Zauberlehrling

Ich war immer kreativ, sowohl im Denken wie auch im Tun. Ausgetretene Pfade waren nie meine, gerade Wege habe ich irgendwie keine gesehen oder verfolgt. Nie aus Prinzip, sie entsprachen mir einfach nicht. Ich zeichnete, bastelte, schrieb, schlüpfte in Rollen. Das war als Kind so, das blieb – ausser den Rollenspielen – auch später.

Als es darum ging, eine Ausbildung zu machen, entschied ich mich für ein Studium. Nur deswegen hatte ich überhaupt die Schule so lange durchgehalten: Ich wusste nie was, wusste aber, ich will studieren. Ich hasste Schule, fand nichts schrecklicher als diese starren Strukturen. Aber ich biss mich durch. Erste Studienwahl wäre Innenarchitektur gewesen. Da sah ich alles vereint, was ich toll fand: Kreativität, Design, Stil. Der väterliche Rat ging in eine andere Richtung, das sei nicht brauchbar auf dem Arbeitsmarkt. Nachdem ich mich bei Tiermedizin eingeschrieben und bei Jus angefangen hatte, wechselte ich zu Germanistik. Seines Zeichens Layouter bei einer Tageszeitung fand mein Papa das wunderbar, damit könne man viel machen (mit der Meinung stand er, wie ich später sowohl aus Reaktionen Dritter wie auch Jobsuchanstrengungen erfahren musste, ziemlich alleine). Philosophie kam dazu – es war wunderbar. Tiefe Gedanken, anregende Diskussionen, kreative Atmosphäre. Weil es so schön war, hängte ich noch eine Runde an, blieb in der Akademie, forschte philosophisch.

Alles hat ein Ende, so auch meine akademische Zeit. Die grosse Frage war: Was nun? Jobs hatte ich während des Studiums schon einige ausprobiert, dabei mehr erlebt, was ich nie wirklich will, als gesehen, was wirklich passt. Es lag auf der Hand, selbständig zu bleiben – und es damit zu werden. Immer wieder liebäugelte ich mit eigenen kreativen Projekten, begnügte mich aber lange Zeit damit, die anderer zu bearbeiten. Mit Spass und Freude, keine Frage, aber es fehlte was. Und das schrie immer lauter. Ich musste es erhören und stürzte mich ins Abenteuer. In eines, das mich in absolut neue Gebiete bringt – und täglich kommen neue dazu. Seit ich die Stimmen erhört habe, quasseln sie nur so, erzählen mir täglich von zig neuen Ideen, die der Umsetzung bedürfen. Und ich versuche, alles auszuprobieren, immer wieder neue Wege einzuschlagen, Techniken zu lernen, weiter zu kommen.

Bin ich Künstler? Es ist, als ob der Meister sich wegbegeben hätte und ich als Zauberlehrling hier stehe, das Wasser sich ergiesse, aus vollen Eimern, den kreativen Boden flute. Doch rufe ich nicht danach, dass es stoppe, es soll weitergehen.

Rezension: Silvio Blatter – Wir zählen unsere Tage nicht

Wollen wir sein, wer wir sind?

Severin hörte Isa die Treppe herunterkommen. Sie lebten seit vielen Jahren in dem grossen Haus, doch Severin hätte die Schritte seiner Frau auch unter vielen anderen sogleich erkannt.

Isa Lerch, erfolgreiche Radiomoderatorin am Ende ihrer Karriere, und Severin, passionierter Künstler, sind seit vielen Jahren verheiratet. Glücklich. Sie haben zwei Kinder, die beide schon ausser Haus leben, beide haben einen völlig anderen Weg als ihre Eltern eingeschlagen, haben sich für ein bürgerliches Leben entschieden. Eine Flucht?

Auch wenn Isa und Severin beide in ihren Projekten aufgehen, sich oft kaum sehen, ist die Liebe präsent.

