Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik

Inhalt

„Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können. Warm sie selbst sich, im Unterschied zu dem, was andere über sie sagten, für ausserordentlich hielt, hat sie in nahezu jeder Epoche ihres Lebens in sich gleichbleibenden Wendungen und Bildern, die alle das umschreiben sollten, was sie unter Schicksal verstand, zum Ausdruck gebracht.“

Hannah Arendt erzählt die Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen und gibt dabei sehr viel von sich selbst preis. Die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt ist nicht nur Lebensthema bei Rahel Varnhagen, sie durchzieht auch Hannah Arendts (politisches) Denken. Hannah Arendt begann 1930 mit der Arbeit an diesem Buch, 1933 verliess sie Deutschland, das durch die politischen Umstände nicht mehr ihr Zuhause bleiben konnte. Zu dem Zeitpunkt hatte sie das Buch über Rahel Varnhagen bis auf die zwei letzten Kapitel geschrieben.

Arendt bettet Rahels Geschichte ein in die die sie umgebende Zeit der Romantik, sie beleuchtet ihren Charakter mit den Stilmitteln ihrer Zeit, verweist auf verwandte (Frauen)Schicksale und Freundschaften zu Männern. Aus Briefwechseln und Aussagen anderer zu Rahels Person zeichnet sie das Bild einer im Inneren einsamen Frau, die sich selbst und ihren Platz in der Welt sucht, zu der sie nicht dazuzugehören scheint. Sie beschreibt eine Frau, die krampfhaft versucht, das von Geburt ihr anhaftende Stigma des Jüdischseins abzuschütteln, die aber bei jedem Anpassungsversuch an die nichtjüdische Welt scheitert.

„Es gibt keine Assimilation, wenn man nur seine eigene Vergangenheit aufgibt, aber die fremde ignoriert. In einer im grossen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft […] kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert.“

Erst als Rahel sich selbst als Jüdin anerkennen kann, steht ihr der Weg in die Gesellschaft wirklich offen und sie kann als politisches Wesen agieren. Diese Einsicht am Ende ihres Lebens hilft Rahel, aus ihrer eigenen Selbstverleugnung herauszutreten.

Weitere Betrachtungen

„Die Flucht in die Fremde ist der verzweifelte Versuch, nocheinmal geboren zu werden.“

Die „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ ist eine Geschichte des Ausgestossenseins. Es ist die Geschichte einer Frau, die sich nichts mehr wünscht, als dazuzugehören und dafür sich selbst aufzugeben bereit ist, nur um zu merken, dass auch das nicht ganz reicht. Zu Hause, wo man sie kennt, haftet ihr immer ihre Geschichte, ihre (jüdische) Geburt an. Erst als sie ins Ausland, nach Paris, geht, fällt dies teilweise ab und sie erhält die Chance, sich neu zu erfinden. Durch ihre Heirat und den Erfolg ihres Mannes, an dem sie massgeblich beteiligt ist, ist sie in eine neue Gesellschaftsschicht geraten, in welcher sie sich endlich dazugehörend fühlt, ohne durch den Makel ihrer Herkunft befleckt zu sein. Doch auch da holt sie Judentum ein.

„Wenn man ganz allein ist, ist es schwer, zu entscheiden, ob Anderssein Makel oder Auszeichnung ist.“

 Rahel Varnhagen ist in eine Zeit hineingeboren, welche klare Vorstellungen davon hat, wie Mädchen und Jungen aufwachsen sollen, was ihre Rolle in der Gesellschaft sein wird und was sie dafür später brauchen. So wird Rahel keine Bildung zuteil, dass sie nicht eben ansehnlich und ohne finanzielle Mittel ist, schmälert die Aussicht auf eine Heirat. Der Zugang zu praktisch allem war Frauen verwehrt, was sie zu umgehen vermag durch ihren eigenen Salon, in welchem die Geistesgrössen der damaligen Gesellschaft verkehren und Rahel immer wieder für kurze Zeit das Gefühl geben, ein Teil von ihnen zu sein. In der Tat ist die junge Frau durchaus intelligent, mit Witz und Tiefsinn begabt, schafft es aber nicht, ein wirkliches Selbstbewusstsein daraus abzubilden, weshalb sie zeitlebens auf die Bestätigung von aussen angewiesen und davon abhängig bleibt.

