Werkstattgespräche – Ivar Leon Menger

Ivar Leon Menger, 1973 in Darmstadt geboren, ist Schriftsteller, Diplom-Designer, Werbetexter, Hörspielautor und Regisseur. Bekannt wurde er durch seine erfolgreichen Audible-Hörspielserien Ghostbox und Monster 1983, für die er 2023 mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet wurde. 2022 erschien sein Thrillerdebüt Als das Böse kam, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde und für den französischen Krimipreis 2025 nominiert ist, ein Jahr darauf sein zweiter Thriller Angst. Sein dritter Roman Finster ist SPIEGEL-Bestseller.

Wer bist du? Wie würdest du deine Biografie erzählen?

Meine Biografie ist eine Achterbahnfahrt, die für einen Roman taugen könnte. Nach dem Abitur habe ich Grafikdesign studiert und dabei meine Liebe für den Film entdeckt. Da mein Vater mir kein zweites Studium finanzieren wollte, habe ich fünf Jahre als Werbetexter gearbeitet, um Schreiben zu lernen. In dieser Zeit habe ich meinen ersten Kurzfilm gedreht, der auf der Berlinale ausgezeichnet wurde. Daraufhin habe ich meinen sicheren Job gekündigt und in einer Videothek gejobbt und an meinem nächsten Kurzfilm gearbeitet. Dieser Film hat glücklicherweise einen Regie-Award bei ProSieben gewonnen und ich durfte einen 20:15 Uhr Film mit Bjarne Mädel drehen. Dafür bin ich extra nach Berlin gezogen. Doch zwei Wochen vor Drehbeginn haben sich die Produktionsfirma und der Sender zerstritten und das Projekt ist gestorben. Ich wusste nicht weiter. Ein befreundeter Synchronsprecher, Jan-David Rönfeldt, hat daraufhin aus meinem Episodendrehbuch «Der Prinzessin», das ich kurz zuvor geschrieben hatte, ein Hörspiel produziert. Für die Rolle des Stalkers habe ich Jens Wawrczeck gewonnen, der bei der Hörspielreihe «Die drei ???» Peter Shaw spielt. Jens hat mich dann wiederum als Autor bei Sony/Europa empfohlen und so kam ich zum Hörspiel. Und dort blieb ich über fünfzehn Jahre lang. Im Jahr 2021 habe ich dann meinen Debütroman „Als das Böse kam“ geschrieben und wechselte in den Literaturbereich.
Das ist jetzt ein etwas längerer Text geworden, und doch ist es nur die Kurzversion.

Wieso schreibst du? Wolltest du schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen Auslöser für dein Schreiben?

Ich habe schon immer Geschichten erfunden und erzählt. Es begann in meiner Kindheit, wenn Freunde bei mir übernachtet haben. Dann habe ich mir gruselige Märchen ausgedacht und sie im Dunkeln erzählt. Einmal hat sich ein Freund so sehr gefürchtet, dass er von seinen Eltern wieder abgeholt werden wollte. Da wusste ich, das sollte ich beruflich machen.

Es heisst, Ideen liegen auf der Strasse, doch nicht jeder sieht dasselbe, interessiert sich für dasselbe. Wo findest du generell deine Ideen?

Meine Ideen finde ich tatsächlich im Alltag. Gespräche am Nachbartisch, in der Tageszeitung oder erlebte Situationen mit meiner Familie, in denen ich mich frage: Was wäre, wenn jetzt die Tür aufgehen würde und dann …

Wenn du auf deinen eigenen Schreibprozess schaust, wie gehst du vor? Entsteht zuerst ein durchdachtes Gerüst, ein Konvolut an Notizen oder aber schreibst du drauflos und schaust, wo dich das Schreiben hinführt?

Wenn ich eine Idee für einen besonderen Twist, ein ungewöhnliches Ende oder die Ausgangssituation für den ersten Akt habe, dann fange ich an zu schreiben. Ich mache mir keinen Plan. Ich bin kein Plotter, sondern schreibe, was aus meinem Bauch, Herz und Kopf kommt. Erst ab dem dritten Akt mache ich mir Gedanken, wie ich alle Fäden zusammen- und zu einem überraschenden Ende bringe.

Wie sieht es mit dem Schreibmaterial aus? Schreibst du den ersten Entwurf von Hand oder hast du gleich in die Tasten? Wenn von Hand, muss es dieser eine Füller sein oder das immer gleiche Papier?

Ich schreibe auf einer elektrischen Schreibmaschine. Meiner geliebten Hemingwrite. Die hilft mir, in den Flow zu kommen und nicht ständig während des Schreibprozesses zu editieren. Danach überarbeite ich den Text kapitelweise auf dem MacBook, mit der Software Papyrus.

Ich hörte mal, der grösste Feind des Schriftstellers sei nicht mangelndes Talent, sondern die Störung durch andere Menschen. Ich glaube, du würdest dem zustimmen?

Tatsächlich kann ich kaum bis gar nicht im Zug oder in Cafés schreiben. Ich mag es nicht, wenn mir jemand beim Arbeiten zusieht. Ich brauche einen kleinen Raum für mich selbst. Manchmal schreibe ich mit absoluter Stille, manchmal auch mit Film- oder klassischer Musik.

Thomas Mann hatte einen strengen Tagesablauf, in dem alles seine zugewiesene Zeit hatte. Wann und wo schreibst du? Bist du auch so organisiert oder denkst du eher wie Nietzsche, dass aus dem Chaos tanzende Sterne (oder Bücher) geboren werden?

Ich habe tatsächlich keinen strengen Tagesablauf. Morgens schreibe ich jedoch am liebsten. Aber nicht täglich. Es kommt vor, dass ich vier Tage lang Pause mache und nicht an der Schreibmaschine sitze, weil andere Projekte Vorrang haben. Wie zum Beispiel eine längere Buchhandelsreise oder eine Hörspielproduktion. Ich komme aber immer wieder in meine Texte rein, sogar wenn ich sechs Wochen lang nicht daran geschrieben habe. Ich vertraue in die geistige Welt, in meine Musen, die mich beim Schreiben unterstützen.

Was sind für dich die Freuden beim Leben als Schriftsteller, was bereitet dir Mühe?

Meine Freuden als Schriftsteller sind definitiv, dass ich schreiben kann, wann und wo ich möchte. Ich brauche nichts anderes als meine Schreibmaschine. Das ist wahres Glück.

Hat ein Schriftsteller je Ferien oder Feierabend? Wie schaltest du ab?

Ich schalte niemals ab. Zumindest nicht unbewusst. Überall wittere ich eine Geschichte, ein Kapitel oder eine Szene – halte Augen und Ohren offen. Aber das ist ja das Schöne an unserer Berufung.

Dein Weg führte vom Design-Studium über die Werbung (Vaters Fussstapfen?) hin zu Hörspielen. Dann kamen erste Bücher. Was treibt dich immer weiter? Und: Wohin geht es nun?

Im Literaturbetrieb gefällt es mir ausserordentlich gut. Hier fühle ich mich zuhause, angekommen. Wenn es nach mir geht, möchte den Rest meines Lebens nur noch Romane schreiben.

Was reizt dich am Genre Krimi/Thriller?

Die Überraschung. Das «Angst machen». Scheinbar ist das ein Teil meiner DNA, wie bei Katzen das Jagen.

Es gibt die Einteilung zwischen hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur (was oft einen abschätzigen Unterton in sich trägt). Was hältst du von dieser Unterteilung und hat sie einen Einfluss auf dich und dein Schreiben?

Ich bin kein Freund der Unterscheidung zwischen U- und E-Literatur. Aber ich kann verstehen, dass es für den Buchhandel einfacher ist. Schließlich wird in der Musik genauso verfahren. Am Ende findet jedes Buch seine Leserschaft.

Dein neustes Buch „Finster“ ist eine Anlehnung an die Dürrenmatt-Verfilmung „Es geschah am helllichten Tag“ (die ich sehr liebe). Was hat dich dazu gebracht, diesen Stoff neu aufzugreifen?

