Rezension – Byung-Chul Han: Vita Contemplativa

Oder von der Untätigkeit

Zum Inhalt

“Im Gegensatz zum Handeln, das vorwärts drängt, bringt die Besinnung uns dorthin zurück, wo wir immer schon sind. Sie erschliesst uns ein Da-Sein, das jedem Tun, jedem Handeln vorausgeht, ja vorausweilt.»

Wir leben in einer Zeit des Handelns, der Produktivität, des Leistungsstrebens. Selbst die Freizeit ist nicht mehr frei von Handeln, sie wird einerseits der Produktivität entgegengestellt und definiert sich so aus dieser heraus. Andererseits wird sie «sinnvoll genutzt», um sie nicht zu verschwenden, nicht untätig zu verbringen. Dabei wäre gerade die Untätigkeit, so Byung-Chul Han so wichtig, da wir nur in ihr erfahren, wer wir wirklich sind, nur in ihr das grosse Ganze und uns darin erkennen können.

«Das Individuum ist ein «Organ des Ganzen». Das Ganze ist ein «Organ des Individuums». Das Individuum und das Ganze durchdringen einander.

Der Verlust des Kontemplativen hat zu einem blinden Aktionismus geführt, in welchem wir systemgegebenen Abläufen gehorchen ohne hinzuhören, was wichtig und richtig wäre, was Leben und Sein eigentlich ausmacht. Gerade dieses Sein haben wir verloren durch das ständige Tun. Der Philosoph ruft auf, wieder mehr Untätigkeit ins Leben zu holen, da nur dieses wirkliches Sein verspricht, weil wir nur so zu dem werden, was wir sind und wovon wir uns durch ständiges Tun immer wieder leidbringend entfernen.

Gedanken zum Buch
In Auseinandersetzung mit Hannah Arendt entwickelt Byung-Chul Han seine Theorie des untätigen Lebens, welches erst das wirkliche Leben im Sinne eines Seins – oder mit Heidegger zu sprechen eines Da-Seins ausmacht. Er beruft sich auf Hölderlin, welcher als Ziel allen Strebens eine Vereinigung mit der Natur sieht, wodurch wir wieder Teil eines Ganzen werden, nicht als Vereinzelte in einer immer fremder erscheinenden Welt leben.

«Allein Anschauung und Gefühl haben Zugang zum Universum, nämlich zum Seienden im Ganzen.»

Erst wenn wir zur Ruhe kommen, einfach sind, öffnet sich die Sicht auf das, was da ist, auf das, was unser tätiges Sein übersteigt, das uns über unser gedachtes, beschränktes Ich hinauswachsen lässt zurück zum All-Einsein, zum Wahren Sein unserer Natur in ihrem umfassenden Umfang. Dieses Sein verbindet er mit Lauschen – im Gegensatz zum Handeln -, weil das Lauschen offen sein lässt für das, was ist, es nicht vorwegnimmt durch Gedanken, die immer nur begrenzt sind durch die Begrenzung unseres selbstbestimmten und -definierten Ich.

«Der wachsende Zwang zur Produktion und Kommunikation erschwert das kontemplative Verweilen.»

Wir sollten wieder zurückkommen ins Verweilen, sollten uns vom ständigen Tun lossagen, um die Schönheit des Augenblicks zu sehen, was wirkliches Glück bedeutet. Mit Goethes Faust sagen zu können «Augenblick, verweile doch, du bist so schön» und in diesem Gefühl mit zu verweilen, das ist, was wirkliches menschliches Leben ausmacht und es in seiner ganzen Grösse und Schönheit und auch Freiheit erfahren lässt.

Byung-Chul Han ist ein kleines, feines, tiefes und zum Nachdenken anregendes Buch gelungen, das zum Beim-Buch-Verweilen einlädt, da es in seiner Kürze sehr komplex und mitunter schwer verständlich ist. Es lohnt sich, sich diese Zeit zu nehmen, sich mit dem Buch immer wieder in die Ruhe zu begeben und es auf sich wirken zu lassen.

Fazit
Ein komplexes, tiefgründiges und weises kleines Buch zum Untätigsein und zum glücklichen Leben, das sich durch dieses erfahrbar macht.

Zum Autor
Byung-Chul Han, geboren 1959, studierte zunächst Metallurgie in Korea, dann Philosophie, Germanistik und katholische Theologie in Freiburg und München. Nach seiner Habilitation lehrte er Philosophie an der Universität Basel, ab 2010 Philosophie und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, und seit 2012 Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Im S. Fischer Verlag sind zuletzt erschienen »Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken« (2014), »Die Errettung des Schönen« (2015) sowie »Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute« (2016).

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ Ullstein Hardcover; 2. Edition (30. Juni 2022)
Sprache: ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe: ‎ 128 Seiten
ISBN-13: ‎ 978-3550202131

Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben

Inhalt

«Für den Menschen heisst Leben…’unter Menschen weilen’ (inter homines esse) und Sterben soviel wie ‘aufhören unter Menschen zu weilen’ (desinere inter homines esse).

