Lebenskunst: Loslassen

«Loslassen gibt uns Freiheit, und Freiheit ist die einzige Voraussetzung für Glück.» Thich Nhat Hanh

Es gibt wohl keine sinnbildlichere Zeit als den Herbst für das Thema «Loslassen». Die letzten Früchte sind geerntet, die Bäume verlieren langsam ihre Blätter, alles wird stiller, leerer. Würde die Natur nichts loslassen, gäbe es keinen Raum für neues. Im Frühling würden die Bäume nicht mit Blüten geschmückt, all die bunten Farben, die die Lebendigkeit des Neuanfangs unterstreichen, fehlten.

Im Leben fällt es nicht immer leicht, Dinge loszulassen. Erinnerungen, Menschen, Wünsche – wir halten an ihnen fest, selbst wenn wir merken, dass sie nicht guttun. Wir wollen bewahren, was ist, weil wir nicht wissen, was kommt. Damit schaffen wir zwei Probleme: Wir leiden unter schmerzhaften Situationen und Zuständen, an denen wir festhalten, und wir leiden darunter, dass wir vieles nicht festhalten können, weil das Leben immer aus Veränderungen besteht.

Vielleicht hilft es, ab und zu hinzusehen, aktiv zu entscheiden, was wir im Leben haben wollen und was nicht, was guttut, was nicht – um dieses dann loszulassen. Und genauso hilft es, das, was gehen will, gehen zu lassen, im Wissen, dass Neues nachwächst.

Lebenskunst: Fragen

„Wichtig ist, nie aufzuhören zu fragen.“ (Albert Einstein)

Von Sokrates ist der Satz überliefert, dass er wisse, dass er nichts wisse. Im Wissen darum, dass Sokrates als einer der klügsten Männer gilt, wird dieser Satz oft in die Ecke der Ironie verschoben, oder aber man wiederholt ihn selbst, um damit quasi das Gegenteil zu zeigen, nämlich, sich als Wissenden.

Wieso ist es uns oft so wichtig, etwas zu wissen? Etwas nicht zu wissen, wird oft mit Schwäche, mit einem Makel gleichgesetzt. Doch stimmt das wirklich? Im Umkehrschluss heisst das, dass wir Wissen oft dazu nutzen, die eigene Überlegenheit, sicher aber Intelligenz und Bildung zu präsentieren. Dies passiert oft aus einem Gefühl, etwas leisten zu müssen, um Anerkennung zu verdienen. Das reine Sein als Mensch reicht nicht aus, man muss sich behaupten. Wissen eignet sich da sehr.

Wenn ich wieder mal behaupte, etwas zu wissen, könnte ich mich also fragen: Wieso ist mir das so wichtig? Weiss ich es wirklich? Wenn mir nicht geglaubt wird: Wieso trifft mich das? Fühle ich mich heruntergesetzt? Im Gegenteil könnte man sich auch fragen, ob einer, der behauptet, etwas zu wissen, dieses wirklich weiss. Und wieso er denkt, uns das sagen zu müssen (es sei denn, wir hätten gefragt, und selbst dann ist es sinnvoll, das präsentierte Wissen zu hinterfragen und nicht blind anzunehmen).

Schlussendlich kann man sich immer sagen: Einer, der alles zu wissen vorgibt, ist keinesfalls ein Weiser, sondern schlicht ein Besserwisser. Will ich das sein? Vielleicht zeugen Fragen ab und zu von mehr Weisheit als pfannenfertige Antworten, die vorgeben, Wissen zu sein.

Lebenskunst: Grenzen setzen

Sagst du auch oft ja zu etwas, obwohl alles in dir nein schreit? Gibst du auch oft deine Wünsche auf, um die eines anderen zu erfüllen? Wie oft steckst du zurück und wieso? Ich las mal den Spruch:

«Ein Ja zu jemand anderem kann ein Nein zu dir selbst sein.»

Wo wir uns zu sehr verbiegen, in unseren Bedürfnissen übergehen, verneinen wir uns in unserem Sein selbst. Wir nehmen unsere Grenzen nicht wahr und ernst, überfordern und benachteiligen uns. Und oft leiden wir dann. Nicht selten geben wir sogar anderen die Schuld, fühlen uns nicht wahrgenommen, werfen ihm vor, seine Bedürfnisse immer erfüllt zu kriegen. Dabei haben wir das oft selbst so gesteuert. Wieso tun wir das?

Wir sind Bindungswesen. Ohne Bindungen, ohne Beziehungen zu anderen Menschen, ohne das Gefühl, dazuzugehören und dies auch zu spüren, können wir nicht leben. Oft lernen wir schon als kleines Kind, dass wir auf eine Weise sein müssen, um in Ordnung zu sein. Unsere Grenzen werden schon von klein auf übergangen und wir lernen, dass das so läuft im Leben, und übernehmen das in unser Erwachsenenich.

Wenn wir oft genug gelitten haben, kommen wir an einen Punkt, wo wir denken:

«So nicht mehr!»

Was tun? Wichtig ist wohl einmal mehr: Hinschauen. Wo übergehe ich mich, wieso tue ich das? Das gelingt, wenn wir eine konkrete Situation anschauen, wo wir uns selbst wieder nicht ernst genommen haben, und unsere Grenzen überschritten wurden und wie das zuliessen. Was ist in der Situation passiert?