Mich hat der Film als Jugendlicher sehr fasziniert. Besonders Gerd Fröbe als Antagonist. Erst später kam auch die Faszination zu Dürrenmatts weiteren Werken, die ich ebenfalls sehr liebe. Ich wollte das Gefühl, das ich damals beim Filmsehen hatte, in meine eigene Vision des Grauens umsetzen. Es ist meine Art der Verbeugung vor Dürrenmatt.

Dein Buch spielt 1986, eine Zeit, in der auch in der Schweiz immer wieder Kinder verschwanden. Wann und wie kann dir die Idee, deinen Thriller in der Zeit spielen zu lassen?

Da ich 1986 selbst dreizehn Jahre alt war, konnte ich mich gut in die Zeit von Tschernobyl, der Popmusik und dem kalten Krieg einfühlen – aus Kindersicht.

Ein weiteres Thema des Buches ist die Liebe zwischen Stahl und Geli. Liebe im Alter – in unserem Alter meistens noch nicht erste Priorität der Themen. Wieso doch?

Die Liebesgeschichte zwischen Stahl und Geli habe ich bewusst und mit Freude geschrieben, um meiner Leserschaft zu zeigen, dass Liebe nicht irgendwann aufhört. Nur weil man älter ist. Ich habe die beiden sehr in mein Herz geschlossen. Sind sie nicht süß?

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiografisch. Nun ist jeder Mensch ein Kind seiner Zeit und seines Umfelds, wie viel von dir steckt in deinen Romanen, in den einzelnen Figuren?

Es gibt tatsächlich ein Kapitel in diesem Buch, das ich selbst als Kind erlebt habe. Eine schlimme Erfahrung. Es war mir ein Anliegen, sie durch dieses Buch zu verewigen.

Was treibt dich immer wieder an, noch ein Buch zu schreiben? Oder anders gefragt: Wäre ein Leben ohne zu schreiben denkbar für dich?

Ein Leben ohne Geschichten ist für mich nicht denkbar. Ich habe so viele Ideen, und täglich kommen neue dazu, so viele Bücher kann ich gar nicht schreiben.

Was muss ein Buch haben, damit es dich beim Lesen begeistert und wieso? Legst du Wert auf das Thema, die Sprache oder die Geschichte? Ist das beim eigenen Schreiben gleich?

Ich lege Wert auf Geschichten, die mich unterhalten. Die mich miträtseln lassen, so sehr, dass ich den ganzen Tag an das Buch denken muss und mich darauf freue, es endlich weiterzulesen. Es gibt aber auch Bücher, die ich hauptsächlich wegen ihres Stils sehr gerne lese. Dazu gehören die Werke von Martin Suter und Daniela Krien.

Wenn du fünf Bücher nennen müsstest, die in deinem Leben eine Bedeutung haben oder die du anderen empfehlen möchtest, welche wären es?

An allerster Stelle kommt „Das Parfüm“ von Patrick Süskind, von dem ich verschiedene Originalausgaben sammle. Mein großes Vorbild, durch das ich mich jahrelang nicht getraut habe, selbst zu schreiben. Weil ich dachte, so einen wundervollen Stil wirst du niemals entwickeln. Bis mir klar wurde, ich habe eine eigene Stimme. Darüber hinaus empfehle ich alle Bücher von Jason Starr, „Ein perfekter Freund“ von Martin Suter, aber auch „Melody“, „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Daniela Krien und Shirley Jackson „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“.

Was rätst du einem Menschen, der ernsthaft ein Buch schreiben möchte?

Mein Ratschlag ist der, den ich selbst bei meinem Debütroman angewendet habe: Schreibe jeden Tag eine Seite. Nur eine Seite, das kann man im Alltag gut einrichten. Und in einem Jahr hast du 365 Seiten – einen fertigen Roman.

Werkstattgespräche – T. M. Logan

T.M. Logan wurde in Berkshire als Sohn eines englischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Er war Wissenschaftsreporter bei der Daily Mail und arbeitete anschließend in der Hochschulkommunikation. Seit 2017 lebt T.M. Logan vom Schreiben – und das sehr erfolgreich: Mit seinen Thrillern hat er ein ums andere Mal Bestseller geschrieben und in England bereits ein Millionenpublikum begeistert. Auf Deutsch von ihm erschienen sind u.a. «Trust me», «The Parents», «The Catch», «Holiday». Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt, darunter Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Niederländisch und Koreanisch. Der Autor lebt mit seiner Familie in Nottinghamshire.

Wer bist du? Wie würdest du deine Biografie erzählen?

Ich bin 53 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern (eine Tochter, 24, und einen Sohn, 21). Acht Jahre lang war ich Journalist und habe danach im Kommunikationsteam einer Universität gearbeitet, bis 2017 mein erster Roman veröffentlicht wurde – seitdem habe ich jedes Jahr ein Buch geschrieben und nun acht Bücher in Großbritannien veröffentlicht. Ich lebe in Nottingham, in der Nähe von dem Ort, an dem meine Frau Sally aufgewachsen ist.

Du bist als Sohn eines englischen Vaters und einer deutschen Mutter aufgewachsen. Hat dich dies in einer Weise beeinflusst? Durch unterschiedliche Kulturen oder Sprachen?

Meine Mutter Vera wurde in Leipzig geboren und ist in Köln aufgewachsen, bevor sie 1963 nach England zog, um meinen Vater zu heiraten. In meiner Kindheit habe ich oft mit meiner Familie Deutschland besucht, um Verwandte und Freunde zu sehen. Dadurch fühle ich mich sehr europäisch. Dass ich als Kind zu Hause Deutsch hörte, half mir zu erkennen, dass es viele verschiedene Arten gibt, eine Geschichte zu erzählen, und das neben den Erzähltraditionen, mit denen ich in Großbritannien aufgewachsen bin, viele andere Erzähltraditionen existieren.

Wieso schreibst du? Wolltest du schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen Auslöser für dein Schreiben?

Ich schreibe, weil ich es liebe! Schreiben war schon immer etwas, das ich tun wollte, seit meiner Teenagerzeit. Schreiben hat mich in die Welt des Journalismus gezogen. In meinen Dreißigern wurde mir klar, dass das Schreiben eines Buches ein weiteres Maß an Engagement erfordern würde. Ich war entschlossen herauszufinden, ob ich es schaffen könnte. Ich setzte mir das Ziel, jeden Tag 45 Minuten bis eine Stunde zu schreiben, vielleicht kamen dabei jeweils nur 300-400 Wörter heraus. Ich wollte sehen, ob ich das durchziehen könnte, bis ich ein vollständiges Buch habe.

Es heisst, Ideen liegen auf der Strasse, doch nicht jeder sieht dasselbe, interessiert sich für dasselbe. Wo findest du generell deine Ideen?

Oft finde ich die erste Inspiration im Alltag. Zum Beispiel kam die Idee für The Parents einfach von einer der Nächte, in denen ich darauf wartete, dass mein Sohn von einem Abend mit seinen Freunden nach Hause kam. Es war nach Mitternacht, und ich lag im Bett und fragte mich, wo er war und wann er zurückkommen würde – dann begann ich zu überlegen, was ich tun würde, wenn er in Schwierigkeiten oder in ein Verbrechen verwickelt worden wäre. Holiday wurde durch die jährliche Reise meiner Frau mit drei ihrer besten Freundinnen inspiriert. Die Inspiration für The Catch kam ursprünglich durch den Freund meiner Tochter, sie war damals noch ein Teenager.

Wenn du auf deinen eigenen Schreibprozess schaust, wie gehst du vor? Entsteht zuerst ein durchdachtes Gerüst, ein Konvolut an Notizen oder aber schreibst du drauflos und schaust, wo dich das Schreiben hinführt?

Ich plane gerne einen Teil der Geschichte und habe eine gute Übersicht, bevor ich anfange. Ich verbringe 4-6 Wochen damit, den Plan, den Hauptbogen der Geschichte, einige der wichtigen Ereignisse und Wendepunkte auf dem Weg auszuarbeiten. Beim Schreiben beginnen dann die Charaktere oft, sich zu behaupten, und verändern dadurch Aspekte der Geschichte auf eine Weise, die ich ursprünglich nicht geplant hatte.

