Eine Geschichte: Quo Vadis? (XXXXVII)

Lieber Papa

Die Reise ging weiter und weiter. Während du im Bett lagst, verschwand immer mehr von dir. Das Leben zog mehr und mehr aus. Und in mir wuchs die Leere. Irgendwann kam der Moment, als sie nochmals reden wollten. Alle miteinander sollten wir darüber reden, wie es weitergehen solle. Weitergehen?

«Papa kann heim.»

Sagte Mama am Telefon.

«Das ist unmöglich. Papa kann nicht heim.»

Und wenig später sagte ich:

«Ich komme!»

Du hattest immer gesagt, du wolltest nicht in einem Spital sterben. Das sollte ermöglicht werden. Auch wenn du eigentlich zu schwach für eine Reise warst. Wir standen alle um das Bett versammelt. Die Ärzte erklärten die Situation und die verbleibenden Möglichkeiten: Keine. Die Pflegefachkräfte erzählten, was für ein lieber Mann du seist, wie dankbar und höflich. Es klingt blöd, aber ich war stolz auf dich. Fast fühlte es sich an wie Mutterstolz. Verkehrte Welt. Ich schien plötzlich ich in der Rolle, aufpassen zu müssen. Auf dich.

Du lagst da und schwiegst. Während alle anderen redeten. Und argumentierten. Und irgendwie auch nichts sagten. Nichts von Belang.

Sie erzählten, was es zu Hause brauche, Mama wollte es besorgen. Du schwiegst.

«Sie wollen doch nach Hause?»

Das fragte plötzlich ein Arzt. Du stelltest dich schlafend. Um Schweigen zu können. Sie besprachen weiter das Organisatorische. Ich sah, dass du es hörst. Ich am zu dir ans Bett, setzte mich. Schaute dir in die Augen. In deine kleinen, lieben, müden Augen.

«Papa, was willst du? Hier bleiben oder nach Hause?»

Du schautest mich an. Öffnetest den Mund. Es kam kein Ton. Du schautest mich nur an. Mit einem traurigen Blick. Es zerriss mir das Herz. Aber nein, das war unnmöglich. Das lag schon lange in Fetzen.

«Wollen wir bis Ende Woche schauen, wie alles geht, und dann entscheiden?»

Du nicktest. So würden wir es machen. Ich verabschiedete mich von dir. Ich umarmte dich, küsste dich. Du drücktest mich leicht. Es muss dich deine ganze verbleibende Kraft gekostet haben.

«Ciao, Papa!»

«Ciao!»

(«Alles aus Liebe», XXXXVII)

Eine Geschichte: Offene Fragen (XXXXVI)

Lieber Papa

Wie du dalagst, wenn ich kam. So lieb. So schmal. Immer ging mir das Herz auf. Um sich dann vor Schmerz wieder zu verkrampfen. Weil mir bewusst war, dass ich dich nicht mehr lange so daliegen sehen würde. Wobei du gar nicht daliegen solltest. Du solltest durch die Berge wandern, deine geliebten Kreuzworträtsel lösen. Du solltest lachen, singen, tanzen. Du solltest Witze machen, von früher erzählen. Du solltest zu Hause sein. Ans Telefon gehen. Du solltest… Aber das Sollen war vorbei. Das Wollen auch. Es war, wie es war. Und würde auch so nicht bleiben.

Wir waren in diesen Zug eingestiegen, der nur noch eine Haltestelle kannte. Ich hasste Reisen schon immer.

Rainer Maria Rilke schrieb einst:

„Die Blätter fallen. Fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
Sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Ich fragte mich, wieso das Gedicht so schön klingt, so friedlich. In mir weinte und schrie und tobte und wütete es. Und doch berührten mich die Zeilen. Darum wollte ich sie mit dir teilen, Papa. Ich habe dich gar nie gefragt, ob du Gedichte magst. Ich habe so vieles nicht gefragt.