Oft sagte eine innere Stimme «nein». Der Verstand setzte ein und brachte viele vernünftig klingende Argumente, wieso doch. Im Körper regte sich was bei all dem. Meisten ignorieren wir den Körper, weisen die innere Stimme als unvernünftig in die Schranken und folgen unserem Verstand, da wir gerade in unserer westlichen Welt mehrheitlich Kopfmenschen sind, als solche erzogen und be-lehrt wurden. Und genau da liegt auch das Problem: Der Verstand speist sich oft aus äusseren Stimmen, hier werden die Forderungen aus dem Elternhaus, aus Erziehung und Bildung und auch die Erwartungen unserer Gesellschaft laut. Das Ich redet oft wenig mit, zumindest nicht aus sich selbst heraus. Erst wenn wir lernen, auf all unsere Kanäle zu achten: Körper, Intuition und Verstand, werden wir auch lernen, was wir wirklich wollen. Und wir werden lernen, darauf zu hören und es umzusetzen. Weil wir es uns wert sind.

Ignorierst du deine Grenzen oft?

Lebenskunst: Ausbrechen

«Why do you stay in prison
When the door is so wide open?” Rumi

Da ist dieser eine Wunsch, den du gerne erfüllt hättest, das Bedürfnis, das dir ein Anliegen ist, doch du sagst nichts, du schweigst. Du denkst, es steht dir nicht zu, es wäre vermessen, du hättest es nicht verdient. Du denkst, deine Bedürfnisse würden die anderer tangieren und verzichtest von vornherein. Du behältst deine Bedürfnisse für dich und bist traurig, dass sie nicht beachtet werden. Nur: Es weiss keiner davon.

Du arbeitest schon lange in der gleichen Firma, bist zuverlässig, machst deine Sache gut. Eine Lohnerhöhung wäre in deinen Augen längst angebracht, doch: Es passiert nichts. In dir wachsen Wut und Trauer, du fühlst dich nicht wertgeschätzt, nicht richtig wahrgenommen, übergangen. Nur: Es weiss keiner davon.

Du bist in einer Beziehung, die dich nicht glücklich macht. Schon lange ist der Wurm drin, aus Streitereien ist ein stilles Nebeneinander geworden, Verbindungen und Verbindlichkeiten sucht man vergebens. Du würdest gerne gehen, weisst aber nicht wohin und was dich da erwarten könnte. Du leidest still vor dich hin und bleibst doch, wo du bist. Du würdest gerne etwas ändern, denkst, der andere müsste das doch auch spüren und wollen. Nichts passiert, denn: Es weiss keiner davon.

«You must ask for what you really want.» Rumi

Wie oft schweigen wir, wenn es um unsere Bedürfnisse und Anliegen geht? Wie oft harren wir lieber aus, egal, wie leidvoll die Situation ist, statt etwas zu ändern? Wie oft unterdrücken wir unsere Wünsche, um die anderer zu erfüllen? Wie oft stecken wir zurück, damit andere den Vorrang haben? Wie oft gestehen wir uns selbst nicht den Wert zu, uns selbst ernst zu nehmen?

«Jeder Mensch gilt in der Welt nur so viel, als er sich selbst gelten macht.» Adolph Knigge

Wenn wir uns selbst nicht ernst nehmen, nicht für uns einstehen, unsere Bedürfnisse nicht wahrnehmen und ansprechen, können wir nicht erwarten, dass andere das tun. Erstens wissen sie oft nichts von alldem, zweitens müssen sie davon ausgehen, dass es nicht so wichtig ist, wenn wir nichts sagen, drittens ist es schlicht nicht ihre Baustelle – es wäre unsere. Die Käfigtür wäre offen, doch wir sitzen als Wächter davor, machen uns zu unseren eigenen Gefangenen und treten nicht in die Welt hinaus. Oft geben wir dann den Umständen die Schuld, schimpfen auf Menschen, die uns nicht wahrnehmen, oder hadern mit Situationen, die ungünstig sind. Dabei gibt es nur einen, der wirklich was tun könnte, der es in der Hand hätte: Wir selbst.

Lebenskunst: Dankbarkeit

«Danke doch lieber für das, was du bekommen hast; auf das andere warte und freue dich, dass du noch nicht alles hast.» Seneca


Eine neue Tasche, einen Partner, ein paar Kilos weniger, eine kleinere Nase, mehr Gelassenheit, mehr Kraft, weniger Macken – oft wollen wir ganz viel und denken, wenn wir es nur hätten, wären wir glücklicher. Dann wäre die Welt eine bessere, zumindest unser Leben in ihr wäre besser. Doch: Wenn wir etwas erreicht haben von all dem, kommt immer was Neues dazu – oder es ist noch genug da. Das wirkliche Glück will sich nicht dauerhaft einstellen. Es scheint, als ob immer was fehlte. Und ja, das stimmt, es fehlt etwas Essentielles: Die Dankbarkeit für das, was ist.

Wenn ich auf mein Leben schaue, ist daran so viel Schönes und Gutes. Ich habe ein schönes Dach über dem Kopf, habe wunderbare Beziehungen zu grossartigen Menschen, ich habe genug zu essen, die Möglichkeit, meiner Leidenschaft zu folgen. Ich hatte das Glück, gute Ausbildungen absolvieren zu können, mein Leben frei und unabhängig zu leben, und ich lebe in einem Land, das mir noch viel mehr Freiheiten zugesteht. Wie viel davon nehme ich als selbstverständlich wahr, denke nicht weiter drüber nach neben all dem Wünschen? Wie wäre es, einfach mal dankbar zu sein für all das, was nämlich alles andere als selbstverständlich ist für ganz viele Menschen auf dieser Welt?