Wie sieht es mit dem Schreibmaterial aus? Schreibst du den ersten Entwurf von Hand oder hast du gleich in die Tasten? Wenn von Hand, muss es dieser eine Füller sein oder das immer gleiche Papier?

Ich plane zuerst auf Papier, mit Bleistift in einem Notizbuch. Aber dann wechsle ich zum Computer, um die Geschichte selbst zu schreiben – ich benutze ein Programm namens Scrivener, das hilft, die gesamte Form der Geschichte zu sehen. Ich konvertiere es in Word, bevor ich es an meinen Lektor schicke, und gehe dann alle Bearbeitungen in Word durch.

Ich hörte mal, der grösste Feind des Schriftstellers sei nicht mangelndes Talent, sondern die Störung durch andere Menschen. Ich glaube, du würdest dem zustimmen?

Es kann schwierig sein, Zeit zum Schreiben zu finden. Das war besonders der Fall, als ich in einem Vollzeitjob arbeitete und meine Kinder noch kleiner waren: Es gab fast immer Unterbrechungen im Laufe des Tages. Ich habe einfach versucht, jeden Tag mindestens 45 Minuten zum Schreiben zu finden – manchmal spät am Abend oder früh morgens, bevor meine Kinder aufwachten, wenn es weniger Ablenkungen gab.

Thomas Mann hatte einen strengen Tagesablauf, in dem alles seine zugewiesene Zeit hatte. Wann und wo schreibst du? Bist du auch so organisiert oder denkst du eher wie Nietzsche, dass aus dem Chaos tanzende Sterne (oder Bücher) geboren werden?

Ich versuche, an Wochentagen von 8 Uhr morgens bis zum Mittag zu schreiben, und nutze den Nachmittag für administrative Aufgaben, E-Mails, soziale Medien, meine Website usw. Auch zum Lesen! Aber generell arbeitet mein kreatives Gehirn besser am Morgen, also versuche ich, diese Zeit dem Schreiben zu widmen. Ich weiß, dass diese vier Schreibstunden am Morgen der wichtigste Teil meines Arbeitstages sind – alles andere ist zweitrangig.

Was sind für dich die Freuden beim Leben als Schriftsteller, was bereitet dir Mühe?

Etwas aus dem Nichts zu erschaffen, ist das größte Vergnügen und Privileg des Schreibens. Menschen und Geschichten zum Leben zu erwecken, ist mein Lieblingsteil des Prozesses. Allerdings kann das Bearbeiten manchmal eine Herausforderung sein, aber es ist ein notwendiger und wichtiger Teil des Prozesses – auch wenn es sich anfühlt, als würde man die Geschichte auseinandernehmen und Stück für Stück wieder zusammenfügen.

Hat ein Schriftsteller je Ferien oder Feierabend? Wie schaltest du ab?

Ich habe normalerweise an den Wochenenden frei und mache Urlaub mit meiner Frau und manchmal mit Freunden. Zum Abschalten lese ich, ob Belletristik oder Sachbücher, höre Podcasts und Hörbücher, schaue eine Serie im Fernsehen (ich genieße gerade Ted Lasso und Slow Horses) oder spiele Tennis.

Du hast als Wissenschaftsreporter gearbeitet, bevor du zum Schreiben von Büchern übergingst. Wieso hast du dich für Thriller entschieden?

Ich schreibe das, was ich selbst gerne lese, und deshalb habe ich mich für Thriller entschieden. Es ist mein Lieblingsgenre und das schon seit meinen Zwanzigern.

Es gibt die Einteilung zwischen hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur (was oft einen abschätzigen Unterton in sich trägt). Was hältst du von dieser Unterteilung und hat sie einen Einfluss auf dich und dein Schreiben?

Wir haben eine ähnliche Trennung im Vereinigten Königreich! Aber es stört mich nicht allzu sehr. Es gibt hier eine gewisse Arroganz gegenüber Unterhaltungsliteratur oder Massenmarkt-Büchern, aber ich ignoriere das meistens. Vielfalt ist eine gute Sache und ich mag es, dass es Bücher für jeden Geschmack und jede Vorliebe gibt – meine Romane sind nur ein Teil davon.

In deinem Buch „The Parents“ schreibst du über das wohl Schlimmste, was Eltern passieren kann: Ihr Kind verschwindet. Dabei belässt du es aber nicht, sondern das Kind taucht wieder auf, steht nun aber unter Verdacht, eine grausame Tat begangen zu haben. Wie bist du auf dieses Thema gekommen? Was fasziniert dich daran?

Mich interessieren immer die Grauzonen, die zwischen richtig und falsch, zwischen weiss und schwarz liegen. Weiss und Schwarz sind nicht so interessant, es gibt keine Nuancen, keinen Zweifel. Aber wenn man sich irgendwo dazwischen befindet, ist das aus meiner Sicht als Leser und Schriftsteller viel faszinierender. Wir alle lieben unsere Kinder, aber wie weit würden wir gehen, um sie zu schützen, wenn sie etwas Schreckliches getan haben oder wir den Verdacht haben, dass sie es getan haben?

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiografisch. Nun ist jeder Mensch ein Kind seiner Zeit und seines Umfelds, wie viel von dir steckt in deinen Romanen, in den einzelnen Figuren?

Es gibt in vielen meiner Charaktere Teile von mir. Sicherlich in den Protagonisten der Geschichten. Ich greife auch auf meine eigenen Kinder und deren Erfahrungen zurück, manchmal auf die Eigenschaften meiner Frau und anderer Menschen, die ich kenne.

Was treibt dich immer wieder an, noch ein Buch zu schreiben? Oder anders gefragt: Wäre ein Leben ohne zu schreiben denkbar für dich?

Ich liebe es, neue Geschichten zu erschaffen, und ich sehe nicht, dass ich so bald damit aufhören werde. Ich werde immer das Bedürfnis haben, etwas zu schreiben, was auch immer es ist. Ich denke, es wird immer einen Teil von mir geben, der eine neue Geschichte erschaffen will, der die Charaktere treffen und herausfinden möchte, wie alles endet.

Was muss ein Buch haben, damit es dich beim Lesen begeistert und wieso? Legst du Wert auf das Thema, die Sprache oder die Geschichte? Ist das beim eigenen Schreiben gleich?

Wenn ich lese, können es verschiedene Dinge sein – ein Charakter, der auf den Seiten zum Leben erwacht, ein großartiger Aufhänger, eine unerwartete Wendung, fesselnde Dialoge oder einfach eine schnelllebige Geschichte, mit der ich mich auf irgendeine Weise identifizieren kann. Ich mag es, all diese Elemente in meinen eigenen Romanen zu haben.

Wenn du fünf Bücher nennen müsstest, die in deinem Leben eine Bedeutung haben oder die du anderen empfehlen möchtest, welche wären es?

  • A Simple Plan von Scott Smith
  • Tell No-One von Harlan Coben
  • The Silence of the Lambs von Thomas Harris
  • On Writing von Stephen King
  • Into the Woods von John Yorke

Was rätst du einem Menschen, der ernsthaft ein Buch schreiben möchte?

Lies viel und nimm so viel wie möglich auch aus anderen Medien auf. Sei ein Schwamm, der alles aufsaugt. Schreibe das Buch, das du selbst gerne lesen würdest. Versuche, dir jeden Tag ein bisschen Zeit dafür freizuhalten, denn Schreiben ist wie Laufen, eine Sprache zu lernen oder jede andere neue Fähigkeit zu erwerben: Du wirst durch regelmäßiges Üben besser. Leider gibt es wirklich keine Abkürzungen!

Herzlichen Dank Tim, dass du dir die Zeit für diese wunderbaren Antworten genommen hast!

