollen sich mal nicht so anstellen, zumal man ja nichts gegen sie habe, dies nur ein Wort sei. Aber das wollte man sich nicht nehmen lassen. Schliesslich, so die Argumentation, denke man sich ja nichts dabei. Und vermutlich ist gerade das das Problem.

Wir verwenden Sprache oft auf eine unbewusste Weise. Wir hängen an alltagssprachlichen Gewohnheiten, ohne wirklich hinzuschauen. Dass es da nicht ausbleibt, dass Begriffe unbedacht verwendet werden, liegt auf der Hand. Das hat bei einer Redewendung wie eingangs erwähnt wenig Konsequenzen, kann aber in anderen Fällen schwerwiegendere Folgen haben: Dann nämlich, wenn man Menschen durch verletzende Ausdrücke und Zuschreibungen abwertet und diskriminiert. Das sind Menschen, die sich ihre Identität(en) nicht ausgesucht haben, die damit geboren wurden und nun damit leben. Sie wünschen sich in ihrem So-Sein genauso angenommen zu sein wie alle anderen. Sie möchten als gleichwertige Menschen unter Menschen leben können, ohne Angst zu laufen, in ihrer Würde und ihrem Sein angegriffen zu werden.

Wird das alles zum Thema, hört man die immer gleichen Argumente: Es ist nicht böse gemeint, das sagte man immer so, man wolle sich den Mund nicht verbieten lassen. Mir stellen sich dabei zwei Fragen:

  1. Ist ein offensichtlich unangebrachtes Wort so viel Wert und so wichtig, dass es egal ist, wenn damit ein Mensch (eine ganze Gruppe von Menschen) verletzt, abgewertet und sogar entwürdigt wird?
  2. Ist Sprache nicht auch etwas Prägendes? Was ich sage, prägt mein Denken, mein Fühlen und mein Handeln.

Wenn ich davon ausgehe, dass Sprache nicht nur einen Einfluss auf das Befinden des anderen hat, sondern auch auf mich als Sprechenden eine Wirkung ausübt, ist es umso wichtiger, mir dessen bewusst zu sein, was ich sage. Die Wahl der Worte, der bewusste Einsatz derselben kann mein Denken ändern und damit auch meine Haltung. Selbst wenn ich vordergründig wirklich nichts gegen Menschen habe, die ich mit einer unbedachten Sprache abwerte, würde in der Weigerung, diese zu ändern, sobald ich auf die Verletzung dieser Menschen durch mein Sprechen erfahre, ein latenter Angriff und eine Herabsetzung ihres Seins und Fühlens stecken. Und dann wäre es umso wichtiger, wirklich hinzusehen und etwas zu ändern. Die angemessene Sprache ist ein erster Schritt dahin.

Christa Wolf: Sämtliche Essays und Reden

Inhalt

«Ist es überhaupt noch möglich, Bücher zu schreiben, die hüben wie drüben in gleicher Weise wirken? […] Wir haben nur noch nicht genügend verstanden, dass es nicht irgendeine, sondern die Forderung an einen deutschen Schriftsteller unserer Zeit ist, Nationalbewusstsein schaffen zu helfen.»

Diese Zeilen schrieb Christa Wolf 1961 in ihrem Diskussionsbeitrag ‘Probleme junger Autoren’ zur Vorbereitung des V. Deutschen Schriftstellerkongresses. Christa Wolf hat sich in ihrem langen Leben immer wieder mit dem Schreiben, Lesen, der gesellschaftlichen und politischen Situation Deutschlands sowie vielem mehr beschäftigt und dazu tiefgründige und zum Nachdenken anregende Essays geschrieben und Reden gehalten. Diese sind nun von Sonja Hilzinger für die vorliegende Publikation zusammengetragen worden.

Weitere Betrachtungen

Christa Wolf selber machte keinen Unterschied zwischen ihrer literarischen Prosa und der Essayistik. Beides, so Wolf, entspringe ihrer Erfahrung, der Erfahrung sowohl mit sich selber wie auch der Welt um sie herum. In ihrer Essayistik behandelt sie denn auch die ganze Bandbreite ihrer Interessen und Lebensinhalte: Das Schreiben, das Lesen, die Politik sowie die gesellschaftlichen Umstände. Durch die hier gesammelten Essays und Reden erhält man so einen sehr interessanten (und natürlich auch persönlich-subjektiven) Einblick in das kulturelle und sozialpolitische Geschehen der Jahre von Christa Wolfs Leben und Schaffen.