Dankbarkeit ist ein Gefühl, das Glück bringt. Es ist undenkbar, wirklich unglücklich zu sein, wenn man ganz viel Dankbarkeit im Herzen fühlt für das, was ist. Das Gefühl der Dankbarkeit, immer wieder bewusst ins Gedächtnis gerufen, kann auch helfen, wenn wir mal wieder hadern. Wenn wieder einmal Wünsche da sind, die sich nicht erfüllen lassen, zumindest nicht gleich: Wieso nicht auf das Gegenteil konzentrieren? Weg vom Mangel an dem, was wir wollten, sondern hin auf die Fülle, was da ist?

Dankbarkeit hilft auch in schwierigen Lebenssituationen, wenn das Leben seine Krallen zeigt. Wenn wir leiden, weil Umbrüche stattfinden, die Gesundheit instabil ist, wir uns verletzt fühlen oder benachteiligt. Sich dann hinzusetzen, Tag für Tag, und aktiv ins Gedächtnis zu rufen, was neben all dem Schweren an Schönem im Leben ist, für das wir dankbar sein können, wird zwar nicht die unschönen Umstände beseitigen, es hilft aber, innerlich etwas mehr Ruhe und Kraft zu entwickeln, aus der heraus wir dann das Schwere besser (er-)tragen können. Ich habe in schwierigen Zeiten immer ein Dankbarkeitstagebuch geführt. Es hat mich durch die Zeiten getragen. Und wenn mir mal nichts in den Sinn kam, weil zu viel Dunkles die Sicht versperrte, blätterte ich in den alten Aufzeichnungen und fand immer etwas, das noch immer gut war, so dass ein wenig Licht ins gefühlte Dunkel kam.

Wofür seid ihr dankbar?

Lebenskunst: Achtsames Tun

«Ganz im Tun, ganz bei mir.» Anselm Grün

Ich mag Rituale. Sie geben meinem Leben eine Kontinuität, einen Halt, sie vermitteln mir eine Art von Geborgenheit im Leben, weil sie wiederkehrend mich aufnehmen und mir einen Ort geben, wo ich mich wohl fühle. Das rituelle Tun ist damit Hort für Sinn, für Musse, für Vertrauen auch. Es ist eine Form von Verlässlichkeit in einer Welt, die zu oft durch Unruhen und Unvorhergesehenes aus den Fugen zu geraten scheint.

Wenn man Rituale hört, denkt man vordergründig an grosse Inszenierungen, wie sie in Religionen vorkommen. Doch das meine ich hier nicht. Ich meine die kleinen Alltäglichkeiten, die den Tag zu meinem Tag machen. Das kann der Kaffee am Morgen sein, das Anzünden einer Kerze vor meiner Yogastunde. Der Gang auf die Matte ist eines meiner liebsten Rituale, das morgendliche Schreiben ebenso.

Es gibt Dinge, die man tun muss und die einem eher lästig sind oft: Abwaschen, Staubsaugen, Putzen. Sogar daraus kann man ein Ritual machen, indem man die Dinge bewusst macht. Wenn ich abwasche, tue ich nur das. Ich spüre das warme Wasser, den Schaum, drehe das Glas, höre das Reiben auf der Oberfläche, trockne es ab. Ich bin ganz bei dem, was ich aktuell tue. Das beschreibt auch Thich Nhat Hanh, wenn er die Geschichte eines Mönchs zitiert:

«Wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich gehe, dann gehe ich; wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich schlafe, dann schlafe ich; wenn ich esse, dann esse ich…»

Wir neigen dazu, immer mehrere Dinge gleichzeitig tun zu wollen. Dadurch wird das einzelne Tun sinnbefreit, unser Tun ist nur noch ein Abspulen von Handlungen, mit dem wir nicht mehr viel zu tun haben. Die Rückkehr ins achtsame Tun kann uns uns selbst näherbringen und aus Alltäglichem ein Ritual machen.

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Buchtipp:
Anselm Grün: Rituale, die gut tun. Jeden Tag erfüllter leben

Anselm Grün beschreibt verschiedene Rituale, kleine alltägliche Verrichtungen, die in Kapiteln zusammengefasst sind. Die Rituale sollen Halt geben in schwierigen Zeiten oder helfen, in die eigene Mitte zu kommen, sie beschäftigen sich mit Tages- und Jahreszeiten, sind Mittel, Balance zu finden oder das Leben zu feiern. Entstanden ist ein inspirierendes Büchlein, das helfen kann, eigene Rituale ins Leben aufzunehmen, welche diesem mehr Tiefe und Schönheit verleihen.

Lebenskunst: Das Leben als Reise

Kürzlich habe ich mich aufgeregt. So richtig. Ich hätte schimpfen und toben mögen, den ganzen Frust rausschreien. Ich konnte mich zwar zurückhalten, doch das eine oder andere Schnauben und ein paar süffisante Bemerkungen entwichen mir doch. Schon durfte ich mir anhören:

 „Ich dachte, Yoga mache gelassen?“

Meine Gedanken begannen zu drehen: Wo waren nun Gleichmut und Gelassenheit? Alles nur reine Theorie, die ich runterbete? Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen, hätte viele Argumente gegen den Ärger und für innere Ruhe gehabt. Und doch: Als die Welt nicht so drehte, wie ich es gerne gehabt hätte, tobte es in mir. Ich schien förmlich aus purer Wut zu bestehen, alles andere war fast ausgeblendet, liess sich nur mit Anstrengung zurückholen, um langsam wieder zur Ruhe zu kommen. Und da fragte ich mich:

Bin ich ein schlechter Yogi? Ist es doch nur Mattenturnen statt Einkehr und Einsicht?