Severin begehrte Isa noch immer.
Doch sie waren kein symbiotisches Paar, nie gewesen. Es war das erste Mal in dieser Woche, dass sich Isa und Severin am Tisch gegenübersassen, es war Freitag.

Isa und Severin stehen vor einem neuen Lebensabschnitt. Die glänzenden Jahren gehen ihrem Ende zu, die Kinder sind gross, das Alter steht vor der Tür. Die Zeit eines solchen Umbruchs ist immer auch die Zeit der (Rück-)Besinnung: Wie haben wir gelebt? War es das Leben, das wir wollten? Wohin führt der Weg jetzt? Wo stehen wir?

Silvio Blatter versteht es in seinem neusten Roman Wir zählen unsere Tage nicht, das Leben von Eva und Severin an der Schwelle in eine neue Zeit in einer klaren Sprache, tiefgründig und doch einfach, fast beiläufig, dabei weder oberflächlich noch distanziert, zu erzählen.

Der Sohn liebte die Mutter.
Mit dem Vater hatte er Schwierigkeiten. Der Vater kam ihm zu nah. Oder er kam gar nicht an ihn heran. Sie waren beide überempfindlich. Es fehlte ihnen das Gespür für die Distanz. Dabei liebte Mathias auch seinen Vater. Leider nicht immer gleich stark, und heute liebte er ihn gar nicht.

Es ist ein Roman, der Gegensätze aufgreift wie alt und jung, Bürger und Künstler, Eltern und Kinder. Es geht um Beziehungen zwischen Generationen, zwischen Geschlechtern, innerhalb von Familien und im Beruf. Es ist die Geschichte von solchen, die gehen, und anderen, die kommen – und von der Beziehung zwischen ihnen. Einfühlsam legt Blatter dem Leser das Innenleben seiner Figuren offen, zeigt ihre Beweggründe, ihre Ängste, ihre Hoffnungen. Er lässt den Leser mitfühlen und auch verstehen – ab und an auch wiedererkennen. Dabei driftet er nie ins Psychologisierende ab, lässt der Geschichte eine gewisse Leichtigkeit. Ganz grosse Schreibkunst!

Fazit:
Tiefgründige Analyse vom Leben, von der Liebe, von Familie, Beruf und dem Umgang mit dem Älterwerden. Sehr empfehlenswert.

 

Zum Autor
Silvio Blatter
Silvio Blatter wurde am 25. Januar 1946 in Bremgarten (AG) als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren. Nach dem Besuch der Bezirksschule absolviert er das Lehrerseminar, unterrichtet anschliessend, um dann einige Monate in der Metallindustrie zu arbeiten. Es folgen sechs Semester Germanistik an der Universität Zürich, um wieder in die Industrie zurückzukehren. 1975 absolvierte Blatter beim Schweizer Radio DRS eine Ausbildung zum Hörspielregisseur und liess sich nach Aufenthalten in Amsterdam und Husum als Schriftsteller in Zürich nieder. Heute pendelt der Autor zwischen Malerei und Schriftstellerei, lebt in Zürich und München.

 

Angaben zum Buch:
BlatterGebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Piper Verlag (9. März 2015)
ISBN-Nr.: 978-3492056458
Preis: EUR 19.99 / CHF 29.90

 

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Mal schnell die Welt retten

Kürzlich auf Facebook. Jemand meinte, mir die Welt erklären zu müssen. Er hatte – mich nicht kennend – all meine Probleme erkannt, sah, dass ich einsam sei, nie ausgehe und dazu noch ein Alkoholproblem hätte. Er meinte es nur gut und lobte sich selber ob seiner Menschenkenntnis und seines Durchblicks. Ich müsse ihm vertrauen. Er wisse, wovon er spräche.

Besagter Mensch kannte mich nicht wirklich – eigentlich kannte er mich gar nicht. Er hatte das Eine oder Andere vielleicht auf Facebook gelesen, wusste aber weder, was ich alles so mache im Leben, noch wie ich lebe, gelebt habe, zu leben vorhabe. Er wusste gar nichts von mir – er interpretierte.