(„Alles aus Liebe“, XXXXVI)

Eine Geschichte: Gelernt ist gelernt (XXXXIV)

Lieber Papa

Neues Jahr, neues Glück heisst es. Das würde nicht so sein dieses Jahr. Der Arzt brachte die Botschaft zum neuen Jahr:

«Wir haben neue Ableger gefunden. Auf der Niere.»

Nun also auch die Niere. Der Krebs annektierte Stück für Stück des Körpers. Er frass sich durch die Zellen und ebenso durch uns. Er nistete sich in den Gedanken ein und breitete sich aus. Nahm jeden Platz ein, den er fand. Nur bis in die Worte drang er nicht. Wir schwiegen. Darüber, was das bedeutete. Was kommen würde. Kein Wort. Wir blieben bei den eingeübten Floskeln, bei den Gemeinplätzen. Und zwischendurch sagtest du immer:

«Es kommt schon gut.»

Und ich nickte. Wie ein Wackeldackel nickte ich. Mehr als nötig. Vielleicht, um das laute NEIN in meinem Kopf herauszunicken. Weil ich dem Nicken glauben wollte, nicht dem Zweifel. Die nächste Runde Chemo wurde eingeläutet. Ambulant.

Ich sah dich schon von weitem. Klein sassest du in deinem Stuhl, die Infusion schon gesteckt.

«Wo ist Mama?»

«Sie hatte zu viel zu tun. Der Spaziergang mit den Hunden. Und mehr.»

«Darfst du fahren mit all den Medikamenten?»

Das wolltest du nicht hören. Was fragte ich auch, die Antwort war klar.

«Das geht schon.»

Ich erinnerte mich, wie du bei Grossvati wettertest, als er mit 76 noch mit seinem Moped durch die Strassen fuhr. In dem Alter sei das verantwortungslos. Meintest du. Obwohl er gesund war. Du warst 84. Und alles andere als gesund. Die Sturheit scheint sich in unserer Familie vererbt zu haben.

Deine Fahrten dauerten nicht lange, schon bald musstest du wieder bleiben und ich kam jeden Tag. Jedes Mal mit Herzklopfen vor deiner Tür. Ich klopfte leise. Streckte den Kopf durch den Spalt. Sah dich liegen. Oft schlafend. So klein. So fein. Ärmchen wie dürre Äste. Ich hörte deinen Atem. Sah dein liebes Gesicht. Spürte Tränen aufsteigen. Schluckte sie runter.

«Contenance!»

Sagte ich mir. Nicht die Haltung verlieren. Nicht hier. Nicht vor dir. Dich nicht belasten mit meiner Trauer, die mir wohl trotzdem ins Gesicht geschrieben stand. Ich miserabler Schauspieler ich. Hätte ich das mal besser bei dir gelernt, als noch die Zeit dazu war. Und doch: Keine Schwäche zeigen konnte ich. Das hatte ich lange geübt.

Wenn du dann die Augen aufschlugst, so klein und matt, wie sie geworden waren, lächeltest du mich immer an. Sprachst mich an. Leise. Schwach. Und doch so freudig.

«Hallo Papa! Wie geht es dir?»

Wir sind unseren Floskeln treu geblieben. Contenance. Bis zum Schluss. Das kannten wir. Das konnten wir.

Eine Geschichte: Fressmonster (XXXXII)

Lieber Papa

Die Sonne schien weiter. Als ob nichts wäre. Während unsere kleine Welt durcheinandergewirbelt wurde, drehte die grosse weiter. Ungebremst, ungestört, unbetroffen.  Wie wenig der einzelne in ihr doch zählt. Meine Welt ist noch kleiner geworden. Plötzlich bricht so viel weg. Kontakte werden weniger, weil meine Zeit fehlt.

«Du musst dich nicht mehr melden.»

Sagte mir eine Bekannte, weil ich wegen eines Arzttermins kurzfristig ein Treffen absagen musste. «Du hast ja eh nie Zeit.» Am Ende ist man wohl immer allein. Interessen traten in den Hintergrund, weil nur noch eines zählte. Mir fällt ein Satz von Erich Fried ein:

«Für die Welt bist du irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die Welt.»

