Inhalt
Kasandra ist die Geschichte der Königstochter und Seherin, die ihren eigenen Tod vorhersieht und ihm entgegen geht, mit dem Vorsatz, bis zum Schluss ihre Bewusstheit und Autonomie wahren zu wollen.
Mit der Erzählung geh ich in den Tod.
Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts, was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt.[1]
Apollon verleiht Kassandra die Sehergabe. Weil sie seinem Werben nicht nachgibt, bestraft er sie mit einem Fluch: Zwar sieht sie alles, was sich ereignen würde, voraus, aber keiner glaubt ihren Prophezeiungen.
Kassandra wird Priesterin im Tempel des Apollon, soll deswegen – wie alle anderen Mädchen auch – entjungfert werden. In diesem Zusammenhang trifft sie auf Aineias, welcher sie mit sich nimmt, sie aber nicht anrührt. Kassandra verliebt sich in Aineias, verliert ihre Unschuld später aber an Panthoos, den Apollonpriester, welcher sie zur Priesterin geweiht hat. Beim Akt selber stellt sie sich immer vor, er wäre Aineias. Wieso dieser nicht wirklich an der Stelle ist, erschliesst sich nicht ganz.
Später taucht Paris in Troja auf, Kassandra erfährt, dass er ihr Bruder ist. Kassandra sieht voraus, dass dessen Liebe zu Helena, der Gemahlin des Königs Menelaos, Troja in den Untergang führen würde, doch niemand hört auf sie. So sehr sie auch versucht, vor dem Krieg zu warnen – ihre Prophezeiungen versanden im Nichts (als Kassandrarufe).
Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blass, auch wütend, ich kenn esvon mir selbst. Und dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht.
Es folgen weitere Vorhersagen, die nicht gehört werden, sowie die Verheiratung Kassandras durch ihren Vater mit Eurypylos, welcher allerdings gleich nach der Hochzeit im Kampf fällt. Auch Paris ist mittlerweile tot. Aineias bittet Kassandra, mit ihm zu gehen und an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen, was Kassandra trotz ihrer Liebe ablehnt. Sie entscheidet sich für ihren eigenen Tod.
Es folgt die berühmte Szene mit dem Trojanischen Pferd, die Griechen haben es vor die Stadtmauern gestellt und damit ein scheinbares Ende der Belagerung signalisiert. Trotz Kassandras Warnungen ziehen die Trojaner es in die Stadt hinein – das Ende Trojas ist damit besiegelt. Die wenigen Überlebenden werden von den Griechen versklavt.
Kassandra wird Agamemnons Sklavin, sie fährt auf seinem Schiff nach Mykene und lässt während der Fahrt die ganze Geschichte Revue passieren. Sie weiss, dass in Mykene der Tod auf sie wartet. Klytaimnestra, Agamemnons Frau, und Aigisthos, ihr Geliebter, werden Agamemnon und Kassandra ermorden.
Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die Gegenwartssprache ist auf Wörter für diese düstre Festung eingeschrumpft. Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden.
Entstehung
Das Werk ist 1983 gleichzeitig in der BRD und in der DDR erschienen. Es ist ein gesellschaftskritisches Werk, welches anhand der mythologischen Geschichte die innergesellschaftlichen Bewusstseinsprozesse offenlegen will. Zum mythologischen Stoff kam Christa Wolf eher zufällig. Bei einer Reise verpasst sie einen Flug nach Athen und sitzt ohne Literatur in Berlin fest, so dass sie sich dem Vorhandenen zuwendet: Orestie von Aischylos. Von Kassandra fasziniert, forscht sie weiter. Wer sich für die ganze Entstehungsgeschichte interessiert, dem seien die vier im Rahmen der Frankfurter Poetik-Vorlesungen gehaltenen Vorlesungen von 1982 empfohlen: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra (HIER)
Hintergründe
Kassandra ist in der griechischen Mythologie die Tochter des Priamos und der Hekabe, sie ist die Zwillingsschwester von Helenos sowie die Schwester von Hektor, Polyxena, Paris und Troilos.
Wegen ihrer Schönheit verleiht ihr der Gott Apollon die Sehergabe, er verspricht sich als Dank ihre Zuneignung, die sie ihm aber versagt. In seinem Stolz verletzt verflucht Apollon Kassandra und ihre ganze Nachkommenschaft. Zwar soll sie die Sehergabe behalten, aber keiner wird ihren Weissagungen glauben.