Die vielen Verweise auf Rahel Varnhagens Zeitgenossen, der philosophisch tiefe Blick in deren Denken, Handeln und Sein in einer Zeit, die genauso detailliert durchdrungen wird, macht dieses Buch zu einer eher schwierigen Lektüre. Es zeichnet das Bild einer Frau, die weder schön noch charmant ist, die sich selbst verleugnet und sich ihrer selbst schämt. Rahel Varnhagen ist eine Frau, die trotz klarem Blick auf die Gesellschaft sich selbst nicht in ihr verhaften kann und immer am Rande und allein bleibt. Trotzdem übt sie eine Faszination auf ihre Umwelt aus, wird als scharfe und individuelle Denkerin erkannt. Sie setzt nie auf Hergebrachtes oder Überliefertes, sie sucht selbst nach der Wahrheit, indem sie selbst denkt. Sie löst sich von einer historisch gegebenen Welt, indem sie unbeschwert auf das schaut, was ist und versucht, vorurteilslos an die Dinge heranzugehen.

„Rahel stand immer als Jüdin ausserhalb der Gesellschaft, war ein Paria und entdeckte schliesslich, höchst unfreiwillig und höchst unglücklich, dass man nur um den Preis der Lüge in die Gesellschaft hineinkam, um den Preis einer viel allgemeineren Lüge als die der einfachen Heuchelei; entdeckte, dass es für den Parvenue – aber eben auch nur für ihn – gilt, alles Natürliche zu opfern, alle Wahrheit zu verdecken, alle Liebe zu missbrauchen, alle Leidenschaft nicht nur zu unterdrücken, sondern schlimmer, zum Mittel des Aufstiegs zu machen.“

Anhand von Rahels Geschichte wird die Unterscheidung zwischen Paria und Parvenue deutlich gemacht, den zwei Wegen, die ein Jude in der Welt einschlagen kann. Insofern ist das als Biographie gedachte Buch zugleich die Geschichte der jüdischen Emanzipation in einer Zeit des aufkeimenden Antisemitismus, aber auch die der Suche nach der weiblichen Identität in einer Zeit, da diese schwer öffentlich zu leben war.

„Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte ‚wie Wetter ohne Schirm’.“

Die Suche nach Bestätigung von aussen kann schmerzhaft sein, wenn diese ausbleibt und man nichts in der Hand zu haben scheint, das dies ändern kann. Das eigene Sein als ein anderes Sein, als eines, das von denen, die dazugehören, als das andere und damit das Falsche, nicht Passende gewertet wird, wird zum Stigma und zur Wunde des Betroffenen. Der Versuch, sich zu verbiegen, das Eigene aufzugeben zugunsten einer Anpassung (als Parvenue), ist zum Scheitern verurteilt, vor allem dann, wenn das Eigene doch im Innern weiterlebt und leben will, wenn die Anpassung eine rein äusserliche bleibt. Dann bleibt man innerlich ein Paria, der nur zum Schein Parvenue ist, was zur Zerrissenheit führt. Der einzige Weg aus dem heraus ist insofern, mit sich selbst ins Reine zu kommen, das eigene Sein anzunehmen und sich selbst so die Bestätigung zu geben, die man zum Leben braucht.

„Ohne Kulisse kann der Mensch nicht leben.“

Das geht zwar nicht im losgelösten Raum, ohne andere Menschen, aber man kann sich wohl dahingehend vor Schmerz schützen, dass man sich diesen Raum passend aussucht und nicht versucht, sich in einen unpassenden hineinzuverbiegen.

Fazit:
Eine historische, philosophische und biographische Sicht auf eine Zeit, auf das Leben einer Frau in dieser Zeit. Sehr empfehlenswert, allerdings keine leichte Lektüre.