Auch wenn er ihn in einem anderen Zusammenhang dachte, passte er für mich. Meine Welt drehte nur noch um dich. Und den Krebs. Als ob dieser sich nicht nur in dich hinein, sondern die Welt gleich mit frässe. Krebs hat wohl nie nur einer allein, er durchdringt alle.

Die erste Chemotherapie stand an. Bislang nur ein Wort, etwas, das andere betraf. Nun zentraler Punkt in meiner Welt. Und dann:

«Wir werden nicht operieren.»

Ich verstand nicht. Es hiess doch, das sei der nächste Schritt, wenn keine Metastasen vorhanden sind. Und die gäbe es nicht.

«Wir haben uns anders entschieden.»

Ich schaute dich an. Du nicktest nur still. Ich fragte nach, wollte verstehen. Der Arzt wurde ungeduldig. Du schautest traurig. Worte schienen dich Kraft zu kosten, auch wenn andere sie aussprachen. So schwieg ich. Wir gingen in dein Zimmer zurück.

«Die wissen schon, was sie tun.»

Sagtest du. Glaubtest du das wirklich? Oder war es für dich der beste Weg? Weil dafür keine weiteren Worte nötig waren? Ruhe einkehrte?

«Bestimmt!»

Sagte ich. Und glaubte es nicht.

Sie wollten eine neue Therapieform probieren. Bald erfuhren wir auch den Grund: Metastasen. In Herz, Hals und Hirn. Der Krebs hatte Sinn für Alliterationen, nur mir war jeglicher Sinn für die Poesie des Lebens abhandengekommen.

Ich schaute dich an. Du schienst noch kleiner geworden zu sein. Nicktest noch immer. «Ja.» Sagtest du leise, während in mir alles laut «NEIN!!!!» schrie. Du schienst wie weggetreten. Als ginge dich das alles nichts an. Als sprächen wir hier über jemand anders. Das wäre schön.

Das wäre nun wieder so eine Situation, in der ich dich angerufen hätte. Du hättest mir einen deiner immer gleichen Ratschläge gegeben, die ich nie umgesetzt habe und doch froh war, sie zu hören. Es waren wohl mehr dein Dasein und deine Stimme, die mir halfen. Ich fühlte mich, wenn ich dich hörte, nicht mehr allein mit all dem, was mich gerade noch belastet hatte. Nun war ich es. Allein.

Nun war es also Tatsache. Wir hatten Krebs. Wir, die wir nicht krank werden. Wir, die wir nie Probleme haben und sie vor allem nicht zeigen. Wir, denen es doch gut gehen musste. Wir, die wir alles unter den Teppich kehrten. Nun war da plötzlich etwas, das nicht mehr drunter passte. Etwas, das zu gross war.

Eine Geschichte: Die erste Reise (XXXIX)

Lieber Papa

Ich musste zu dir. So schnell wie möglich. Um 7 Uhr stehe ich an der Bushaltestelle. In meiner Tasche ein Buch, ein Notizbuch und in mir angespannte Unsicherheit und Nervosität. Was erwartet mich? Wie treffe ich dich an? Normalerweise sitze ich um diese Zeit zu Hause an meinem Pult und schreibe die ersten Zeilen des Tages oder kümmere mich um Administratives. Bislang dachte ich, das seien die schlechten Tage, solche, an denen mir nichts einfallen will. Da merkte ich, dass auch das gute Tage sind, denn ein wirklich schlechter Tag war heute. Nun ging es nicht um Schreiben oder nicht Schreiben, nun ging es um dich.

Ich ging nicht allein auf Reisen, an der Bushaltestelle standen viele Leute, vermutlich auf dem Weg zur Arbeit. Sie schienen geübter im Stehen und Warten. Eine Routine, die ich nie gekannt hatte im Leben, da ich mich immer auf eigenen Wegen und im eigenen Rhythmus durchs Leben bewegt habe. Die anderen grüssen einander, nicken sich zu. Alte Bekannte der täglichen stummen Begegnung, ein «auch wieder da» im Blick. Nicht als Frage, sondern als Bestätigung des gewohnten Alltags. Das, was bei mir gerade aus den Angeln gehoben worden war.