Der Umfang der Texte erforderte eine dreibändige Ausgabe:

  • Band 1: Lesen und Schreiben 1961 – 1980
  • Band 2: Wider den Schlaf der Vernunft 1981 – 1990
  • Band 3: Nachdenken über den blinden Fleck 1991 – 2010

Sie zeigt darin auf, wie der Einzelne auf das Ganze der Welt wirkt:

«Unsere blinden Flecke, davon bin ich überzeugt, sind direkt verantwortlich für die wüsten Flecken auf unserem Planeten.»

Worin das Talent von Künstlern liegt:

«Ein grosses Talent zeichnet sich nicht dadurch aus, dass ihm zufällt, was anderen Mühe macht. Viel eher kennzeichnet es die Fähigkeit, sich aller Mittel zu seiner Verwirklichung, die seine Zeit ihm in die Hand gibt, auf ertragreichste Weise zu bedienen.»

Reflexionen zum eigenen Schreiben:

«Ich schreibe, um herauszufinden, warum ich schreiben muss. – Tatsächlich wird Schreiben für mich immer mehr der Schlüssel zu dem Tor, hinter dem die unerschöpflichen Bereiche meines Unbewussten verwahrt sind; der Weg zu dem Depot des Verbotenen, von früh an Ausgesonderten, nicht Zugelassenen und Verdrängten; zu den Quellen des Traums, der Imagination und der Subjektivität.»

Und vieles mehr. Wer mehr von und über Christa Wolf erfahren will, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt, es ist eine wunderbare Wundertüte voller weiser Gedanken zu einer grossen Bandbreite von Themen.

In ausführlichen und informativen Kommentaren erfährt der Leser den Zeitpunkt der Entstehung, der Publikation sowie den Anlass oder das Medium derselben. Dies ist gerade bei den politischen Texten sehr wertvoll, hilft es doch, die Texte noch besser ins Zeitgeschehen einzuordnen.

Persönlicher Bezug
Ich mag literarische Texte, liebe die Literatur, was ich aber ebenso und manchmal noch mehr liebe, sind Essays, gerade die von Literaten. Sie versprechen oft einen klaren Blick auf ein bestimmtes Thema und präsentieren diesen in einer literarischen, schön zu lesenden Sprache. In Essays zeigt sich noch viel mehr als in der Literatur der Scharfbllick des denkenden Menschen, offenbaren sich die Gedankengänge der jeweiligen Person, öffnen sich Einblicke in die Meinungen und Ansichten eines schreibenden Menschen. Christa Wolfs Essays und Reden sind ein grossartiges Beispiel dafür.

Fazit
Ein wunderbar umfassender Blick auf Christa Wolfs Denken und Schaffen. Kompetent und aufschlussreich zusammengetragen und präsentiert. Sehr empfehlenswert.

Autorin und Herausgeberin
Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas Mann Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb 2011 in Berlin.

Sonja Hilzinger, Privatdozentin für Neuere deutsche Literatur, lebt in Berlin und arbeitet als freie Autorin, Lektorin und Wissenschaftsberaterin. Zum Werk Christa Wolfs veröffentlicht sie seit 25 Jahren und hat u.a. die zwölfbändige Werkausgabe ediert.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ Suhrkamp Verlag; Originalausgabe Edition (16. August 2021)
Taschenbuch: 1800 Seiten (Drei Bände im Schuber)
ISBN-Nr.: ‎ 978-3518471609

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Roxane Gay: Hunger

Inhalt

«Dieses Buch ist kein Motivationsbuch. Ich habe nicht herausgefunden, wie man einen unbändigen Körper und unbändige Gelüste kontrolliert. Meine Geschichte ist keine Erfolgsgeschichte. Meine Geschichte ist einfach eine wahre Geschichte.»

Roxane Gay erzählt die Geschichte ihres Körpers, den sie anwachsen liess, um sich und ihn zu schützen. Sie erzählt die Geschichte von einem traumatischen Erlebnis, welches sie zum Schweigen brachte und einen Kreislauf von immer mehr Leid und Isolation auslöste, was zu immer mehr Leere führte, die dann gefüllt werden musste – durch Essen, das den Körper wachsen liess.

«Dieses Buch erzählt von meinem Körper, von meinem Hunger, und letztich erzählt es vom Verlorengehen und Verschwinden und von der Sehnsucht, der wirklich starken Sehnsucht, gesehen und verstanden zu werden.»