Werkstattgespräche – Nelio Biedermann

2003 kam Nelio Biedermann zur Welt und wuchs am Zürichsee auf. Schon früh entdeckte er seine Freude am Schreiben, gewann im Gymasium seinen ersten Wettwerb und wusste: Das will ich weitertun. Schon während seiner Gymnasialzeit erschien sein erster Roman „Verwischte Welt“ und eine Kurzgeschichtensammlung wurde vom Kanton Zürich ausgezeichnet. Aktuell studiert Nelio Biedermann Germanistik und Filmwissenschaften an der Universität Zürich und arbeitet nebenbei als Kellner.

Wer bist du? Wie würdest du deine Biografie erzählen?

Ich würde über ein Kind schreiben, das sehr viel wahrnahm und fühlte und oft in Gedanken versunken war. Mein Erwachsenenleben ist noch zu kurz für eine Biografie. 

Wieso schreibst du? Wolltest du schon immer Schriftsteller werden oder gab es einen Auslöser für dein Schreiben?

Zu dieser Frage könnte ich gleich ein nächstes Buch schreiben. Kurz gesagt: Weil es mir mehr erfüllt als alles andere. Der Auslöser war das Buch «The Goldfinch» von Donna Tartt. Nach dieser Lektüre wollte ich irgendwann einmal etwas ebenso Grossartiges schreiben.

In einem Interview hörte ich mal, du hättest im Schreiben endlich gefunden, was du lange gesucht hast. Wie merktest du, dass das so ist? Wie äussert sich das?

Als ich meine erste Kurzgeschichte für einen Wettbewerb meines Gymnasiums schrieb, verschwand ich zwei Tage in meinem Zimmer und tat nichts anderes. Ich war wie in einem Rausch und wusste, dass ich das weiterhin tun möchte. Als ich den Wettbewerb dann auch noch gewann, begriff ich, dass ich das nicht nur gerne tue, sondern auch gut kann.  

Woher holst du die Ideen für dein Schreiben? Natürlich erlebt und sieht man viel, aber wie wird eine Geschichte draus?

Das können sehr kleine Ideen und Gedanken sein, die man immer weiter verfolgen und verknüpfen muss. Tut man das genug lang, wird irgendwann ein Buch daraus. Woher die Anfangsideen dieser langen Assoziationskette kommen, ist rückblickend schwer zu sagen.

Wenn du auf deinen eigenen Schreibprozess schaust, wie gehst du vor? Entsteht zuerst ein durchdachtes Gerüst, ein Konvolut an Notizen oder aber schreibst du drauflos und schaust, wo dich das Schreiben hinführt?

Ein durchdachtes Gerüst habe ich nie, die Ideen kommen mir meist beim Schreiben selbst. Je länger ich an einer Geschichte schreibe, desto klarer wird das Gefühl dafür, wohin sie sich entwickeln und wie sie enden wird.

Wenn man an Schriftsteller denkt und auch Interviews liest, schreiben viele die ersten Entwürfe von Hand, oft sogar mit dem immergleichen Schreibmaterial (Legal Pad oder Notizbuch und Bleistift oder ein bestimmter Füller). Wie sieht das bei dir aus? Mit Stift oder gleich in die Tasten?

Ich schreibe alles von Hand und tippe es dann kontinuierlich ab. Das hilft mir, im Fluss zu bleiben und den Text schon ein erstes Mal zu überarbeiten, während er sich noch entwickelt.

Wann und wo schreibst du?

Meist schreibe ich spät abends an meinem Schreibtisch, wobei ich «Anton will bleiben» auf einer dreimonatigen Reise durch Südostasien verfasst habe. 

Ich hörte mal, der grösste Feind des Schriftstellers sei nicht mangelndes Talent, sondern die Störung durch andere Menschen. Brauchst du zum Arbeiten Stille und Einsamkeit, oder stören dich andere Menschen nicht?

Ich hörte mal, dass Mark Twain immer die Türklinke zu seinem Schreibzimmer abschraubte, um nicht gestört zu werden. In Stille und Einsamkeit zu schreiben, ist sicher einfacher als im Zug; schafft man es, völlig in die Geschichte einzutauchen, geht es aber überall. 

Was sind für dich die Freuden beim Leben als Schriftsteller, was bereitet dir Mühe?

Die grössten Freuden sind, immer eine Welt zu haben, in die ich mich flüchten kann, jeden Tag etwas zu erschaffen und mich selbst zu fordern. Mehr Mühe als das Schreiben bereitet mir alles, was zum Leben als Schriftsteller dazugehört wie das Beantworten von Mails, das Rechnungen stellen oder das Reisen zu Lesungsorten. 

Hat ein Schriftsteller je Ferien oder Feierabend? Wie schaltest du ab?

Nein, ich schreibe auch in den Ferien. Abschalten will ich gar nicht, ich sauge alles auf. Kann ich nicht schreiben, geht es mir schlecht.

Der Mann von Joan Didion riet ihr, immer ein Notizbuch dabei zu haben. Die Notizbücher gewisser Schriftsteller sind legendär. Führst du auch eines und wenn ja, was kommt da rein?

Ein Notizbuch führe ich nicht. Ich habe aber unzählige Notizen auf meinem Handy, mit denen ich alles festhalte, was mir durch den Kopf geht oder was ich sehe. Vieles davon verwende ich jedoch gar nie.

Goethe sagte, alles Schreiben sei autobiografisch. Nun ist Anton aus deinem Roman „Anton will bleiben“ ein älterer Herr und Witwer, damit kein Ebenbild von dir. Wie viel von Nelio Biedermann steckt in Anton oder in deinem Roman generell?

In Anton steckt sehr viel von mir, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so scheint. Goethe hatte mit seiner Aussage sicher recht (immerhin war er Goethe); ohne aus sich selbst und seinen Erfahrungen zu schöpfen, kann keine Literatur entstehen.

«Anton will bleiben» handelt vom Tod und davon, was von uns bleibt, wenn wir gehen. Wie kommt es, dass du dir über solche Themen Gedanken machst? Und: Ist Schreiben dein Weg, etwas zu hinterlassen irgendwann?

Ich hoffe sehr, dass mich mein Schreiben überdauern wird, wobei ich an Anton ja auch gezeigt habe, dass es Erstrebenswerteres gibt. Woher diese Gedanken kommen, weiss ich nicht, aber mir war die Vergänglichkeit, das Rinnen der Zeit schon immer sehr bewusst.  

Es gibt die Einteilung zwischen hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur (was oft einen abschätzigen Unterton in sich trägt). Was hältst du von dieser Unterteilung und hat sie einen Einfluss auf dich und dein Schreiben?

Ich denke, dass auch hohe Literatur, sehr unterhaltend sein kann, weshalb die Einteilung wenig sinnvoll ist. Mein Ziel ist es, genau das zu schaffen: Literatur, die literarisch wertvoll ist und die man nicht aus der Hand legen will.  

In Amerika sind Kurse in kreativem Schreiben schon lange populär, in unseren Breitengraden scheint immer noch die Idee vom Genie vorzuherrschen und das Lernen des Handwerks wird eher stiefmütterlich behandelt. Ist Schreiben lernbar? Wie ist/war das bei dir?

Seit «Anton will bleiben» habe ich mir enorm verbessert, was vor allem daran liegt, dass ich jeden Tag geschrieben habe. Ein gewisses Grundtalent, eine Veranlagung zur Sprache und zum Schreiben müssen sicher vorhanden sein, allein dadurch wird man jedoch nicht zum Schriftsteller. Dazu braucht es viel Übung und Disziplin. Ich schreibe nun seit fünf Jahren, was nach wenig klingt. Wenn man aber bedenkt, dass ich jeden Tag geschrieben habe, sind das fast 2000 Tage üben.

Wie geht dein Weg weiter? Gibt es schon Ideen für ein neues Buch? Oder willst du nun etwas ganz anderes machen?

Das neue Buch ist fast fertig und schon verkauft. Wenn alles nach Plan läuft, wird es im Herbst 2025 erscheinen. Etwas anderes zu machen, kann ich mir nicht einmal vorstellen.