Nun war das nicht das erste Mal, dass mir solches passierte. Und jedes Mal: Bei Nachforschungen, wer denn da so aus dem Vollen der Menschenkenntnis schöpft, stiess ich immer auf Menschen, die gesundheitlich angeschlagen, beruflich eher unerfüllt und beziehungsmässig alleine waren. Das fand ich sehr traurig, nur: Es stellt sich mir die Frage, woher ihr Drang rührt, anderen die Welt erklären zu wollen?

Die Hausfrauenpsychologin in mir würde nun sagen, sie agieren aus der eigenen Unzufriedenheit heraus. Sie projizieren in andere rein, was ihnen selber fehlt oder wo sie Probleme haben (was sie immer auch sagten, dass sie sie (zumindest gehabt) hätten. Dazu kommt, dass ich eine Frau bin und als solche noch eher sensibel und nachdenklich veranlagt – das scheint zu provozieren. Nur: Weil man was reinliest, ist das nicht auch da.

Damit nicht noch viele Weitere in die Irre gehen: Mir geht es gut. Man muss sich keine Sorgen machen. Ich habe eine wunderbare Familie, habe, ich darf es sagen, meinen Traumberuf, habe Hobbies, die mich ausfüllen, die mir Spass machen, die ich mit Leidenschaft betreibe, und ich bin alles andere als alleine. Und ab und an bin ich sogar alleine und das sehr gerne. Ich kämpfe fast drum, mal allein sein zu können, weil ich es brauche – wann sonst soll ich meine Hobbies pflegen? Klar ist mein Leben kein Paradies, denn ich bin nicht der Mensch dafür. Lebte ich im Paradies, würde ich selbst da das Haar in der Suppe finden – meint zumindest mein Herr Papa. Damit mache ich mir und meinen Lieben das Leben nicht immer leicht – aber auch nie langweilig.

Ergo: Alles gut. Und wer mal wieder denkt, die Welt retten zu müssen – bitte nicht bei mir, der Kelch möge an mir vorüber gehen.

Nicht gesucht – gefunden

Ich war wohl meines Lebens eine Suchende. Suchte nach Liebe, die ich nie kannte, weil sie nicht da war oder zumindest nicht gezeigt werden konnte. Weil sie missbraucht wurde, indem sie versprochen, nie gelebt wurde oder aber mit Lügen erkauft. Oder einfach ungewollt genommen. Ich suchte nach meinem Platz im Leben, den ich immer wieder aufgab, um eben andere Suchen zu ihrem Ende zu führen – und immer wieder auf die Nase fiel.

Ich habe seit Jahren mein Lebensmotto:

Ohne Liebe ist alles nichts.

Die Liebe selber lebte ich kaum. Mal fehlte sie, wo sie hätte sein sollen oder gar versprochen war, mal war sie nicht lebbar, weil zu viele Hindernisse da standen oder zumindest geahnt und gefürchtet waren. Das war kein wirklich grosses Problem, war ich doch sowieso ein eher rationaler Mensch, einer, der immer alles hinterfragte, auf zwei Beinen stand und die auf den Boden stellte. Kurze Höhenflüge landeten schnell, teilweise eher unsanft.

Wer in der Liebe schon so kläglich versagt, sollte wenigstens im Leben sonst besser bauen. Aber auch da baute ich auf Sand. Studierte, was kein Mensch braucht – war zwar gut darin, aber auch das half nichts, schadete wohl mehr. Die hochgezogenen Augenbrauen, die auf der einen Seite abschätzigen, auf der anderen Seite eher abgeschreckten Blicke,  kriegte ich gratis obendrauf. Jobs gab es nicht, weil zu viele Titel, zu wenig Erfahrung und vor allem keine Ellenbogen, Vitaminspritzen und anderen hilfreichen Mittel zum Zweck.