Roxane Gay erzählt von allen Versuchen, die sie unternommen hat, ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie erzählt von ihren Ängsten, Hoffnungen, ihrer ganzen Verzweiflung.

Weitere Betrachtungen
Zu sagen, dieses Buch sei schwere Kost, träfe den Nagel auf den Punkt und wieder auch nicht. Es ist ein Buch, das berührt, erschüttert, den Atem stocken lässt, traurig macht. Es erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, dem etwas widerfährt, das das ganze Leben prägen wird. Es ist die Geschichte eines Missbrauchs, der nicht nur den Körper versehrt, sondern auch die Seele krank macht. Es ist die Geschichte einer Frau, die von Schuld und Scham geplagt ist, die das Vertrauen in sich und die Menschen verloren hat und sich nach nichts mehr sehnt, als nach Liebe, derer sie sich nicht würdig scheint.

«Ich war schon immer anders. Meine wahre Liebe galt und gilt noch immer den Büchern, dem Schreiben von Geschichten, dem Tagträumen.»

Wenn die Welt kalt und gefährlich erscheint, bleibt die Flucht nach innen. So ist «Hunger» auch die Geschichte eines Menschen, der in Büchern und im Schreiben einen Weg gefunden hat, dem Schrecken zu entkommen. Schreiben wurde zudem ein Weg, der in eine Zukunft führte, auch beruflich.

Persönlicher Bezug

«Ein Grund, warum Beziehungen und Freundschaften so schwierig für mich werden können, ist, dass ein Teil von mir immer glaubt, alles richtig machen zu müssen. Ich muss die richtigen Dinge sagen und die richtigen Dinge tun, sonst mag und liebt man mich nicht länger. Das ist anstrengend. Ich will unbedingt die beste Partnerin oder Freundin sein, und gerade durch diese ungeheure Anstrengung entferne ich mich immer weiter von der, die ich eigentlich bin: jemand mit einem guten Herzen, die aber vielleicht nicht immer alles richtig macht.»

Ich habe noch selten ein Buch gelesen, das eine Passage beinhaltet, die so gut auf mich passen könnte wie diese. Auch in vielen anderen Gedanken von Roxane Gay erkannte ich mich wieder, in all den Minderwertigkeitskomplexen, all dem Leiden an Stigmatisierungen und Zuschreibungen. Ich erkannte mich wieder in ihrer Flucht ins Lesen und Schreiben, in ihrer Einsamkeit, in ihrem Wunsch und ihrer Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit.

Ich bin als Kind den umgekehrten Weg gegangen. Sie fütterte sich fast zu Tode, ich hungerte in die andere Richtung – fast mit Erfolg. Ich war eine derer, welche sie im Buch bewunderte als die, welche die Kontrolle hatten, Disziplin. Disziplin habe ich gehabt, was für eine, aber keine Kontrolle, die hatte schon lange etwas in mir übernommen.

Die Zerstörung des Körpers steht hinter beiden Methoden. Ich hoffe, Bücher wie dieses öffnet vielen Menschen die Augen: Denen, die leiden, und denen, die durch ihre Reaktion noch zusätzlich zu dem Leiden der Betroffenen beitragen.

Leider gibt es an dem Buch etwas zu bemängeln. Ein guter Lektor hätte dies mit einem Schlag ausräumen können. Das Buch weist sehr viele Wiederholungen auf. Einige kann man damit rechtfertigen, dass sie die Scham, das Zögern, die inneren Kämpfe widerspiegeln, selbst dann sind es sehr viele. Andere wirken schlicht überflüssig, sehen nach unsorgfältigem Redigieren und fahrlässigem lektorieren aus. Das Buch wäre wohl nur halb so lang, aber doppelt so wirksam geworden. Es wäre schade, wenn das Buch deswegen aus der Hand gelegt würde, was ich oft gerne getan hätte, da ich mich wirklich ärgerte.