Was rätst du einem (jungen) Menschen, der ernsthaft ein Buch schreiben möchte?

Sich hinzusetzen und anzufangen. Fünfhundert Wörter zu schreiben. Am nächsten Tag das gleiche. Am übernächsten ebenfalls. Und so weiter. Bis man irgendwann realisiert, dass man ein Buch geschrieben hat.

Wer neugierig geworden ist auf Nelio Biedermanns Buch:

Nelio Biedermann: Anton will bleiben

Nach seiner Krebsdiagnose überlegt Anton, wie er das verbleiende Jahr verbringen könnte, um in die Geschichte einzugehen, schliesslich sollte nach seinem Tod etwas von ihm zurückbleiben. Er versucht sich im Schreiben, mit Fotografieren, Malen, Philosophieren. Er schliesst neue Freundschaften, macht eine Reise, überzeugt einen Jungen mit Selbstmordabsicht von der Schönheit des Lebens. Nur der ewige Ruhm, der scheint ihm nicht gegönnt. Oder doch?

Ich hebe mein Glas auf Max Frisch

„Dass es ein unsagbares Glück ist, leben zu dürfen, und dass wohl nirgends die Leere sein kann, wo dies Gefühl auch nur einmal wirklich errungen worden ist, dies Gefühl der Gnade und des Dankes.»

Zu spät, aber von Herzen hebe ich mein Glas auf Max Frisch, der gestern 113 Jahre alt geworden wäre. Ich habe mich immer wieder mit ihm als Menschen, mit seiner Biografie und Interviews beschäftigt, habe seine Fragebögen beantwortet, bin in sein Werk eingetaucht. Ich mag ihn, er ist mir in seinem Denken, in seiner Art, die Dinge anzugehen, sie zu hinterfragen, nah. 

Er war kein Heiliger, was ihm oft zum Vorwurf gemacht wurde. Vor allem die Beziehung zu Ingeborg Bachmann wurde ihm zu Lasten gelegt, war sie durch ihr Leiden und ihren mysteriösen Tod später ein vermeintlich offensichtliches Opfer. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte, wie so oft. Sein Satz, der auch zum Titel des Briefwechsels wurde, hat viel Wahres:«Wir haben es nicht gut gemacht.»
Was er gut gemacht hat, sind seine Werke, die ich immer wieder lesen kann und immer wieder Neues finde, das mich begeistert. Frei nach Gretchen: Wie haltet ihr’s mit Max Frisch?
Habt einen schönen Tag!

Mehr zu Max Frisch:

Eine neue Liebe: Paul Auster

„Ich glaube, der Ewigkeit kommt man am nächsten, wenn man in der Gegenwart lebt.“ Paul Auster

Wie viele Jahre dachte ich immer, etwas von Auster lesen zu wollen – und habe es nicht getan. Immer wieder war der Name präsent, aus den unterschiedlichsten Gründen. Ich schaute Interviews, war begeistert von dem, was ich hörte und von der Art, wie er es formulierte. Wie schön müsste dann erst seine Literatur sein, dachte ich. Und las sie nicht. Bis «Baumgartner» erschien und ich es gelesen habe. Ich bedauerte mein Versäumnis und wollte alles nachholen – und tat es nicht. Nun ist er gestorben und ich habe zu lesen begonnen. 

Ich habe mir überlegt, wie oft das sonst vorkommt: Ich mir Dinge vornehme und sie dann doch liegen bleiben, weil ich immer mit anderem beschäftigt bin und aufschiebe. (So wie gestern mein Vorhaben, intensiv zu schreiben – ich musste lesen). Bei Paul Auster habe ich das Glück, dass er mir die Bücher zurückgelassen hat, doch das ist nicht immer so. Ich nehme mir vor, künftig bewusster hinzuschauen, ob das Aufschieben wirklich gut ist oder nicht. (…)

Was von Paul Auster habt ihr gelesen? Welches war euer Lieblings-Auster?

Ich habe mein Glas auf Christian Morgenstern

Ich hebe mein Glas auf Christian Morgenstern, der heute 153 Jahre alt würde. 

Den meisten ist Christian Morgenstern wohl als humoristischer Dichter bekannt. Als solchen lernte auch ich ihn kennen, als ich unter den wirklich wenigen Büchern in meinem Elternhaus seine Galgenlieder fand. Diese waren ursprünglich gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen, hatten aber bei einer Lesung so grossen Erfolg, dass sich Morgenstern umentschloss – zum Glück, wie ich finde. Zur Einleitung seiner 15. Auflage 1913 schreibt Morgenstern:

„In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heisst Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff, sondern die Walnussschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloss bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses ‚Kind im Menschen’ ist der unsterbliche Schöpfer in ihm…»

In den Galgenliedern finden sich lyrische Grotesken und liebenswürdiger, scharfsinniger Sprachwitz, aber bei weitem nicht nur spassiger Nonsens, sondern auch ein Misstrauen gegen einen zu oberflächlichen Sprachgebrauch:

«Blitzartig erhellt sich dir die völlige Willkür der Sprache, in welcher unsere Welt begriffen liegt, und somit die Willkür dieses Weltbegriffs überhaupt.»

Und zu guter Letzt ein Gedicht mit auf den Weg:

„Wer denn?
Ich gehe tausend Jahre
um einen kleinen Teich,
und jedes meiner Haare
bleibt seinem Wesen gleich,

 
im Wesen wie im Guten,
das ist doch alles eins;
so mag uns Gott behuten
in dieser Welt des Scheins!»

Habt einen schönen Tag!

150 Jahre Karl Kraus (28. April 1874)

Ich hebe mein Glas auf Karl Kraus, er würde heute 150 Jahre alt.

«Das Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht.“

Karl Kraus sicher kein einfacher Zeitgenosse, mit seinem kritischen Geist und seiner polemischen Art eckt er immer wieder an. Er ist einer, der mit seiner Meinung nicht hinterm Zaun hält, sondern immer wieder Mittel und Wege findet, den Finger in die Wunde des Systems zu stecken. Er will die Wahrheit hinter all den Lügen aufdecken, mit denen die Gesellschaft und die Politik den schönen Schein zu wahren versuchen. In dieser Rolle hängen ihm die Anhänger an den Lippen und die Gegner schimpfen ihn einen verbitterten Misanthropen. 

«Der Gedankenlose denkt, man habe nur dann einen Gedanken, wenn man ihn hat und in Worte kleidet. Er versteht nicht, dass in Wahrheit nur der ihn hat, der das Wort hat, in das der Gedanke hineinwächst.“

Karl Kraus’ Waffe ist die Sprache und die setzt er bewusst und klar ein. Er verachtet die allgemein üblichen und nachlässigen Wendungen, sieht in ihnen den Ursprung für viele Missstände in der Welt. Sprache sollte nach Kraus ein Medium des Denkens, sie sollte kritisch betrachtet und sorgsam gewählt sein. So hielt er es in seinem Schreiben, das nie nur lose dahingesagte Texte, sondern messerscharf kombinierte Sätze sind. 

Habt einen schönen Tag!

Mehr zu Karl Kraus findet ihr HIER

Zum Geburtstag von Sarah Kirsch

Ich hebe mein Glas auf Sarah Kirsch, die heute 99 Jahre alt würde.

Das Fenster

Die vielen Himmel über
Sehr flachem Land! Im ersten
Fliegen die Elstern, im zweiten

Hochfahrende Wolken. Der dritte
für Lerchen. Im vierten
Sah ich ein Flugzeug stehn.

Aus dem fünften funkelt der Stern.
Die toten Schmetterlinge auf den Dielen.
Bevor es zerfällt, verkauft man ein Haus.