Zur Autorin:
Hannah Arendt (eigentlich Johanna Arendt)
Geboren am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover als Tochter jüdischer Eltern. Obwohl sie sich keiner religiösen Gemeinschaft anschloss, sah sie sich immer als Jüdin.
Studium bei Martin Heidegger (die Liebschaft ist wohlbekannt) und später Promotion bei Karl Jaspers. 1933 Flucht nach Frankreich, 1940 Internierung im Lager Gurs, aus welchem ihr die Flucht gelang. 1941 Ankunft in New York. Verschiedene Tätigkeiten fürs Überleben und auch aus Überzeugung, daneben Publikation mehrerer Artikel. Später Lehrtätigkeit und mehrere für die Philosophie herausragende Werke (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Eichmann in Jerusalem, Vita Activa). Sie stirbt am 4. Dezember 1975 in New York.

Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 363 Seiten
Verlag: Piper Verlag (17. Auflage März 2013)
ISBN-Nr: 978-3492202305
Preis: EUR 12.99; CHF 16.90

Der Hirnforscher Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis

BildEric Sandel, kam als Kind des jüdischen Spielwarenhändlers Hermann Kandel und dessen Frau Charlotte 1929 in Wien auf die Welt. Schon bald bekam er die antisemitische Gesinnung Österreichs zu spüren, indem zuerst in der Schule keiner mehr mit ihm sprach und er eines Tages aus heiterem Himmel mit seiner Familie umgesiedelt wurde. 1939 emigrierte die ganze Familie nach Amerika, genauer nach Brooklyn. Hermann Kandel eröffnet wieder ein Spielwarengeschäft und Eric besucht die Schule, bewirbt sich bei Harvard und startet so seine Karriere, die ihn bis zum Nobelpreis bringen soll. Dieser ist zwar der Höhepunkt seines Schaffens, nicht aber dessen Ende. Mit ungeminderter Leidenschaft, mit Ehrgeiz und Einsatz forscht Eric Kandel Zeit seines Lebens über das Gedächtnis und dessen Grundlagen und Funktionieren.

Der Film begleitet Eric Kandel zurück nach Wien, lässt ihn seine eigenen Wurzeln suchen und finden. Kandel spürt seinen Erinnerungen nach, welche immer wieder Emotionen in ihm wachrufen. Kandel sieht seine Geschichte mitverantwortlich für seinen Einsatz für das Gedächtnis. Was ist das Gedächtnis, wie entstehen Erinnerungen, welche für die menschliche Identität so fundamental sind? Dieser Frage widmet er sein Leben.

Wer nun glaubt, einen trockenen Film über einen verbohrten Wissenschaftler anschauen zu müssen, der irrt sich gewaltig. Eric Kandel besticht durch ein herzliches Lachen, das er oft erklingen lässt. Mit viel Humor und Witz erzählt er über sich, sein Leben, seine Forschung, lässt es aber trotz all dem Witz nie an Tiefe und Substanz mangeln.

Der Film gibt Einblicke in den Laboralltag des Forschers, der 1000e mühseliger und erfolgloser Stunden mit Versuchen, Enttäuschungen und neuen Versuchen verbringt, bis – teilweise nicht mehr erwartet – der Durchbruch gelingt, passiert, was erhofft und zu beweisen versucht wurde.

Fazit:
Kurzweiliger, anregender und informativer Film. Kandel erreicht Herz und Hirn der Zuschauer. Absolut sehenswert.

Angaben zum Film:
Dauer: 95 Min.
Extras 25 Min.
Land/Jahr: D 2008 (arte edition)
Sprache: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Preis: EUR: 22.99 ; CHF 36.90
Auf der Suche nach dem…Gedächtnis. Der Hirnforscher Eric Kandel, Film von Petra Seeger, arte Edition.

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Jüdischer Arzt zum Thema Beschneidung

Aufgrund der jüngsten Diskussion über die Beschneidung jüdischer Jungen machte sich auch ein jüdischer Arzt, Gil Yaron, seine Gedanken. Ein Artikel der FAZ zeigt eindrücklich das Resultat dieser Gedanken. 