Voilà, Falle Nummer 2: Eigene Be- und Verurteilung. Statt zu reflektieren, was, wie und warum passiert war, um daraus zu lernen, liess ich alles im Kopf drehen, schimpfte nun nicht nur auf das, was passiert war, sondern auch über mich und verabsolutierte meinen Fehler hin zu: Ich mache alles falsch. Zum Glück konnte ich das anhalten:

Ich habe mich hingesetzt und ein paarmal tief ein- und ausgeatmet. Das hat nicht die Situation geändert, es hat auch mein Verhalten nicht rückgängig gemacht. Es hat mir ein bisschen Ruhe zurückgebracht. Ich war sicher noch kein friedlich lächelnder Dalai Lama, aber ich war auch kein tobendes Rumpelstilzchen mehr. Ich erkannte die Muster, die Prägungen, die meinem Verhalten zugrunde lagen, sah die Situation als schwierig und meine emotionale Reaktion als wenig heilbringend an.  Ich hielt mir zugute, dass ich selbst schnell erkannt hatte, in welches Muster ich geraten war, dass ich es unterbrechen und ruhig werden konnte.

Nun: Ich bin nicht erleuchtet. Ich bin auch nicht der Superyogi. Ich bin auf meinem Weg. Und es ist ein guter Weg. Ich muss nicht perfekt sein. Ich bin, wie ich bin. Und das ist gut. Und morgen bin ich anders. Auch das wird gut sein. Und so geht die Reise fort. 

Gedankenvoller Jahresausklang

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, heute ist der letzte Tag. Ich merke, wie ich stiller werde, wie ich beginne, das Jahr zu reflektieren, hinsehe, was war, wie mein Weg durch dieses Jahr aussah. Es sind nicht mal so sehr die Erlebnisse, die mich beschäftigen, eher die Gefühlswelten, die Interessenlagen, die Themen, die präsent waren. Und wenn ich diesen Weg ansehe, der doch ein sehr kurvenreicher war, kommt natürlich der Gedanke ans neue Jahr auf: Wie wird der Weg weiter gehen? Was sind meine Ziele, meine Wünsche, meine Möglichkeiten?

Max Frisch schrieb:

„Schreiben heisst, sich selber lesen.“

Ich merke, dass mir im Moment die Antworten fehlen, also fange ich an zu schreiben. Ich fülle Seite um Seite im Notizbuch und versuche, mich selbst zu finden, zu ergründen. Es ist ein stiller Prozess des Herantastens. Einst sagte ich, ich sei ein schreibender Mensch. Das bestätigt sich immer wieder. Schreibend versuche ich, die Welt und mich in ihr zu verstehen. Und manchmal komme ich beidem für einen Moment auf die Schliche. 

Lebenskunst: Den eigenen Weg finden

„Um Wasser zu finden, solltest du nicht überall kleine Löcher graben, sondern an einer einzigen Stelle bis auf den Grund bohren.“ (Nisargadatta Maharaji)

Die Welt bietet so viele Möglichkeiten, Dinge zu lernen. Alle sind sie reizvoll, alle sind sie inspirierend, in jedem Gebiet findet man Menschen, die einen beeindrucken in ihrem Tun und Können und Sein. So etwas würde man sich auch wünschen. Und so fängt man an, taucht in eine Sache ein, während man nebendran drei andere sieht, die auch toll wären. Und irgendwann wird es ein wenig harzig beim eigenen Weg und man sieht bei einem anderen, dass das einfacher wäre. Und wechselt. Das passiert vielleicht nicht nur einmal, sondern mehrere Male.


Das positive daran ist, dass man viel kennenlernt, viel mitnimmt auf dem Lebensweg. Auf der Strecke bleibt aber die wirkliche Tiefe in einer Sache. Man kratzt meist an der Oberfläche, taucht ein paar Meter, stösst dann zurück an die Oberfläche und kratzt an einer anderen Stelle. Das ist nicht grundsätzlich schlecht, im Gegenteil, es kann sehr befriedigend sein. Wenn man aber wirklich tief gehen möchte, dann wird dieser Weg nie dahinführen.

Wirkliches Eintauchen, wirklich einen Weg zu gehen, mit all seinen Hürden, Schwierigkeiten und Herausforderungen, bedeutet, sich diesem Weg zu verpflichten. Es bedeutet, die Herausforderungen zu meistern, um dann die Früchte zu ernten, die durch die intensive Auseinandersetzung wachsen.

„Mein lieber Freund, du solltest in deinem Leben einen Mittelweg finden zwischen Geben und Empfangen.“ (Bhagavad Gita)

Ich hatte in meinem Leben beide Phasen, die des tiefen Eintauchens und die des eifrigen Suchens, Findens, Verwerfens, neu Suchens. Jedes neue Finden war mit einem Schub neuer Energie verbunden, mit Begeisterung, mit Enthusiasmus. Es war wie Fliegen auf einem Strom von Energie, der mich trägt. Das hielt selten an. Es lässt sich vielleicht vergleichen mit der Liebe: Wenn die erste Verliebtheit schwindet, zieht man auf zu neuen Ufern, um wieder zu schwelgen, verliebt zu schwärmen, im Hochgefühl zu baden. Eine tiefe Liebe wird so nie entstehen. Dazu müsste man sich auf einen Menschen einlassen. Tief einlassen. Mit allem, was gut ist. Mit allem, was schwer ist. Gerade beim Schweren zeigt sich, ob die Liebe trägt. Ob man auch fähig ist, sich tragen zu lassen und mitzutragen, denn beides ist nötig.

„Die persönliche Pflicht im Leben sollte man als seine Verantwortung für das eigene höchste Selbst ansehen.“ (Bhagavad Gita)

Genauso sehe ich heute den Lebensweg: Es ist ein Einlassen auf etwas, das mir selbst entspricht. Mein Leben leben bedeutet für mich, meine Aufgabe zu erfüllen in dem Sinne, dass ich das, was in mir ist, lebe, mich ihm verschreibe, auch wenn es nicht nur einfach ist. Im Yoga gibt es dafür den Begriff Svadharma: Seiner Berufung folgen, die eigene Aufgabe in dieser Welt gut erfüllen. Dabei gibt es keine höheren oder tieferen Aufgaben, sie sind alle wichtig, sowohl für das eigene Leben wie auch für das Zusammenleben als Gesellschaft.