Ich hebe mein Glas auf: Virginia Woolf

Screenshot

„Mein Tagebuch soll sein wie eine Reisetasche, in die ich ungeprüft allen Krimskrams hineinwerfe. Wenn ich später nachsehe, ist das Durcheinander wie von Geisterhand geordnet, gesintert zu einem Ganzen, so fest und unnahbar wie ein Kunstwerk – aber so transparent, daß das Licht des Lebens durchscheint.“

Heute vor 83 Jahren starb Virginia Woolf nach einem bewegten und produktivenLeben. Von Kind an musste sie sich mit Schicksalsschlägen und anderen Widrigkeiten umgehen, welchen die sensible Psyche des empfindsamen Mädchens nicht standhielten. Virginia wuchs in einem Haus auf, in welchem Schriftsteller und Künstler verkehrten. Schon bald war ihr klar: Sie will auch Schriftstellerin werden. Dieses Ziel verfolgte sie fortan konsequent, wurde sich bald bewusst, dass dieser Weg für eine Frau ungleich schwerer war als für einen Mann. Überhaupt stellte sie die ungleichen Massstäbe immer wieder fest, die an die beiden Geschlechter angesetzt wurden. Sie thematisierte dieses Problem immer wieder:

„Viele erfolgreiche Männer haben keine sichtbare Qualifikation, ausser der, keine Frau zu sein.“

Die Schwierigkeiten, mit denen sich eine schreibende Frau konfrontiert sieht, sind auch Thema ihres Essays „A Room of One’s Own“, aus welchem der berühmte Satz (der mir so aus dem Herzen spricht) stammt:

„Eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, wenn sie Literatur schreiben will.“

Trotz fehlender Liebe heiratetVirginia Woolf, der Umstand, dass Leonard Woolf sie liebte, reichte ihr und gab ihr wohl, trotz widerstreitender Gefühle, Halt und sogar so etwas wie zeitweises Glück. Die beiden lebten fortan gemeinsam für die Literatur, sowohl als Schreibende als auch als Verleger. Virginia Woolf hinterlässt ein reiches Werk mit grossen Romanen, die die Psyche des Menschen ergründen wollen und dazu verschiedene Techniken (Montagetechnik, inneren Monolog, experimentelle Ansätze) verwenden. Auch ihre Tagebücher und Essays sind sehr zu empfehlen, sie überzeugen durch die Tiefe der Gedanken wie auch die Schönheit der Sprache.

Ich hebe mein Glas auf diese wunderbare Künstlerin!

Ich hebe mein Glas auf Peter Bichsel

„Mich hat eigentlich immer nur die Sprache interessiert.“

Das sagte Peter Bichsel in einem Interview über sein Schreiben. Damit wollte er ausdrücken, dass er lieber das Leben lebte, wie es war, statt es als Fundgribe für sein Schreiben zu nehmen. Dieses Leben, von dem er selbst sagte, es sei ein so langweiliges gewesen, dass es zu keiner Biografie tauge, jährt sich heute zum 89. Mal. Ich hebe mein Glas auf diesen wunderbaren Schriftsteller, der uns mit vielen wunderbaren kleinen Geschichten bereichert hat.

Hugo Ball (22. Februar 1886 – 14. September 1927)

Einen Hansdampf in allen Gassen könnte man ihn nennen, einer, der seinen Weg ging, Neues ergründen und schaffen wollte. Er versuchte, liess fallen, versuchte neu, stellte auf die Beine und lief wieder davon.

Geboren wurde Hugo Ball am 22. Februar 1886 in ein bürgerliches Umfeld. Dem väterlichen Befehl folgend brach Hugo die Schule vor Abschluss des Gymnasiums ab und besuchte eine Lehre, die er dann aber wieder abbrach, das Gymnasium beendete und mit dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie begann. Dieses brachte er bis zur geplanten Dissertation, als er befand, der Wissensbestrieb sei ihm erstorben. Er wollte ins Leben, wollte spielen, wollte auf die Bühne. In seinem Tagebuch vermerkte er:

“1910-1914 war alles für mich Theater: das Leben, die Menschen, die Liebe, die Moral. Das Theater bedeutete mir: die unfassbare Freiheit”

Und er schrieb. 1911 erschien sein erstes Buch «Die Nase des Michelangelo». Er beteiligte sich an Zeitschriften, plante weitere schriftstellerische Projekte, doch der Krieg machte diesen ein Ende. Theater wurden geschlossen, Ball wandte sich mehr dem Schreiben zu, veranstaltete literarische Abende und brach dann 1915 die Zelte in Deutschland ab, um in die Schweiz zu reisen. Mit ihm reiste Emmy Hennings, seine spätere Frau und Mitbegründerin des Cabaret Voltaire in Zürich.

«Das Leben ist so reich, wenn man arm ist.»

Die Schweiz war nicht nur Paradies, wie anfänglich gedacht. Denunziation und sogar Gefängnis warteten. Aber es war auch Zeit des Auf- und Umbruchs. Die Zeiten waren schwierig, das Geld knapp, die Engagements trugen kaum, Hennings Prostitution füllte die Haushaltskasse, bis die beiden sich entschlossen, selbst ein literarisches Kabarett zu gründen. Zuerst ohne festes Ensemble bildete sich bald eine Gruppe, die zu den grossen Namen des Dadaismus wurden: Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Tristan Tzara. «Dada» als Begriff ist im Programmheft 1916 das erste Mal dokumentiert.

Das Ganze wuchs Ball schon bald wieder über den Kopf und er zog sich zurück, schrieb vermehrt für die Zeitung und Bücher, darunter 1919 «Zur Kritik der deutschen Intelligenz», in welchem er die Kriegsschuld Deutschlands thematisierte. Die finanzielle Lage wurde drückend, Ball heiratete Hennings und wollte mit deren Tochter zurück nach Deutschland, wo sie sich aber nicht mehr zurechtfanden und wieder in die Schweiz zurückkehrten, wo Ball weiter Bücher schrieb. 1920 kam es zu einer folgenreichen Begegnung mit Hermann Hesse, eine Freundschaft bis ans Lebensende entstand. Hugo Balls Gesundheit bröckelt, eine Krebsdiagnose und Operationen zeigen das nahe Ende auf, das am 14. September 1927 im Tessin, wo die kleine Familie die letzten Jahre lebte, eintritt.

Roger Willemsen (15. August 1955 – 7. Februar 2016)

«Der einsame Mensch ist eine Skulptur, herausmodelliert vom Pathos der Abwesenheit.» Roger Willemsen

Es sind unter anderem Sätze wie dieser, welche ihn ausmachten. Es ist seine Liebe zur Sprache, sein scharfer Blick auf das Leben und die Menschen, die es lebten. Es ist sein klarer Geist, welcher ihn diese Welt in Worte packen liessen, die Bilder lebendig werden liessen. 

«Mit seiner Geburt tritt der Mensch in den Verfall ein. Lässt man diesen gewähren, stirbt man alt und faltig, lässt man sich liften, stirbt man alt und grotesk.» Roger Willemsen

Er nahm das Leben nicht einfach hin, liess die Dinge nicht einfach «gut sein», sondern er hielt den Finger drauf, zeigte auf die Missstände, auf die Schwierigkeiten, auf die Verirrungen, aber auch auf die Schönheiten, das zu Feiernde, das Wunderbare. Immer wieder sprach er deswegen auch über Literatur, über Bücher, über all die Schätze auf und zwischen den Seiten, die neue Welten eröffnen. Einige schuf er selbst. Darin nimmt er den Leser mit auf seine eigenen Reisen, auf welchen er die Welt durchdringen wollte, und lässt neue Horizonte entstehen. 

«Der Rigorismus öffentlicher Moral – der Moral der Klatschkolumnisten, der Boulevard-Magazine und Leitartikel – bezieht sich auf diese exemplarische Übereinkunft, sein zu müssen, wie auch immer.» Roger Willemsen

Roger Willemsen mag vieles gewesen sein, nie so, wie man sein müsste. Er war ein eigenständiger Denker, einer, der sein Leben auf seine Weise lebte. Bis am Schluss. Heute vor acht Jahren ist Roger Willemsen gestorben. Er fehlt.