Und so sass ich immer mal wieder hier und fragte mich, was denn eigentlich aus mir werden sollte. Wer ich denn sei und was ich denn solle in dieser Welt. Was ich vor allem erwarten könnte und wie überleben. Von Natur Mimose (der Herr Papa würde das jederzeit unterschreiben und die nötigen Anekdoten gratis mitliefern),  tiefgründig, sensibel, eigensinnig und auch stolz, sah ich mich nicht vor den wirklich besten Voraussetzungen. Suchte mich mal hier, mal da, strandete, schwamm weiter, strauchelte, stand auf, erreichte doch eigentlich dieses und jenes, ohne es wirklich hoch zu schätzen, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, was ich grad nicht hatte oder war. Und immer, wenn ich vor einem Feld „Berufsbezeichnung“ stand, fing das Hirn zu rattern an. Beim Zivilstatus fehlte jedes Mal „gescheitert“.

Bin ich gescheitert? Beruflich? Im Leben? Ich denke nicht. Ich ging vielleicht keinen gradlinigen Weg. Ich ging nicht den Weg des „nine-to-five-job“s, sterbe nicht mit der Sandkastenliebe, aber ich blieb mir wohl immer treu – selbst wenn ich nicht wusste, wo ich gerade stand und wo ich hin wollte. Ich wusste immer, was ich nicht will und hatte das Glück, dazu stehen zu können. Insofern hatte mein Geburtstag recht: Ich bin ein Sonntagskind, ich habe Glück. Ich muss es nur sehen. Ab und an geht der Blick verloren, aber man kann ihn wieder zurückholen. Ausrichten an dem, was ist. Und darauf zoomen, was man will. Weil alles, was nicht richtig ist, genau darauf zielt, was sein soll.

Und irgendwann. Kommt der Moment. Man weiss: Das ist es. So soll es sein, so soll es bleiben.  Das sang schon einer. Dass ich es nicht zitiere bedeutet, dass er es nicht erfunden hat, da wäre noch Goethe:

 »Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!« (V 1699–1702)

Augenblicke können lange sein, auch kurz. Es können ganze Lebensmuster sein oder kleine Entscheidungen. Ich denke, relevant in dem Wunsch des Verweilens ist das Gefühl der Stimmigkeit. Das Gefühl: Das ist es. Und es wird kommen. Ab und an auf Umwegen, ab und an spät, manchmal ganz schnell, wenn man jemandem in die Augen blickt, ihn von Weitem gar sieht. So oder so: Es ist das Gefühl, das zeigt, wohin man gehen sollte. Es ist dieses Gefühl, nach dem man sich richten sollte. Der Verstand hat seine Berechtigung, er kann die Argumente liefern. Wenn das Gefühl ausbleibt, wird er es nie ersetzen können.

Der Verstand sucht – nach Argumenten, nach Umständen, nach Kriterien. Das Gefühl sagt nicht gesucht, aber gefunden:

 So ist es gut.

Arme Welt

Kürzlich sah ich eine Sendung, in der gesagt wurde, dass allein mit den weggeworfenen (und noch guten) Esswaren aus Deutschland der Welthunger halbiert werden könnte. Heute las ich in einer Zeitung, dass in der (ach so reichen) Schweiz jeder Siebte gefährdet ist, in die Armutsfalle zu tappen. Weltweit gibt es Hunger, weltweit gibt es Menschen, die kein Dach über dem Kopf , nicht die Möglichkeit, für ihre Gesundheit zu sorgen, nicht die Chance, Bildung zu geniessen und nicht das Glück, ihr Leben frei gestalten zu können, haben.