Fazit
Ein wichtiges Buch! Ein offenes und schonungslos ehrliches Buch über die Folgen traumatischer Erlebnisse, über das Stigma des Dickseins und der damit verbundenen Selbstzweifel, Selbstanklagen bis hin zum Selbsthass. Ein Buch, das hoffentlich hilft, Augen zu öffnen. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Roxane Gay, geboren 1974, ist Autorin, Professorin für Literatur und eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen und literarischen Stimmen ihrer Zeit. Sie schreibt u.a. für die New York Times und den Guardian, sie ist Mitautorin des Marvel-Comics »World of Wakanda«, Vorlage für den hochgelobten Actionfilm »Black Panther« (2018), dem dritterfolgreichsten Film aller Zeiten in den USA. Roxane Gay ist Gewinnerin des PEN Center USA Freedom to Write Award. Sie lebt in Indiana und Los Angeles.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ btb Verlag (11. Oktober 2021)
Taschenbuch: ‎ 320 Seiten
ISBN-13: ‎ 978-3442771417

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Joachim Ringelnatz (*7. August 1883)

Hans Gustav Bötticher, wie Joachim Ringelnatz eigentlich heisst, wird am 7. August 1883 in Wurzen, einem Ort bei Leipzig, in ein künstlerisches Elternhaus geboren. 1886 folgt der Umzug nach Leipzig. Der Vater schreibt humoristische Verse und Kinderbücher und veröffentlicht über vierzig Bücher, die Mutter stellt Puppenkleidung her. Die Familie Bötticher ist finanziell gut gestellt. Klein Hans strebt dem Vater nach, ein Streben, das ihn zeit seines Lebens verfolgen soll, da er sich immer hinter dem zurückstehend sieht in Anbetracht von dessen akademischem Hintergrund. Trotzdem steht er ihm näher als der Mutter, deren Liebe ihm fehlt.

Die Schulzeit stellt ein eher düsteres Kapitel für Ringelnatz, wie wir ihn fortan nennen wollen, dar. Einerseits wird er von den Mitschülern wegen seines Aussehens gehänselt, andererseits fühlt er sich unwohl in Bezug auf die Lehrer, welche er als „respektfordernde Dunkelmenschen“[1] sieht. Sein Aussehen wird noch sein Leben lang an ihm nagen, viele seiner Schwierigkeiten im Leben führt er darauf zurück. Nach einem Vorfall in der Schule fliegt Ringelnatz von Gymnasium, setzt seine Schulkarriere in einer Privat-Realschule fort, beendet aber auch diese Lebensetappe wenig erfolgreich, indem er neben schlechten Noten den Eintrag „Schulrüpel ersten Ranges“[2] heimträgt.

Ringelnatz hat den Traum, Seemann zu werden, sieht aber schon nach fünf Monaten als Schiffsjunge, dass er als eher kleiner, feiner Jüngling in der harten Seemannswelt einen schlechten Stand hat. Es folgt Arbeitslosigkeit im Wechsel mit diversen Jobs im Seemannsbereich. Weitere Versuche, beruflichen Erfolg zu finden, sind ebenfalls nicht vom Glück gekrönt, Höhepunkt eines solchen Versuchs ist sogar eine Inhaftierung. Unter all diesen unerfreulichen Lebensumständen veröffentlicht Ringelnatz Gedichte, Witze und Anekdoten in einer satirischen Zeitschrift.

1909 tritt Joachim Ringelnatz in der Münchner Künstlerkneipe Simpilicissimus auf und legt damit den Grundstein zu seiner Künstlerlaufbahn. Schnell wird er zum Hausdichter des Etablissements, verkehrt fortan mit Künstlern wie Erich Mühsam, Bruno Frank, Ludwig Thoma, Frank Wedekind, und vielen mehr. Wegen der schlechten Bezahlung auf der Suche nach anderen Einnahmequellen, versucht sich Ringelnatz als Dichter von Reklameversen – auch das ohne finanziellen Erfolg. Es folgen Veröffentlichungen von Gedichten und Essays unter verschiedenen Pseudonymen in der angesehenen Satirezeitschrift Simplicissimus sowie zwei Kinderbücher und ein Gedichtband.

Um seinen Bildungsmangel zu beheben und nicht länger hinter seinen Künstlerkollegen zurückzustehen, nimmt Ringelnatz Privatunterricht in Latein, Geschichte, Literaturgeschichte und weiteren Fächern, verschlingt zudem Werke der Weltliteratur. Schon bald fehlt das Geld, sein Bohème-Leben weiterzuführen, so dass er fortan als Wahrsagerin verkleidet den Prostituierten in Bordellen die Zukunft vorhersagt. Die finanzielle Lage bleibt prekär, der Winter ist hart, ihm entspringt der erste Band seiner autobiographischen Bücher. Weitere Arbeitsversuche führen ihn 1912 zu einer Anstellung als Bibliothekar, zu einem Job als Fremdenführer und schliesslich zur Arbeit als Schaufensterdekorateur (für die Dauer eines Schaufensters, danach sieht er seine zu unorthodoxe Dekorationskunst ein und gibt auf).