Was ist deine innere Pflicht? Wo siehst du deinen Weg?

Lebenskunst: Panta Rhei

«Wer in denselben Fluss steigt, dem fliesst ein anderes und wieder anderes Wasser zu.» Heraklit

Heraklits Lehre vom Wasser ist eine Lehre vom Leben. Es gibt nichts, was einfach ist und bleibt, alles bewegt sich, verändert sich fliesst weiter, ändert sich in seiner Form. Eigentlich wünschen wir uns oft Kontinuität, diese wird auch als wichtige Eigenschaft bewertet, weil sie Verbindlichkeit und eine Form von Sicherheit mit sich bringt. Wir wissen, woran wir sind, bei uns und bei anderen. Nur: Das ist nicht nur nicht möglich immer, es entspricht auch den Tatsachen nicht.

Wenn ich an etwas festhalte, mich selbst aber verändere, werden irgendwann ich und das von mir Festgehaltene nicht mehr zusammenpassen. Wenn ich mich dann krampfhaft daran klammere, weil ich nicht aufgeben will, wofür ich mich mal entschieden habe, entferne ich mich langsam von mir selbst. Ich klammere an einem Selbst, das ich nicht mehr bin und ignoriere das, was ich geworden bin. Dass dies mit der Zeit Leid mit sich bringen wird, liegt auf der Hand.

Nun ist auch eine Veränderung nicht immer ohne Leid. Oft werden wir auch von aussen auf das festgesetzt, was wir einmal waren. Sind wir nun plötzlich durch eine Veränderung anders geworden, verlieren andere Menschen den Faden, sie haben die Entwicklung nicht nur nicht durchgemacht, sie haben sie vielleicht auch nicht gewollt – vor allem, wenn ich mich auf eine Weise verändert habe, die sie tangiert, weil ich vielleicht selbstbewusster geworden bin, auch mal nein sage, meinen eigenen Kopf habe und dieser meinen Weg bestimmt Das mag schmerzhaft sein, zeigt aber auch viel: Wer nicht bereit ist, mit mir meinen Wandel mitzuleben, der will in einem leblosen Dasein verharren. So wenig, wie ich jemandem in den Tod folgen wollte, so wenig sollte ich ihm meine Lebendigkeit opfern, indem ich mich weiter in den vorgespulten Mustern bewege, denn: Sie sind nicht mehr ich, ich bin in ihnen nicht mehr zu Hause.

«Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.» Heraklit

So hat sich über die Jahre auch bei mir immer wieder eine Veränderung angezeigt, Dinge kamen, Dinge gingen, Lebensinhalte wurden wichtig, schwanden wieder, um neuen Platz zu machen. Und manchmal kommt einer wieder hervor, der über lange Zeit prägend, tief und wichtig war, lebenswichtig: Yoga und die östliche Philosophie, die Meditation und der Buddhismus. Zwar waren sie nie ganz weg, aber sie haben sich über ein paar Jahre nun nur auf meine Übungen auf der Matte jeden Morgen beschränkt. Zwar wusste ich immer, wie viel mir fehlte, ich spürte immer diese Sehnsucht in mir, aber ich konnte all dem nicht nachgeben. Bis ich es nun wieder tat. Und da war es: Dieses Gefühl: Nun bin ich zu Hause Ich bin nicht mehr am selben Ort, wie ich aufhörte, ich bin nicht mehr dieselbe auf der Matte, Yoga hat eine neue Qualität bekommen, auch das ist nicht mehr dasselbe Es ist tiefer, es ist grösser, es ist noch wichtiger als je zuvor. Und fast will mir scheinen, dass diese Zeit dazwischen genauso zu meinem Yogaweg gehörte wie die intensive Zeit vorher und jetzt. Sie hat mich Dinge gelehrt, hat mir vieles gezeigt, hat mich wandeln und wachsen lassen.

Am Schluss ist es doch nur ein Leben, ein Selbst und ein Fluss. Und doch auch wieder nicht.

Lebenskunst: Gewaltlosigkeit

Vor einigen tausend Jahren lebte Patanjali, ein indischer Gelehrter und er schrieb neben anderen Werken auch das Buch, das noch heute einen grossen Stellenwert in der Yogaphilosophie hat: Die Yogasutras. 195 Sutras, welche den Weg hin zum Ziel des Yoga, hin zur Einheit mit allem zeigen, den Ort, an dem das geistige Kreisen und irdische Suchen und Irren und Hasten und sich Aufreiben ein Ende findet.

Patanjali beschrieb den Yoga als achtgliedrigen Pfad, an dessen Anfang ethische Prinzipien stehen: Die Yamas und die Niyamas, Prinzipien des Umgangs mit anderen und solche für den Umgang mit mir selbst. Das erste Yama, der erste Schritt auf diesem Weg also, heisst: Ahimsa. Landläufig wird es mit Gewaltfreiheit übersetzt, dem biblischen Gebot des «du sollst nicht töten» verwandt.