Dies allein ist schon traurig genug, aber noch viel trauriger ist es, dass das alles nicht nötig wäre. Nicht die Bevölkerungsdichte ist schuld, dass es Mangel gibt. Wir haben nicht zu viele Menschen auf einer zu kleinen Welt. Wir haben zu selbstverliebte Besitzende, die nicht bereit sind, einen Teil von ihrem Zuviel abzugeben, damit die, welche zu wenig haben, ein menschenwürdiges Leben führen können. Klar liest man immer wieder von grosszügigen Spenden von Reichen an Bedürftige oder Organisationen. Schaut man dahinter, ging es vielfach nicht um Nächstenliebe, sondern um einen Steuertrick. Das alleine wäre nicht verwerflich, das gespendete Geld hilft ja trotzdem und ist nicht schlechter, nur weil es aus Eigennutz gespendet wurde. Meist ist es aber ein Bruchteil dessen, was abgegeben werden könnte und noch viel öfter nur ein Tropfen auf den heissen Stein, der nur hilft, dass die von Armut geplagten nicht gleich verhungern, sondern Aufschub erhalten.

Die Thematik ist lange bekannt. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Es ist klar, dass niemand hungern müsste, würde man es wirklich ändern wollen. Es ist offensichtlich, dass es von allem genug hätte, würde man es gut verteilen. Ich sage damit nicht, dass man den Reichen jeden Luxus nehmen müsste, Gott bewahre, sie sollen in Saus und Braus weiter leben, viele von ihnen haben sich diesen Saus auch erarbeitet. Verdient im wortwörtlichen Sinne vielleicht nicht, aber immerhin etwas dafür getan.

Stellen wir uns mal vor: Morgen käme jemand und würde uns eine Million bieten, damit wir etwas tun für ihn. Wir könnten arbeiten und hätten dieses Jahressalär, das von vielen angeprangert wird als nicht mehr leistungsorientiert, als unverhältnismässig. Würden wir ablehnen? Würden wir sagen, dass wir das gar nicht verdienen und darauf verzichten, stattdessen für 100’000 arbeiten wollen? Oder gar für 72’000? Oder für wieviel eigentlich? Ich denke nicht. Wie können wir es von denen verlangen, die soviel verdienen? Freiwilligkeit scheint bei diesem Fall schwer zu sein, es müsste also von aussen kommen. Staatsgewalt? Ein Gesetz, das eine Höchstlohnstufe einführte? Oder sollte es ab einem gewissen Betrag eine Spendensollquote einführen? Das käme einer Steuererhöhung gleich. Und wem soll die zugute kommen? Armen im eigenen Land? Was passiert dann mit all den Hungernden in fremden Ländern, die keine so reichen Menschen haben, die ihren Anteil abgeben können? Zählen die nichts? Oder müssen wir in unserem Land dafür sorgen, dass andere Länder genug haben?

Kommt man dabei nicht in einen Konflikt mit der Souveränität? Wenn ich von aussen etwas über ein Land stülpe, übergehe ich dessen Souveränität. Sicher in einem Fall, den dieses Land nicht will. Nun kann man sagen, dass kein Land Hunger haben will. Allerdings hungern nie alle und meist die nicht, die das Geld in die Hände bekommen… Und schon sitzen wir wieder mittendrin.

Ein auswegloses Problem? Ist der Mensch einfach so, dass er hortet, hortet wie ein Eichhörnchen, ohne je den Hals voll genug zu kriegen? Wo könnte man den Hebel ansetzen, um diese selbstgerechte Welt aus den Angeln zu heben?

Mein Sohn meinte kürzlich, dass die Welt ungerecht wäre. Das allein ist keine neue Erkenntnis, wenn auch für einen bald 11 Jährigen nicht ganz selbstverständlich. Er machte diese Einsicht daran fest, dass er fand, dass ein Bauer viel mehr für die Menschen täte, indem er ihr Überleben durch Nahrungsmittel sichere als ein Anwalt. Trotzdem verdiene ein Anwalt viel mehr als ein Bauer. Er fand das ungerecht. Und bei Lichte betrachtet hat er damit einen wichtigen Punkt angeschnitten. Wir achten heute so viele Berufe mehr, die in abstrakten und abgehobenen Bereichen tätig sind, dass wir die, welche mit ehrlichem Handwerk für ihr Auskommen und auch für das Überleben (Bauer), das Hausen (Maurer), das Wohnen (Schreiner) sorgen, herabsetzen. Ihr Bildungsweg war ein geringerer, das macht sie in unserer Werte- (und Lohn-) Bemessung minderwertig. Wir messen Wert an abstrakten Grössen und vergessen dabei oft die Lebensnotwendigkeiten. Diese sehen wir erst, wenn sie fehlen. In der Armut. Und dagegen tun wir nichts, weil wir sie nicht sehen wollen. Ein Perpetuum Mobile, das in den Abgrund führt?