Dann sass ich im Bus und schaute raus. Mein Blick erfasste nichts. Fand keinen Halt. Er ging durch die Dinge hindurch ins Leere. Was dachte ich? Was fühlte ich? Ich konnte es nicht fassen. Es war un-fassbar. Und ich fassungslos.

Am Hauptbahnhof stieg ich aus, konnte mich mit dem Menschenstrom treibenlassen, war mitgenommen. Überall so viel Leben. Und dessen Ende als dunkle Angst in mir. Ich fühlte mich wie eine einsame Insel in einem wogenden Ozean. Ein Gefühl, das mir auch sonst nicht fremd ist.

Als ich den Zug bestieg, waren erst wenige Plätze besetzt. Die noch freien füllten sich langsam. Später würde ich wissen, dass hier jeder seinen Platz hat. Dann würde auch ich meinen haben. Ich packte mein Buch und mein Notizbuch aus, legte es vor mir auf den Tisch. Das sah aus, als ob ich viel vor hätte. Wie dieser Schriftsteller, der morgens in den Zug steigt und dann schreibend durch die Schweiz fährt. Ich schrieb nicht.Ich fuhr zu dir. An dem Tag wusste ich noch nicht, dass ich einige Jahre weder lesen noch schreiben können würde. Als hätte Mamas Anruf dem einen Riegel vorgeschoben.

Irgendwann stand ich vor deiner Zimmertür. Beim Gehen durch die Gänge war ich immer langsamer geworden. Als ob das Hinausschieben helfen könnte. Oder alles nicht wahr sei, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde. Ich klopfte leise. Öffnete vorsichtig die Tür. Linste durch den Spalt. Sah dich da liegen. Du drehtest deinen Kopf zu mir und lächeltest mich an. Wie müde du aussahst. Die Arme seltsam mager. In meiner Erinnerung waren sie kräftig. Mit zupackenden Händen.

«Hallo Papa»

Im Zug schwirrten mir so viele Gedanken und Fragen durch den Kopf. Nun kam mir nichts mehr in den Sinn. Passte nicht. Kam mir zu aufdringlich vor. Oder hatte ich Angst, auf die Fragen Antworten zu kriegen, die ich nicht hören wollte? Das war sonst eigentlich deine Taktik. Ich fand sie plötzlich gut.

«Wie fühlst du dich?»

«Eigentlich gut.»

Klar, drum lagst du da. Aber ja, ich hatte gefragt.

«Konntest du schon mit den Ärzten sprechen? Was sagen sie?»

«Sie haben keine Ahnung, was los ist. Sie wollen alles genau untersuchen. Ich muss die ganze Woche hierbleiben.»

Ich ahnte, was das für dich bedeutete. Und: Das würde nicht meine letzte Reise gewesen sein.

(«Alles aus Liebe», XXXIX)

Eine Geschichte: Nun ist alles gut (XXXVII)

Lieber Papa

Kürzlich las ich ein Buch von Paul Auster. Darin schrieb er diesen Satz:

„…weil du immer geglaubt hast, er würde ein hohes Alter erreichen, hat es dich nie gedrängt, den zeitlebens zwischen euch hängenden Nebel zu lichten.“

Ich dachte an dich. An uns. Wir haben auch geschwiegen. Sassen im Nebel und sahen nicht hindurch. Wir dachten wohl nicht, uns bliebe noch Zeit. Das Schweigen war unsere Heimat, der vertraute Ort, an dem wir uns immer trafen.

Die Sprachlosigkeit war ein eingeübtes Verhalten, ein antrainiertes, vereinbartes Miteinander. Sie entsprach nicht meinem Naturell. Ich musste sie annehmen. Akzeptieren. Anwenden. Sie wurde aus der Erfahrung geboren, dass du keine Worte hören willst. Zumindest keine Widerworte. Oder unangenehmen Worte. Oder unbequemen Worte. All die hatten auszubleiben. Versuchte ich es anfangs noch, gab ich bald auf.