Bei so alten Schriften liegt die Frage immer nahe: Was hat das mit mir heute zu tun. Bei ahimsa liegt das auf der Hand: Wenn wir lesen, man soll gewaltfrei leben, weil Gewalt nur Leid schafft, wird wohl jeder gleich zustimmen und den tiefen Sinn und Wert darin erkennen. Doch was kommt nach dem Kopfnicken? Wo bleiben die Handlungen? Leben wir wirklich gewaltfrei? In die Welt geschaut, sieht man Krieg und Streit, man sieht Ausbeutung und Zerstörung. Gewaltfreiheit sähe anders aus, es hätte eher mit Frieden, mit Miteinander, mit Bewahrung und Aufbau zu tun. Aber ja, die grosse weite Welt und wir kleinen Wesen – was können wir schon tun.

Wir könnten hinschauen. Bei uns selbst. Leben wir wirklich gewaltfrei? Fleischkonsum ist das offensichtlichste Problem, das dem gegenübersteht: Indem wir Tiere töten, um sie zu essen, wenden wir Gewalt an. Wir könnten diese immerhin reduzieren durch einen bewussteren Konsum. Vielleicht muss es nicht täglich das Billigfleisch aus dem Discounter sein, das aus einer qualvollen Massentierhaltung stammt, sondern es reicht einmal die Woche ein Stück vom Biobauern?

Es geht aber noch weiter: Wie gehe ich mit mir um? Wie oft stehe ich vor dem Spiegel, kritisiere Falten, Speckröllchen, graue Haare, die zu grosse Nase, die schielenden Augen, die ungraden Zähne – und was es sonst noch alles gibt. Ich schelte mich über Verhaltensweisen, die vielleicht unglücklich waren, werfe mir Versäumnisse und Unkenntnis vor – die Liste liesse sich verlängern. Und: Meistens, wenn wir mit uns selbst so kritisch und destruktiv umgehen, ist unser Blick auf die anderen ebenso: Wir lästern über zu enge Hosen bei zu dicken Hintern, über zu junge Partner und zu alte Eltern, wir kritisieren Verhaltensweisen, die unseren Massstäben und Lebensmaximen widersprechen, belächeln zu naive Gedanken und dumme Fehler. Wir führen Krieg. Kleinkrieg gegen uns und andere.

Patanjali schreibt:

«Wer fest in der Gewaltlosigkeit gründet, in dessen Gegenwart lassen andere von Feindseligkeit ab.» (II.35)

Vielleicht sind wir gar nicht so klein? Vielleicht können wir was tun? Indem wir bei uns hinschauen, für und mit uns liebevoller werden, Gewalt aus dem Spiel lassen? Indem wir gegen andere milder werden, sie leben lassen? Und dann das alles ausstrahlen und in die Welt tragen? Vielleicht verändert sich was – wenn auch nur im Kleinen erst? Aber: Kleines zieht Kreise, wird gross.

Auch das ist Yoga. Das wichtigste steht im ersten Sutra:

«atha yoga-anusanam.»

Jetzt ist die Zeit für Yoga. Fangen wir mit der Gewaltlosigkeit an.

Lebenskunst: Ausdauer führt zum Ziel

«Nicht das Beginnen wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten.» Buddha

Seit vielen Jahren steige ich jeden Morgen auf meine Yogamatte und mache da die immer gleichen Übungen. Eine Freundin fragte mich mal, ob ich ihr Yoga zeigen könnte, etwas, das sie zu Hause für sich üben könne Ich zeigte ihr einen Sonnengruss, übte ihn mit ihr immer wieder und sagte dann, sie solle nun jeden Morgen diese Form des Sonnengrusses machen. Nach drei Tagen rief sie mich an und fand, das sei doch eher langweilig, jeden Morgen das gleiche zu machen, ob es nicht noch mehr gäbe. Das gibt es natürlich. Viel mehr.

Geht man zurück zu Patanjali (er schrieb eines der Grundlagenwerke des Yoga), gab es gerade mal eine Yogaübung: Den Schneidersitz. Es ist die einzige Körperübung, die beschrieben ist und sie hat ausgereicht, um das Ziel des Yoga zu erreichen: Einheit – mit sich und der Welt. In dieser einen Haltung ist also alles, was es braucht, den Yogaweg zu gehen und zum Ziel zu gelangen. Etwas später kam man dann zum Schluss, dass diese Asana (so heissen die Stellungen im Yoga) nicht ausreicht, den Körper gesund zu erhalten, was nötig ist, um sich ganz der Konzentration, der Innenschau, der Versenkung und dem Erreichen der höchsten Ruhe zu widmen. Die Asanapraxis, der unseren heute ähnlich, wurde erfunden. Mittlerweile gibt es eine Unzahl von Asanas und es werden wohl noch immer auch neue erfunden.

Es stellt sich also die Frage: Warum um Gottes Willen mache ich jeden Morgen dieselben? Ich bin damit meistens ungefähr eine Stunde auf der Matte, die könnte ich sicher abwechslungsreicher gestalten, würde man meinen. Aber nein: Ich habe so schon genug Abwechslung. Dass meine Yogapraxis unterschiedlich lange dauert, hat verschiedene Gründe: Einerseits fliesst mein Atem nicht immer gleich. Bin ich aufgewühlt, aufgeregt, fliesst er schneller. Das lässt sich mit Atembewusstsein teilweise ausgleichen, aber nie über eine Stunde hinweg konstant. In solchen Zeiten dauert meine Praxis weniger lang, da die einzelnen Stellungen und Bewegungen sich dem Fluss des Atems anpassen. Dann gibt es immer wieder Erkenntnisse, die ich aufschreiben möchte, um später damit weiterzuarbeiten. Das Wichtigste aber scheint mir, dass ich durch die immer gleiche Praxis näher bei mir selbst bin. Ich vergleiche mich nicht mit anderen, sondern ich sehe, was bei mir gerade los ist. Jede einzelne Asana dient als Gradmesser für mein Befinden. Jede Asana hat eine bestimmte Wirkung, spricht etwas anderes in mir an – körperlich und geistig. Je nachdem, wie ich mich in einer Asana fühle, wie sie gelingt (zum Beispiel die Balanceübungen), merke ich, wie es mir geht, wo ich stehe an diesem Tag. Das wäre in viel kleinerem Ausmass der Fall, würde ich mir jeden Tag ein neues Programm ausdenken. Selbst dann ist viel an Innenschau und Erkenntnis möglich, aber für mich ist das so der beste Weg.

Jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch hat andere Bedürfnisse. Was aber sicher immer gleich ist: Wenn du etwas erreichen willst, musst du dranbleiben. Pattabhi Jois sagte einst, Yoga sei 1% Theorie und 99% Praxis und Schweiss. Picasso sagte etwas ähnliches über die Kunst. Es kommt also nicht drauf an, für welchen Weg du dich entscheidest, wichtig ist, ihn dann zu gehen, nicht nur ein paar Schritte.  

Lebenskunst: Sehen, was ist

«Führe mich vom Unwahren zum Wahren, führe mich von der Dunkelheit ins Licht. Führe mich von dem, was tot ist, zu dem, was lebendig ist.» Upanishaden

Wenn ich durch die Strassen laufe, sehe ich Bäume, Häuser, Autos. Ich stecke alles in Schubladen, in die Schublade der Begriffe: Baum, Auto, Haus. Näheres Hinsehen erübrigt sich. Scheinbar. Ich sehe Menschen in ihren Kleidern, ihrer Mimik, ihrer Frisur. Und ich bilde mir ein Urteil, ich bilde mir ein, zu wissen, wer sie sind. Ich erlebe sie, wie sie etwas tun und bewerte es mit gut oder falsch. Auch da erübrigt sich das nähere Hinschauen. Scheinbar.

Bei Lichte betrachtet sehen wir so gar nichts, wir folgen nur unseren eigenen Vorstellungen davon, wie die Welt ist, kategorisieren die Welt nach mentalen Konstrukten wie gut und schlecht, und verschliessen uns so der Wirklichkeit, wie sie ist. Gut und schlecht sind keine Eigenschaften von irgendetwas, es sind blosse Zuschreibungen, die auf Erfahrungen, Konventionen, Einstellungen beruhen – also menschengemacht, subjektiv und von der Vergangenheit geprägt.

Auf diese Weise tue ich nicht nur anderen Menschen Unrecht, auch ich selber nehme mir die Möglichkeit, die Vielfalt und Schönheit der Welt zu sehen, wie sie ist. Ich nehme mir die Möglichkeit, auf das zu reagieren, was wirklich passiert, indem ich eigentlich noch aus der Vergangenheit heraus reagiere – was sehr oft zu leidvollen Situationen führt. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, wenn ich das nächste Mal etwas in gut oder schlecht einteile, hinzusehen: Wieso ist das schlecht? Wer sagt das? Daraus könnte eine offener Sicht und damit auch ein lebendigeres Leben entstehen, weil nicht schon alles in praktischen Schubladen verpackt erscheint, sondern frei tanzen darf.

Und: Nur so sind wirkliche Begegnungen mit anderen Menschen möglich, da ich wirklich hinsehe, wer sie sind.

Lebenskunst: Glück

«Das Glück ist keine leichte Sache: es ist sehr schwer, es in uns selbst, und unmöglich, es anderswo zu finden.» Arthur Schopenhauer

Aristoteles sah sie als oberstes Ziel eines gelingenden Lebens: die Glückseligkeit. Im folgten über Jahrtausende viele Menschen, alle auf der Suche nach dem Glück, danach, was das Leben zu einem schönen macht. Es wurden Thesen aufgestellt, Definitionen verfasst, Regale mit gefüllt mit vielen Büchern – und doch scheint es nicht gefunden worden zu sein, denn es entstehen ständig neue Bücher. Fruchten die Anleitungen nicht? Oder halten sich die Menschen einfach nicht dran?

Die buddhistische Sicht auf das Glück ist eine einfache: Glück ist in uns allen angelegt, wir erlangen es nicht, indem wir den Dingen im Aussen nachrennen. Glück ist ein Zustand innerer Erfüllung, nicht die Befriedigung des unerschöpflichen Verlangens nach äusseren Dingen.

Das ist natürlich sehr ärgerlich, haben wir doch die letzten Jahre und Jahrzehnte damit verbracht, genau das zu tun: Etwas zu wollen, etwas anzustreben, etwas zu kaufen. Zwar haben wir auch gemerkt, dass es mit dem Glück dann doch nicht weit her war. Im besten Fall zeigte es sich für einen kurzen Moment, doch auch dann war es schnell wieder weg. Doch es ist nicht zu spät:

Will man sich auf die Suche nach dem Glück machen, gilt es, die Sicht von aussen nach innen zu verlagern und den eigenen Geist zu schulen. Wir müssen erkennen, wie der Geist funktioniert und vor allem, was uns gut tut und was nicht. Das klingt einfach, ist aber eine langwierige Angelegenheit.

Eine Lebensweise zu pflegen, durch die man dauerhaftes Glück erreicht, ist eine Kunst. Es erfordert ständiges Bemühen, eine unablässige Schulung des Geistes und die Entwicklung einer Reihe von menschlichen Qualitäten wie etwa Geistesruhe, Achtsamkeit und selbstlose Liebe. Darin sind sich die westliche und die östliche antike Philosophie einig. Bei den Stoikern ist das oberste Ziel im Leben, zu einer gelassenen Haltung, einer inneren Ruhe zu kommen. Ist dies erreicht, ist das Glück automatisch da. Glück ist danach also nicht etwas, das wir anstreben sollen, sondern es ist das Nebenprodukt einer eigenen Haltung, eines Seins.