Sunil Mann – Nachgefragt

 Sunil Mann wird am 21. Juni 1972 im Berner Oberland/Schweiz als Sohn indischer Einwanderer geboren. Er verbringt seine Jugend bei Pflegeeltern in Spiez und besucht in Interlaken das Gymnasium. Nach einem erfolgreichen Studienabbruch in den Fächern Psychologie und Germanistik (in Zürich) versucht er sich im Gastgewerbe mit einem halbherzigen Besuch der Hotelfachschule Belvoirpark. Danach arbeitete er 20 Jahre als Flugbegleiter, unterbrach aber immer wieder für mehrmonatige Aufenthalte im Ausland (Israel, Ägypten, Japan, Indien, Paris, Madrid, Berlin, etc.), so dass er genügend Zeit zum Schreiben hatte. Er wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Seit 2018 lebt er als freischaffender Autor in Zürich, wo er sein Heim mit einer wachsenden Anzahl Bücher und Ginflaschen teilt.

Wer bist du? Wie würdest du deine Biografie erzählen?

Aufgewachsen in einer eher ländlichen Umgebung, ziemlich behütet, andererseits aber auch von klein auf an eine besondere Familiensituation gewohnt. Das Pendeln zwischen den sehr schweizerischen Pflegeeltern und meiner sehr indischen Mutter gehörte zu meinem Leben, und dieser konstante Spagat zwischen den Kulturen hat mich nachhaltig geprägt. Schon früh wusste ich, dass ich schreiben wollte. Da damals aber keine Ausbildung in der Richtung existierte, musste ich meinen Weg selber finden. Was ich im Moment als enorm mühsam empfand. Im Nachhinein hat sich das aber als Vorteil erwiesen. Ich habe viele Erfahrungen gesammelt, die mir jetzt noch zugutekommen. Dieser Weg hat mich auch gelehrt, mich für mein Ziel einzusetzen, Frusttoleranz zu entwickeln und mich nicht von Fremdmeinungen beirren zu lassen.

Du sagtest in unserem letzten Interview, dass Schreiben für dich nicht nur ein Hobby sei, das zum Beruf wurde, sondern etwas, das dein Leben reicher macht. Würdest du das noch so sehen? Oder anders: Wieso schreibst du?

Das würde ich immer noch unterschreiben. Ich kann mir keine Tätigkeit vorstellen, die mich glücklicher macht als Schreiben. Ich tue das, weil ich erstens glaube, dass ich es kann. Mittlerweile habe ich Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Genres gesammelt und gemerkt, dass Schubladen eine sinnlose Erfindung engstirniger Menschen sind. Zweitens bin ich – nicht zuletzt aufgrund meiner Biografie – in der Lage, Dinge zu erzählen, die sonst niemand erzählt, Themen anzusprechen wie zum Beispiel Alltagsrassismus, um die die meisten anderen Autor*innen (und auch die Medien, notabene) einen grossen Bogen machen. Und drittens zahlt es die Miete und den einen oder anderen Drink.

Woher holst du die Ideen für dein Schreiben? Natürlich erlebt und sieht man viel, aber wie wird eine Geschichte draus?

Ideen kommen überallher. Sei es ein Zeitungsausschnitt, ein unfreiwillig mitgehörtes Handygespräch im Tram, Netflix oder auch mal von einem Roman, den ich gelesen habe. Eine Idee allein reicht allerdings in der Regel nicht für ein ganzes Buch (es gibt da Ausnahmen), meist ist es bloss ein Denkanstoss, von dem aus sich dann irgendwie eine eigenständige Geschichte entwickelt. Wie genau, habe ich immer noch nicht herausgefunden. Mein Gehirn macht das selbstständig, sobald der Druck (nahende Abgabetermine!) gross genug ist.

Wenn du auf deinen eigenen Schreibprozess schaust, wie gehst du vor? Entsteht zuerst ein durchdachtes Gerüst oder aber schreibst du drauflos und schaust, wo dich das Schreiben hinführt?

Auch wenn das in gewissen literarischen Kreisen verpönt ist, arbeite ich fast immer mit einem Plot. Also einem vorskizzierten Ablauf einer Geschichte. Gerade bei Kriminalromanen ist das sehr hilfreich, damit man sich nicht in der Handlung verliert oder zu geschwätzig wird. Allerdings verändert sich dieser Ablauf, sobald ich mit dem Schreiben beginne. Da kommen mir plötzlich Dutzende neuer Ideen. Es gilt dann abzuwägen, was hineingehört und was man besser weglässt. Damit verändert sich zwangsläufig die Storyline. Ich habe vermutlich noch nie das Buch geschrieben, das ich mir ursprünglich vorgestellt habe. Die Ausnahme ist „In bester Absicht“, mein erster „literarischer“ Roman. Da habe ich ohne Plot gearbeitet und stattdessen diverse Szenen separat geschrieben, sie dann zusammengehängt und anschliessend die inhaltlichen Lücken gefüllt.

Wenn man an Schriftsteller denkt und auch Interviews von früher liest, schreiben viele die ersten Entwürfe von Hand, oft sogar mit dem immergleichen Schreibmaterial (Legal Pad und Bleistift oder ein bestimmter Füller). Wie sieht das bei dir aus? Stift oder Tasten?

Der grösste Teil der Vorarbeit findet bei mir im Kopf statt. Ich überdenke die Geschichte, die ich erzählen will, so oft, bis sie zu mir gehört, bis ich sie richtig spüren kann. Dann erst schreibe ich einen Handlungsablauf auf, immer auf dem Laptop.

Ich hörte mal, der grösste Feind des Schriftstellers sei nicht mangelndes Talent, sondern die Störung durch andere Menschen. Brauchst du zum Arbeiten Stille und Einsamkeit, oder stören Sie andere Menschen nicht?

Ich bevorzuge Stille, im Café oder im Zug muss ich immer den Gesprächen ringsum zuhören. Ausserdem fände ich es wahnsinnig prätentiös, mit dem Laptop in der Öffentlichkeit rumzusitzen und die Welt wissen zu lassen, dass ich Schriftsteller bin.

Meiner Ansicht nach ist aber der grösste Feind eines Autors nicht die Umwelt, sondern mangelnde Disziplin.

Was sind für dich die Freuden beim Leben als Schriftstellerin, was bereitet dir Mühe?

Dass ich vom Schreiben leben kann und dass es mir immer noch Spass macht, ist ein Privileg. Das bedeutet auch eine gewisse Freiheit. Wenn ich die Nase voll habe von Zürich und seinem Wetter, kann ich auch mal irgendwo an die Sonne reisen und dort weiterarbeiten. Und ich liebe es, mich in Themen zu vertiefen, zu recherchieren. Mühe macht mir eigentlich fast nichts, höchstens vielleicht der ganze Bürokram, den ich natürlich auch erledigen muss, Auftraggebern nachrennen, die vergessen, die Gagen zu zahlen, die Steuererklärung.

Du hast in verschiedenen Genres geschrieben, vom Krimi über Kinderbücher bis hin zur Liebesgeschichte nun. Wieso dieser Wechsel?

Mich treiben beim Schreiben hauptsächlich zwei Dinge an: Neugier und Lust. Deswegen probiere ich gerne neue Dinge aus, bewege mich auch mal aus der Komfortzone raus in unbekannte Gefilde. Was ich nie sein wollte, ist ein One-Trick-Pony, also jemand, der immer genau dasselbe macht. Glücklicherweise wird das auch vom Publikum akzeptiert.

Es gibt die Einteilung zwischen hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur (was oft einen abschätzigen Unterton in sich trägt). Was hältst du von dieser Unterteilung und hat sie einen Einfluss auf dich und dein Schreiben?

Ich finde das eine erschreckend antiquierte Haltung, die dringend abgeschafft gehört. Im englischen Sprachraum existiert sie schon lange nicht mehr. Dort werden auch Kriminalromane mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, Kinderbücher in wichtigen Tageszeitungen besprochen. Was hierzulande wohl bei manchen für Schnappatmung sorgen würde. Gewisse Entscheidungsträger*innen klammern sich krampfhaft an diese Unterteilung, wobei – mir zumindest – nicht ganz klar ist, weshalb. Es gibt in allen Bereichen hervorragende Werke, aber natürlich auch Schrott. Gerade bei der Vergabe von wichtigen Literaturpreisen, die der Sichtbarkeit zuträglich sind, eine Vielzahl von Genres systematisch auszuschliessen, zeugt von einer unglaublichen Ignoranz. Vermutlich müssen wir einen Generationenwechsel in den Feuilletons und Literaturgremien abwarten, bis sich diesbezüglich etwas ändert.