„Heute reden alle ständig und zu viel. Darum gibt es so viel Streit.“

So dachtest du. Und schwiegst. Ich wollte keinen Streit. Nicht zwischen uns. Früher nicht, jetzt erst recht nicht. Wenn ich doch ab und zu wieder einen Versuch unternahm, etwas Schwieriges ansprach, etwas erwähnen und besprechen wollte, das nicht gut gelaufen war, kam die immer gleiche Antwort von dir:

„Wir hatten es gut.“

Und:

„Alles war schön.“

Damit war alles gesagt. Das Thema war beendet, bevor ich es richtig angesprochen hatte.

Nun konnte ich nicht mehr schweigen. Ich schrieb dir all diese Briefe. Und immer wieder fragte ich mich, ob es richtig ist. Was bringt es, dir nun noch sagen zu wollen, dass es eben für mich nicht nur gut und schön war? Wieso soll ich dir deine Sicht nehmen? Aber ja, manchmal frage ich mich auch, ob du das wirklich glaubst. Dass alles gut war. Ich kann es kaum glauben. War das nicht nur dein Schutzschild, um nicht hinschauen zu müssen? Vielleicht sogar Fehler zugeben zu müssen?

Und dann denke ich wieder: Was soll’s. Es ist vorbei. Es war, wie es war. Und nun ist es gut.

Ende Teil 1

(„Alles aus Liebe“, XXXVII)

Eine Geschichte: Weiterleben (XXXVI)

Lieber Papa

Kürzlich las ich in einem Buch dieses Zitat:

«Ich war so traurig an diesem Abend; ich begriff mit einer Klarheit, wie nur zu wenigen anderen Zeiten meines Lebens, dass die Isolation meiner Kindheit, die Angst und die Einsamkeit, mich nie ganz loslassen würden. Meine Kindheit war ein einziger Lockdown gewesen.»
Elizabeth Strout

Weisst du, wie einsam ich mich oft fühlte als Kind? Von klein an? Immer jemandem im Weg. Immer von jemandem nicht gewollt. Da gab es diesen Tag, als Mama mir sagte:

«Ich weiss, dass Papa dich lieber hat als mich.»

Das kam aus dem Nichts. Es war eine einzige Anklage. Ich stand da. Wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Wie mir geschieht. Ich fühlte mich schuldig. Und traurig. Und allein. Ich hatte ihr etwas weggenommen. War das der Grund, dass sie mir gegenüber immer so distanziert war? Konnte sie mich drum nicht lieben? Weil ich ihre Feindin war? Nahm sie mich darum nie in den Arm? Fühlte sich darum alles, was sie tat, an, als erfülle sie eine Pflicht? Ich meine: Äusserlich ging es mir immer gut. Ich war warm angezogen, hatte zu essen, sie «kümmerte sich». Sie war eine Kümmermutter, keine liebende.

Vielleicht war das die gerechte Strafe für mich. Mich konnte man nicht lieben. Weil ich böse war. Ich stahl anderen die Liebe. Ich hatte keine Ahnung, aber ich versuchte, alles wieder gut zu machen. Ich wollte, dass sie glücklich ist. Und ich wollte, dass sie mich liebt. Ich versuchte, mich von dir fernzuhalten. Das war schwer, denn du warst alles, was ich hatte. Du warst der einzige, bei dem ich dachte, er wolle etwas mit mir machen. Und ich war gerne mit dir zusammen. Ich habe die Aussage nie mehr vergessen. Von da an fühlte ich mich immer zwischen den Stühlen. Ich wusste nicht, dass es noch schlimmer kommen könnte.