 

Wieso beschneiden Juden ihre männlichen Kinder am 8. Tag nach der Geburt? Das ausschlaggebende Argument ist wohl immer die Tradition und das dadurch vermittelte Zusammengehörigkeitsgefühl. Die religiösen Gründe sind vielen nicht bekannt und wenn, gibt es mehrere, die nicht wirklich kongruent sind. 

Reicht der Grund, das Kind könnte sonst in der jüdischen Gemeinde nicht akzeptiert sein, ausgelacht werden aus, um ein Kind zu beschneiden? Die Prozedur scheint doch für einige traumatisch zu sein, wenn man das nun liest. Zwar lässt die Grausamkeit nach und der Stolz, es gemacht zu haben nimmt überhand, doch gründet dieser auch auf traditionellen Begründungen. 

Selber wurde Yaron das erste Mal mit der Frage konfrontiert, als seine Schwester sich gegen die Stimmen der ganzen Familie entschied, ihren Sohn nicht beschneiden zu lassen. Das zweite Mal, als er selber in der Situation war, Vater eines Jungen zu werden. Trotzdem er kein wirkliches Argument für eine Beschneidung fand, merkte er, wie schwer es fällt, darauf zu verzichten.

Die Angst, dass mit dem Ende der Beschneidung das letzte Stück Judentum von den Menschen abfalle, blieb bestehen. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl, das man als Juden untereinander doch hat, welches nicht zuletzt auf Traditionen gründet, selbst wenn sie noch so unerklärbar sind rational, schien ihm wert, nicht einfach mit diesen Traditionen zu brechen. Und doch – wenn nichts dafür spricht, wieso es hochhalten? Was wären die Alternativen? Für sich fand er die, seinem Sohn einst die Entscheidung selber zu überlassen, ob er beschnitten werden will oder nicht, sich selber aber anstatt der Beschneidung seines Sohnes das versprechen zu geben, den Sohn in einer jüdischen Gesinnung aufzuziehen, ihn so zu einem Mitglied dieser Gemeinschaft zu machen. 

 

Wie mir scheint ein sehr guter Weg, welcher die Traditionen schlussendlich viel besser weiter gibt, weil dieses versprechen die jüdischen Glaubensinhalte hochhält und weitergibt, statt es bei einer Beschneidung als äusserem Zeichen, welchem möglicherweise wenig weitere folgen im Innern, belassen zu lassen. Glaube kann auch ohne diese frühe körperliche Beschneidung (im wahrsten Sinne – körperlich ein Stück Haut, rechtlich die Unversehrtheit) gelebt werden, Traditionen und Feste dienen dem Zusammengehörigkeitsgefühl wohl mehr. 

Yaron ruft die jüdische Gemeinschaft dazu auf, das zu tun, was dem jüdischen Menschen entspricht: nachzudenken und zu diskutieren. Ich denke, diese Zeit sollte gegeben sein. Nach wie vor gefällt mir der Gedanke nicht, dass man von aussen an eine Region herantritt und ihr befielt, wie sie zu leben hat, ihr verbietet, ihre Religion auszuleben. Schön wäre, wenn von innen eine der heutigen zeit angepasstere Lösung gefunden werden könnte.

Das meine ich nicht nur in Bezug auf dieses Thema und schon gar nicht beschränkt auf das Judentum, sondern das sollte bei allen Religionen so sein. Die Zeiten ändern, Glaubensinhalte wie auch Praktiken verlieren ihre Rechtfertigung oder sollten überdacht werden. Nicht, um den Glauben, die Religion zu schwächen, sondern um sie auch in neuen Zeiten lebbar zu machen. ich denke, das würde den einzelnen Religionen mehr bringen – auch an Anhängern. Wenn der Spagat zwischen dem Leben im Heute und der Religion immer grösser wird, können ihn viele Menschen nicht mehr machen und entscheiden sich dann dafür, das eine oder andere aufzugeben – meist die Religion und damit die Gesellschaft. 

 

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/beschneidungsdebatte-unsere-seltsame-tradition-11827726.html