Beziehungen von gestern?

Früher wurden Beziehungen aus verschiedenen Gründen eingegangen. Liebe war selten zentral dabei, ökonomische und (familien)politische Überlegungen waren vordergründig. Durch die übliche und gesellschaftlich einzig akzeptierte Rollenverteilung war Frau, einmal geheiratet, gar nicht mehr in der Lage, sich anders zu entscheiden. Hätte sie es getan, wäre sie nicht nur gesellschaftlich geächtet gewesen, sondern auch wirtschaftlich ruiniert, hing sie doch am Mann dran. Sie war aber selber durchaus zu was gut, galt doch ein verheirateter Mann vor allem auch beruflich als gefestigter, hatte er noch eine Vorzeigefamilie, stieg er gar zum Bilderbuchmann auf. Was er nebenher so laufen hatte, kümmerte keinen, denn das hatte jeder, man wusste es, man sah drüber weg. Man hatte wohl nicht den Anspruch, dass es anders wäre, da man gar nicht die Hoffnung hatte, es könnte anders sein.

Die Zeiten haben sich geändert, die herkömmlichen Rollenmuster sind aufgeweicht und politische und finanzielle Heiratsgründe verpönt. Die Liebe zählt – und nur sie allein. Was auf Liebe gründet, soll ewig währen. Nebengeschäfte sind tabu. Dass es sie noch immer gibt, weiss man, will man aber nicht wirklich wahrhaben oder aber man hofft, dass der Kelch an einem vorüber zöge. Frau hat den Vorteil, einfach gehen zu können, sie hat heute Möglichkeiten und Wege, hängt nicht mehr zwangsläufig am Mann dran. Mann findet sich als nicht verheirateter in guter Gesellschaft, je höher die Karrierestufe – so liest man – in umso zahlreicherer.

Die Scheidungsraten sind gestiegen, Beziehungen sind nicht mehr Dauerware, sondern höchstens Etappen füllend. Woran liegt es? Bauen Beziehungen auf dem falschen Grund auf? Ist Liebe zwar wunderbar zu haben aber nicht dauerhaft? Ist es mit den Gefühlen zu Menschen wie mit dem Geschmack beim Essen? Das heutige Leibgericht ist morgen ersetzt? Wechseln wir nicht nur unsere eigenen Wesensarten, sondern damit auch das, was wir im Aussen suchen? Möglich wäre es.

Die heutige Unabhängigkeit von Mann und Frau könnten aber auch die Erwartungen ans Gegenüber wachsen lassen. Da ich den anderen nicht wirklich brauche, muss er noch viel besser sein, damit ich bleibe, denn ich muss ja nicht. Wenn man bleiben muss, sieht man (gezwungener Massen) über mehr hinweg als wenn man gehen kann. Sicherte früher das Bleiben das (zumindest gesellschaftliche) Überleben, so kann heute schneller der Gedanke aufkommen, dass Bleiben eher das Leben belastet. Wozu etwas behalten, das man nicht braucht und das nicht ist, was man gerne hätte?

Wozu also geht man heute noch Beziehungen ein, wenn man sie nicht mehr braucht (zum Überleben) und Liebe selten ewig hält? Ist der Mensch von heute Einzeltierchen mit zeitweiligem Bedürfnis nach Austausch, jegliche weiterführende Verbindlichkeit mehr Ballast denn Lust?