Obwohl Ringelnatz in dieser Zeit einiges veröffentlichen kann, unter anderem seine Gedichtsammlung Die Schnupftabakdose, hat er kaum Einnahmen aus seiner Schriftstellerei. Zu Kriegsbeginn meldet er sich freiwillig zur Marine, darf aber zu seiner Enttäuschung nicht am Getümmel teilnehmen, versucht aber alles, um die Karriereleiter in der Armee hochzusteigen. Auch der Krieg lässt Ringelnatz ernüchtert zurück. Im Jahr 1918 erschüttert ihn der Tod seines Vaters schwer. 1920 heiratet Ringelnatz, das Paar wohnt erst in München, dann in Berlin, seine Frau Leonharda unterstützt ihn in seinem Schreiben, doch das Paar ist weiterhin in ständiger Geldnot. Ringelnatz versucht das durch eine Aushilfsstelle bei der Post und Auftritte im Simplicissimus aufzufangen, was nur leidlich gelingt. Auch die erfolgreichen Gedichtsammlungen, Auftritte in verschiedenen Kabaretts und weitere Bücher bringen nur Achtungs- kaum Gelderfolg.

Vollends verarmen Ringelnatz und seine Frau nach 1933, als die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten ihm ein Auftrittsverbot auferlegen und später auch seine Bücher verbrennen. In dieser Zeit zeigen sich erste Zeichen von Tuberkulose, woran Joachim 17. November in seiner Wohnung stirbt.

Sein Werk

Lange Zeit beschränkt sich das Hauptinteresse von Ringelnatz’ Leserschaft vornehmlich auf seine Lebensgeschichte, was in Anbetracht dieses sehr umtriebigen Lebens nicht erstaunt. Die Literaturwissenschaft spricht seiner Lyrik zeitweise Rang und Wert ab, befindet sie als höheren Ansprüchen nicht genügend.

Joachim Ringelnatz’ Schaffen ist stark geprägt vom literarischen Kabarett der Jahrhundertwende, es findet sich in seinem Schreiben oft eine Ähnlichkeit mit Christian Morgenstern, aber auch Frank Wedekind, Carl von Maassen und andere haben auf ihn eingewirkt. Anders als bei Morgenstern wird bei Ringelnatz Reales in den Gedichten umgesetzt. In der Figur des Kuttel Daddeldu verarbeitet Ringelnatz zum Beispiel viel Autobiographisches:

So erzählt Kuttel Daddeldu heiter, –
Märchen, die er ganz selber erfunden.
Und säuft. – Es verfliessen die Stunden.
Die Kinder weinen. Die Märchen lallen.
Die Mutter ist längst untern Tisch gefallen,
und Kuttel – bemüht, sie aufzuheben –
Hat sich schon zweimal dabei übergeben.
Und um die Ruhe nicht länger zu stören,
Verlässt er leise Mutter und Göhren.[3]

Ringelnatz’ Werk vereint schwarzen Humor, Groteske, die Sicht auf das reale Leben und die Zeit, es umfasst exotische Erzählungen, Lügenmärchen, Seemannsphilosophie sowie Gedichte und Balladen, welche die verschiedensten Gefühlslagen von Lebenslust bis hinein in die tiefen Niederungen der Befindlichkeit widerspiegeln. Die Moral, welche Ringelnatz der Welt zuschreibt, klingt sowohl banal als auch nüchtern, manchmal gar brutal und zynisch:

Vier Treppen hoch bei Dämmerung

Du mußt die Leute in die Fresse knacken.
Dann, wenn sie aufmerksam geworden sind, –
Vielleicht nach einer Eisenstange packen, –
Mußt du zu ihnen wie zu einem Kind
Ganz schamlos fromm und ärmlich einfach reden

Von Dingen, die du eben noch nicht wußtest.
Und bittst sie um Verzeihung – einzeln jeden –,
Daß du sie in die Fresse schlagen mußtest.
Und wenn du siegst: so sollst du traurig gehen,
Mit einem Witz. Und sie nie wieder sehen.


[1] Günther: Joachim Ringelnatz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.
[2] Friederike Schmidt-Möbus: Joachim Ringelnatz – Leben und Werk
[3] Kuttel Daddeldu und die Kinder aus: Joachim Ringelnatz: Gedichte Prosa Bilder