Die tragische Heldin findet sich in den Kassandrarufen noch heute: Warnungen, die keiner hören will.
Für das Verständnis von Christa Wolfs Buch empfiehlt es sich, zuerst die Zusammenhänge der griechischen Mythologie kennenzulernen. Ein Standardwerk ist sicher Die schönsten Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab.
Hier alle in Wolfs Werk vorkommenden Figuren und ihre Zugehörigkeiten/Beziehungen[2]:
- Achill: griechischer Held, wird von Kassandra „Achill das Vieh“ genannt (Grieche)
- Agamemnon: Bruder des Menelaos, Gatte Klytaimnestras, hat seine eigene Tochter Iphigenie geopfert (Grieche)
- Aias der Große: wird im Zweikampf von Hektor besiegt (Grieche)
- Aias der Kleine: vergewaltigt Kassandra (Grieche)
- Aineias: Sohn des Anchises, Geliebter von Kassandra, flüchtet, überlebt (Trojaner)
- Aisakos: Halbbruder der Kassandra, Sohn der Arisbe, beging Selbstmord, als seine Frau Asterope am Kindbettfieber starb. (Trojaner)
- Amazonen: Die Amazonen sind Kriegerinnen, die auf der Seite Trojas kämpfen
- Anchises: Vater des Aineias, eine Art Zweitvater für Kassandra
- Andromache: Frau des Hektor (Trojanerin)
- Andron: Bediensteter des Hofes, später Gefolgsmann Eumelos und Geliebter Polyxenas (Trojaner)
- Aphrodite: Verspricht Paris die schöne Helena. (griechische Göttin)
- Apollon: Gott der Seher und Musen. Er schenkte Kassandra die Kraft des Sehens (griechischer Gott)
- Arisbe: Mutter des Aisakos. Lebt in den Ida-Bergen (Trojanerin)
- Artemis: Göttin der Jagd. Soll Aisakos in einen Tauchvogel verwandelt haben. (griechische Göttin)
- Asterope: Die Frau des Aisakos, starb am Kindbettfieber (Trojanerin)
- Athene: Schutzgöttin Athens, ist auf der Seite der Griechen, weil Paris nicht sie als schönste Göttin gewählt hat (griechische Göttin)
- Briseis: Tochter Kalchas‘, Frau des Troilos, geht nach dessen Tod zu ihrem Vater, zu den Griechen, kehrt aber später zurück und lebt von da an in den Ida-Bergen (Trojanerin)
- Deiphobos: Zweitältester Bruder Kassandras (Trojaner)
- Diomedes von Argos (Grieche)
- Eumelos: Oberster Offizier und Berater des Priamos, spornt zum Krieg an (Trojaner)
- Eurypylos: Will sich mit Troja verbünden unter der Bedingung Kassandra heirate ihn, fällt nach Hochzeitsnacht (thessalischer Herrscher)
- Hekabe: Königin Trojas, Kassandras Mutter (Trojanerin)
- Hektor: Ältester Bruder Kassandras, wird von Achill getötet (Trojaner)
- Helena: Gattin des Menelaos, wird von Paris entführt, Grund des Krieges (Griechin)
- Helenos: Zwillingsbruder der Kassandra, Augur (Orakelsprecher) (Trojaner)
- Herophile: Apollon-Priesterin
- Hesione: Schwester des Priamos, wird von Telamon entführt und zur Frau genommen (Trojanerin)
- Iphigenie: Tochter Agamemnons und der Klytaimnestra, wurde von ihrem Vater der Artemis geopfert (Griechin)
- Kalchas: „der Seher“, läuft von den Troern zu den Griechen über.
- Kassandra: Ich-Erzählerin, Tochter des Priamos und Hekabe. Sie ist Priesterin im Tempel des Apollon, Außenseiterin, Seherin und ein Beutestück des Agamemnon.