Du bist immer wieder in Schulen, liest da vor Klassen. Wie bist du dazu gekommen und was reizt dich daran?

Ich habe mittlerweile vier Kinderbücher und zwei Jugendbücher geschrieben. Lesungen für diese Altersgruppen (vor allem für Jugendliche) funktionieren in der Regel nicht so gut als öffentliche Veranstaltungen. Gerade die älteren bringt man kaum dazu, freiwillig eine Lesung zu besuchen. Glücklicherweise setzen aber viele Schulen auf Leseförderung und laden dazu Autor*innen ein. Hinzu kommen all die kantonalen und regionalen Organisationen, die in ihren Programmen grossflächig Schullesungen anbieten. Das ist zwar zeitweise anstrengend, weil es bis zu vier Lesungen pro Tag sind, andererseits macht es mir auch Freude, den Lernenden zu zeigen, dass Literatur nicht zwangsläufig trocken und langweilig sein muss. Und die Diskussionen im Anschluss sind sehr bereichernd, man bekommt Einblick in die Welt der heutigen Jugend.

Eine neue Studie zeigt, dass das Leseverhalten von Schweizer Kindern zu denken gibt, das Leseverständnis ist bei einem Viertel der Kinder stark eingeschränkt bis teilweise gar nicht vorhanden. Wie erlebst du das?

Das ist leider schon länger so. Man darf auf gar keinen Fall verallgemeinern, aber es gibt Schüler*innen, die nicht in der Lage sind, einer Erzählung zu folgen. Entsprechend fehlt dann auch das Verständnis, das heisst, sie wissen im Anschluss nicht, was ich ihnen vorgelesen habe. Meiner Meinung nach hat das auch damit zu tun, dass ihnen zu Hause nie jemand vorgelesen hat. Was wiederum oft mit der beruflichen Situation der Eltern zusammenhängt und ob diese selber lesen. Das Gelesene kurz zusammenzufassen, hilft da teilweise, aber das Kernproblem ist damit natürlich bei Weitem nicht gelöst.

In Amerika sind Kurse in kreativem Schreiben schon lange populär, in unseren Breitengraden scheint immer noch die Idee vom Genie vorzuherrschen und das Lernen des Handwerks wird eher stiefmütterlich behandelt. Ist Schreiben lernbar? Und wenn ja, wieso scheint das fast verpönt bei uns?

Grundsätzlich ist alles lernbar, davon bin ich überzeugt. Ob man dann auch gut in dem Bereich ist, hängt davon ab, wie viel Talent vorhanden ist, ob man was zu erzählen hat und inwiefern man bereit ist, sich wirklich ins Zeug zu legen. Wichtig ist dabei, dass man eine eigene Sprache entwickelt, eine eigenständige Art des Erzählens. Dass es bei uns so wenig Angebote dazu gibt, hängt womöglich damit zusammen, dass man in der Schweiz künstlerischen Tätigkeiten gegenüber eher misstrauisch eingestellt ist. Ich werde oft gefragt, ob ich auch einen richtigen Beruf habe.

Du bietest auch Schreibworkshops für junge Erwachsene an. Wieso die Einschränkung?

Das ist eigentlich immer die Entscheidung des Veranstalters. Ich werde im Frühjahr 2024 wieder einen Kurs im Literaturhaus Aargau geben, der sich explizit an junge Erwachsene richtet. Und einen an der Octopus Schreibschule in Zürich für Kinder zwischen neun und zwölf. Aber es gibt etliche Workshops für Erwachsene. Bei Octopus, aber auch in der Geschichtenbäckerei oder bei Schreibszene.ch

Was rätst du einem (jungen) Menschen, der ernsthaft ein Buch schreiben möchte?

Sich erst einmal zu überlegen, was er schreiben möchte, wie die Geschichte verlaufen soll. Vor allem das Ende ist wichtig, damit er nicht unterwegs plötzlich steckenbleibt. Und dann gibt’s nichts anderes als sich hinzusetzen und zu schreiben. So regelmässig wie irgend möglich.

Herzlichen Dank, lieber Sunil, für deine Zeit und diese aufschlussreichen Antworten!

Sunil Manns Homepage: https://www.sunilmann.ch/

Gedankensplitter: Unverzeihlich?

Ich habe in der letzten Zeit zweimal einen Beitrag über einen Menschen geschrieben, den ich durch einen Vortrag zum Gedenken an den Holocaust für mich neu entdeckt hatte. Wie immer, wenn das passiert, fange ich an nachzuforschen, wer das ist, wie sein Lebensweg war, was er geschrieben hat – und mehrheitlich endet es mit Buchbestellungen und dem Eintauchen in jegliche Form von Beiträgen. Natürlich blieb mir in dem Zusammenhang nicht verborgen, dass dieser Mensch in der Vergangenheit in einen Skandal verwickelt war, der menschlich-moralisch bedenklich war und im Zuge dessen er sich selbst aus der Öffentlichkeit nahm – um nun, doch viele Jahre später, wieder in ebendieser zu erscheinen und zu tun, was er eben kann: Moderieren, diskutieren, schreiben.

Die Reaktionen auf meine zwei Beiträge hätten unterschiedlicher nicht sein können. Von Freude über die Bücher und Gedanken über Neugier, sich selbst damit zu beschäftigen bis hin zur kategorischen Ablehnung war alles dabei. Und: Bei der Ablehnung ging es nicht nur um den betreffenden, dessen Vergehen man als dermassen unvertretbar ansah, dass er besser nie mehr in der Öffentlichkeit hätte erscheinen dürfen. Auf Ewigkeit verdammt in die Schamesecke quasi, wo er sein Sündenbrot (am besten zu spärlich, um satt zu werden) hätte essen dürfen. Man warf mich gleich mit in den Topf, fand «bedenklich» (sic!), dass ich mich einem solchen Menschen (also um ehrlich zu sein mehr seinem Tun) zuwandte.

Und da sitze ich dann und frage mich: Hat nicht jeder Mensch eine zweite Chance verdient? Spricht man nicht sogar bei Schwerverbrechern von Rehabilitation und einer zweiten Chance, sollen sie doch wieder Teil der Gesellschaft werden, aus der man niemanden ausstossen darf? Haben wir nicht im Grundgesetz das Menschenrecht von der unantastbaren Würde? Oder hört die da auf, wo uns ein Mensch in Ungnade gefallen ist?

Ich finde es legitim, wenn man für sich entscheidet, dass man bestimmten Menschen im eigenen Leben keinen Platz einräumt, denn man hat nur das und sollte es sich möglichst passend einrichten. Ich merke aber, dass ich Mühe habe, wenn man andere Menschen abwertet, ausgrenzt, verurteilt, marginalisiert, diskriminiert, nur weil sie den eigenen Massstäben nicht entsprechen. Konsequenterweise müsste man dann aufhören über Ethik und Moral nachzudenken, da man den Wert des Menschen nicht mehr universal betrachtet, sondern nur noch an Bedingungen geknüpft, die eigenen Massstäben entsprechen.

Eine Frage, die sich in dem Zusammenhang aber auch stellt, ist die alte Frage nach Werk und Urheber: Wenn der Urheber sich eines Unrechts schuldig gemacht hat, fällt damit sein Werk auch in Ungnade und ist in der Folge zu ignorieren? Würde uns da nicht sehr viel entgehen? All die Bilder von Caravaggio (ein Mörder), Picasso (Frauenheld), die Gedanken von Kant (Rassist und Frauenverachter), Voltaire (ebenso), Heidegger (Nazisympathisant), etc.?

Wie seht ihr das?