In ihrem Werk «Vita activa oder Vom tätigen Leben befasst sich Hannah Arendt mit den menschlichen Grundtätigkeiten, damit, was Menschen tun, wenn sie leben. Sie unterteilt diese in drei Kategorien: Das Arbeiten (alles, was für den Lebenserhalt notwendig ist), das Herstellen (das Schaffen von überdauernden Gütern) und das Handeln (den Umgang von Menschen miteinander, das Tun und Sprechen zum Zwecke der Gestaltung der gemeinsamen Welt). Während Arbeiten und Herstellen notwendig sind für das Leben und Überleben in dieser Welt, ist Handeln das, was den Menschen erst wirklich zum Menschen macht. Es ist das tätige In-der-Welt-Sein als viele Menschen (Pluralität), durch welches sich das jeweilige Wer des einzelnen Menschen offenbart und sich gleichzeitig in das Wir einfügt.

Weitere Betrachtungen

«Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, dass er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht.»

Wir Menschen neigen dazu, das Leben als Kausalkette zu sehen. Dinge passieren, so denken wir, weil wir sie so geplant haben, weil aus dem vorher zwangsläufig dies oder jenes hervorgehen könnte. Kommt es anders, sind wir erstaunt, um dann eine neue Erklärung zu finden, wieso es so kam. Kierkegaard sagte dazu, dass sich das Leben immer nur rückwärts erklärt, aber vorwärts gelebt werden muss. 

Nun ist es nicht so, dass wir dem Leben willkürlich ausgeliefert sind, keine eigenen Entscheidungsmöglichkeiten haben, sondern uns in die Dinge fügen müssen, wie sie sich darbieten. Es hilft aber, ein kleines bisschen Demut zu bewahren, wenn Dinge gelingen, denn sie hätten durchaus auch misslingen können – das gilt für uns selbst wie auch für andere. Nicht jeder, der im Leben nicht auf der Sonnenseite steht, hat dies selbst verschuldet, es ist nicht nur Dummheit, Faulheit oder mangelnder Wille, wenn Menschen durch die gesellschaftlichen Maschen fallen, sondern oft das Leben, das Menschen mit Schicksalen bedenkt, welche diese weder erwarten noch bewältigen konnten.

Dies im Blick, ist es an uns, dafür zu sorgen, dass diese Gesellschaft so aufgebaut ist, dass sie für diese Menschen Halt bietet, dass sie schaut, dass keiner durch die Maschen fällt, dass das Grundanliegen ist, dass jeder Mensch in Würde leben kann. Wir haben nur diese eine Welt und wir können sie gemeinsam gestalten – was würde unser Leben für einen Sinn ergeben ohne sie?

«Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn. Diese umgebende Welt wiederum, in die ein jeder hineingeboren ist, verdankt wesentlich dem Menschen ihre Existenz…»

Hannah Arendt kritisiert die Verherrlichung der Arbeit, während das politische Handeln, welches erst eigentlich den Menschen und sein Leben in der Welt ausmacht, vernachlässigt wird. Sie betont die Notwendigkeit des Miteinandersprechens, da nur durch dieses die Möglichkeit besteht, die Welt zu gestalten.

Sie weist auf die Gefahren der modernen Massengesellschaften hin, in welchen nicht mehr Menschen miteinander sprechen, sondern die statt eines Jemands von Niemanden beherrscht werden, welche sich hinter bürokratischen Abläufen verstecken und damit jeglicher Verantwortung entgehen.

«Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.»

Indem Menschen einen öffentlichen Raum schaffen, in welchem sie gemeinsam über die geteilte Welt sprechen, betreiben sie Politik und nur insofern sind sie frei.

Fazit
Ein umfassendes, scharfsinniges und tiefgründiges Buch über das menschliche Tun und was es heisst, ein verantwortungsvoller und politisch aktiver Mensch zu sein.

Hannah Arendt (eigentlich Johanna Arendt)
Geboren am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover als Tochter jüdischer Eltern. Obwohl sie sich keiner religiösen Gemeinschaft anschloss, sah sie sich immer als Jüdin.
Studium bei Martin Heidegger (die Liebschaft ist wohlbekannt) und später Promotion bei Karl Jaspers. 1933 Flucht nach Frankreich, 1940 Internierung im Lager Gurs, aus welchem ihr die Flucht gelang. 1941 Ankunft in New York. Verschiedene Tätigkeiten fürs Überleben und auch aus Überzeugung, daneben Publikation mehrerer Artikel. Später Lehrtätigkeit und mehrere für die Philosophie herausragende Werke (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Eichmann in Jerusalem, Vita Activa). Sie stirbt am 4. Dezember 1975 in New York.