- Killa: junge Sklavin Achills
- Klytaimnestra: Gattin des Agamemnon, bringt Agamemnon und Kassandra um, als Rache für die Opferung der Iphigenie (Griechin)
- Kybele: Geheimnisvolle Göttin, die in den Ida-Bergen verehrt wird
- Lampos: Brachte Panthoos mit dem ersten Schiff nach Troja
- Laokoon: Poseidon-Priester
- Lykaon: Sohn des Priamos‘ (Trojaner)
- Marpessa: Dienerin und Sklavin, Tochter der Parthena, eine gute Freundin Kassandras, sie zieht die Zwillinge der Kassandra auf. (Trojanerin)
- Menelaos: Gatte der Helena, König von Sparta (Grieche/Spartaner)
- Merops: Traumdeuter am Hofe
- Myrine: Amazone, bewacht das Geschenk der Griechen (hölzernes Pferd) und wird als erste von den heraus kommenden Soldaten getötet
- Odysseus: Griechischer Held
- Oinone: Vor Helena die Geliebte des Paris, hat eine besondere Kräuterheilkunde
- Panthoos: ‚Panthoos der Grieche’ genannt, oberster Apollon-Priester
- Paris: Bruder der Kassandra, hätte getötet werden sollen, da ein Fluch auf ihm liegt, wuchs bei Hirten auf, Helena wird ihm von Aphrodite versprochen, entführt sie. (Trojaner)
- Parthena: Amme der Kassandra, Mutter der Marpessa
- Patroklos: Cousin und „Liebesfreund“ Achills (Grieche)
- Penthesilea: Anführerin der Amazonen
- Polyxena: Schwester Kassandras, lockt Achill in den Tempel wo er von Paris getötet wird, von Odysseus dem Achill geopfert (Trojanerin)
- Priamos: König von Troia, Vater der Kassandra
- Pythia: Göttin des Ruhmes und der Ehre
- Telamon: Spartaner, der Hesione entführte
- Troilos: Bruder der Kassandra, wird am ersten Kriegstag von Achill getötet (Trojaner)
- Trojanisches Pferd: Erfindung des Odysseus; die Griechen täuschten ihre Abreise vor, versteckten sich jedoch im riesigen Trojanischen Pferd. Die Troer nahmen es hinein, da sie dachten, es sei ein Geschenk der Griechen an die Götter und so konnten die Griechen Troja stürmen.
- Zeus: Gott, Oberhaupt der Götter
Zum Werk
Christa Wolf berichtet aus der Sicht von Kassandra über den Mythos des abendländischen Patriarchats. Im Beuteschiff von Agamemnon sitzend, überdenkt sie ihr Leben, überdenkt ihr Streben nach Bewusstheit und Autonomie.
Ich will die Bewusstheit nicht verlieren, bis zuletzt.
Lieber geht sie in den Tod, als ihr Leben einem Mann anzuvertrauen. Lieber ergibt sie sich ihrem Schicksal, als sich aufzugeben. Sie ist damit eine Aussenseiterin in einem System, das für Frauen klare Rollen vorgesehen hat. Diesen Rollen widersetzt sich Kassandra. Auch wenn sie immer wieder zum Objekt gemacht wird, indem sie verheiratet, in Priestergebräuche gepresst und bei Nichtbefolgen des männlichen Willens verflucht wird, hält sie an ihrem Subjekt-Sein fest.
Kassandra behandelt aber auch eine Tragik des Menschseins insgesamt: Blind rennen wir ins Unglück, Warnrufe ignorieren wir, wähnen uns in Sicherheit, bis es zu spät ist. Die Trojaner wollten nicht wahrhaben, dass sie besiegbar sein könnten, waren sie doch bislang immer die Sieger gewesen. Dieser Hochmut bedeutete ihren Fall.
Vergeblich versuchen wir uns der Gewalt zu entziehen
Dieser Satz vom Anfang des Buches deutet klar auf den Inhalt desselben: Es geht abwärts, die Spirale dreht unaufhaltsam und die Menschen werden durch Schmerz und Leid mitgezogen. Schwäche und Angst lassen sie dabei immer mehr zu Gehorchenden werden, statt dass sie selber ihr Leben in die Hand nehmen. Dem widersetzte sich Kassandra. Sie wollte selber ihr Leben steuern, auch wenn es in den Tod führte.
Die politische, zeitgeschichtliche und gesellschaftskritische Komponente liegt auf der Hand. Christa Wolf hat mit Kassandra eines der wenigen Zeugnisse abgelegt innerhalb der DDR, welches eine bewusste Gesellschafts- und Selbstanalyse aufweist. Dass sie sich dabei als Kassandra sieht, dafür steht dieses Buch.
Zur Autorin
Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski) geboren und lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis und dem Deutschen Bücherpreis für ihr Gesamtwerk. Sie starb 2011 in Berlin.
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[1] zit. nach Christa Wolf: Kassandra, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 2008. (HIER)
[2] zit. nach https://de.wikipedia.org/wiki/Kassandra_(Christa_Wolf)#Personen