Dies deckt sich sowohl mit dem yogischen Denken wie auch dem buddhistischen, es wird von der neuen wissenschaftlichen Forschung untermauert. Das Schöne daran: Man muss es nicht einfach glauben, man kann es erfahren, indem man etwas dafür tut. Wenige Minuten der Bewusstwerdung, der Meditation, des Zur-Ruhe-Kommens reichen, um nach und nach zu einer Veränderung führen hin zu einem Gefühl von mehr Ruhe, mehr Wohlbefinden – und sogar Glück.

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Buchempfehlung zu dem Thema:

Matthieu Ricard: Glück

Ricard versteht es, ein grosses Thema auf eine verständliche, tiefgründige und gut lesbare Art zu vermitteln. Er greift bei seinen Darlegungen auf ein immenses Wissen westlicher und östlicher Philosophie zurück, er zitiert die neue wissenschaftliche Forschung und legt die buddhistische Sicht dar, die sich in vielen Punkten mit wissenschaftlichen Erkenntnissen deckt. Dabei bleibt er nicht in der trockenen Theorie, sondern erläutert diese mit anschaulichen persönlichen Erlebnissen.

Neben den theoretischen Erklärungen finden sich auch Anleitungen für die eigene Meditation zu Hause, so dass man sich gleich hier und jetzt auf den Weg zum eigenen Glück machen kann. Ein wahrlich wunderbares Buch, das in keinem Regal fehlen sollte!

Zum Autor: Matthieu Ricard
Matthieu Ricard arbeitete als Forscher auf dem Gebiet der Molekularbiologie, ehe er seine Berufung zum Buddhismus erkannte. Seit 25 Jahren lebt er als buddhistischer Mönch in den tibetischen Klöstern des Himalaya. Er übersetzt Werke aus dem Tibetischen und ist der offizielle Französischübersetzer des Dalai Lama.

Lebenskunst: Dinge achtsam tun

«Unser Leben ist nicht schön, weil wir perfekt sind. Unser Leben wird schön, weil wir unser Herz in alles stecken, was wir tun.» Sadhguru

Oft denken wir, wenn wir nur schöner, reicher oder erfolgreicher wären, wäre unser Leben schön. Selbstoptimierung ist ein modernes Wort für diese Sicht: Werde das perfekte Du und die Welt liegt dir zu Füssen – und wenn sie schon da liegt, wie könnte dann das Leben nicht schön sein? Nur, bei Lichte betrachtet: Nehmen wir an, ich wäre nun wunderschön. Was an meinem Leben wäre genau schöner? Kopfschmerzen hätte ich wohl immer noch dann und wann. Vielleicht würden sich ein paar mehr Männer nach mir umdrehen, aber das wäre auch nicht die Welt – die würde sich wohl genauso wenig um mich kümmern wie vorher, zumal ich nicht die einzige wäre, die wunderschön durch sie läuft. Vielleicht wäre der Blick in den Spiegel ein erfreulicherer – zumindest für eine kurze Zeit, denn die Chancen wären gross, dass mir bald etwas Neues auffiele an mir, das mir nicht gefällt – und alles ginge von vorne los.

Was aber bringt mir dann das schöne Leben? Ich denke, das kann nur aus mir selbst heraus entstehen. Nicht dadurch, was ich bin, sondern was ich tue – und vor allem: Wie ich es tue. Wenn ich beiläufig oder gar widerwillig Dinge verrichte, wird das sicher schwer mit dem schönen Leben. Tue ich Dinge, die mir Freude bereiten, aus vollem Herzen, fühlt sich das schön an. Wenn sie sogar gelingen, noch schöner – wobei das zweitrangig sein sollte, denn das Tun an sich ist schon befriedigend, weil ich in ihm aufgehe.

«Wenn ich stehe, stehe ich, wenn ich gehe, gehe ich, wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich esse, esse ich.»

Nun können wir meist nicht nur Dinge tun, die uns Spass machen, es gibt auch alltägliche Verrichtungen und Pflichten, die auf uns warten. Thich Nhat Hanh rief immer wieder dazu auf, alles, was wir tun, bewusst zu tun. Sei es abspülen, Wäsche waschen, den Boden kehren: Tue es bewusst und sei mit deiner Aufmerksamkeit ganz dabei, was du tust.

Nehmen wir das Abwaschen: Wir nehmen einen Teller in die Hand, halten ihn unter den Wasserstrahl, fühlen, wie das Wasser über unsere Hände läuft, drehen den Teller in unseren Händen und reinigen sorgfältig seine Oberfläche vom Dreck. Wir drehen ihn weiter und trocknen ihn sorgsam ab, das Tuch in unseren Händen spürend, gewahr, wie die glänzenden Wasserflächen langsam trocken werden. Dann stellen wir ihn achtsam in den Schrank zurück, ohne das übliche Geklirr, sondern sorgsam still. Wie viel anders sich das anfühlt, als den Teller zu nehmen, innerlich genervt vom Tun schon an das nächste denkend, ihn gedankenlos hin und her zu drehen, abzutrocknen und mit Geklirr zu verräumen. Wer nun denkt, er hätte eine Geschirrspülmaschine, das werde also nichts mit dem achtsamen Tun: Das geht auch mit Zähne putzen, Betten machen, Boden wischen, etc.

Vielleicht dauert es ein wenig länger auf diese Weise, aber dieses Tun wird in dir ein Wohlgefühl auslösen. Und was wäre ein schönes Leben anderes, als ein Leben, in dem wir uns mit uns und dem, was wir tun, wohl fühlen?