Erinnerst du dich? Wir fuhren zusammen zum Einkaufen. Mama und ich hatten mal wieder Streit gehabt. Keine Ahnung, weswegen. Du hast mir diesen Streit übelgenommen. In deinen Augen war ich dafür verantwortlich. Das war ich immer, wenn irgendwo etwas nicht gut lief. Das war immer nur so, weil ich war, wie ich war.

Ich erinnere mich so gut an alles. Du warfst mir an den Kopf, dass Mama wunderbar sei, dass sie alles für mich mache. Du schimpftest mich undankbar. Ich müsse mich ändern, weil es so nicht weitergehen könne. Und dann sagtest du diesen Satz, der mein ganzes Leben mit einem Schlag in Frage stellte:

«Deine Mutter ist mir das Wichtigste. Wenn du nicht endlich mit ihr klarkommst, kannst du gehen. Dann will ich dich nicht mehr hier haben.»

Kein Schlag, keine Ohrfeige hätte mich mehr treffen können.

Das war der Tag, an dem ich gefühlt alles verloren habe und keinen Sinn mehr sah im Leben. An diesem Abend sammelte ich alle Schlaf- und Schmerzmittel zusammen, die ich im Haus finden konnte. Es waren viele. Ich schluckte sie. Es sollte endlich alles vorbei sein. Ich schlief ein.

Erst viele Stunden später und mit viel Anstrengung habt ihr mich wieder einigermassen wach gekriegt. Mir war übel. Ich stand neben mir. Alles drehte sich. Die Beine wollten mich nicht mehr tragen. Aber ich lebte. Leider. Nur in mir war etwas gestorben.

(«Alles aus Liebe», XXXVI)

Eine Geschichte: Hoffnung (XXXV)

Lieber Papa

Nun war ich also im Krankenhaus. Du warst gegangen. Ich war allein. Und fühlte mich unsicher, aber voller Hoffnung. Ich hoffte, dass sie mir einen Schlüssel aus meinem Gefängnis geben könnten. Dass sie einen Weg kennen, der hinausführt. In die Freiheit. Wie falsch ich doch lag.

„Sie sind bei uns auf der medizinischen Abteilung. Wir kennen uns leider mit Ihrer Thematik nicht aus.“

Mit diesen Worten begrüssten sie mich und fuhren fort:

„Auf der Kinderabteilung hätten sie wohl mehr Erfahrung, doch die sind voll belegt.“

Sie erzählten noch etwas davon, dass sie etwas versuchen wollen, guten Mutes seien und notfalls in der Kinderabteilung nachfragen würden. Und ich wäre am liebsten rausgerannt. Dann führten sie mich durch einen langen Gang. Durch die offenen Türen hörte ich Menschen husten und stöhnen. Auf dem Gang schoben alte Männer mit offenen Hemden ihren Rollator spazieren. Ich fühlte mich im falschen Film.

Sie wählten die Methode Zuckerbrot und Peitsche. Ich hatte ein Einzelzimmer, Fernsehen, Bücher, Telefon, Radio, Besuch, Essen à la carte und Freigang. Nahm ich brav zu, blieb alles, wie es war, tat ich es nicht, strich man etwas von diesem Angebot. Zuerst den Freigang. Dann den Besuch. Dann das Telefon. Die Bücher. Den Fernseher. Und so sass ich irgendwann allein und ohne nichts in meinem Bett. Mit Magensonde. Eigentlich hätte ich nun spätestens zunehmen müssen. Eigentlich. Aber: Ich hatte gelernt, die Sonde selbst rauszuziehen und wieder reinzuschieben. Ich kam mir so clever vor, dabei beschiss ich mich nur selbst. Sie standen mit Fragezeichen da, ich sass weiter in diesem neuen Gefängnis fest. Irgendwann merkte ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich nahm bis zu einem Mindestgewicht zu, dass ich mein Telefon wieder bekam. Dann rief ich dich an – erinnerst du dich?

„Papa, hol mich hier raus.“

Es war so schön, deine Stimme zu hören. In ihr lag eine Mischung aus Freude und Erstaunen. So stelle ich mir das vor, ich erinnere mich nicht. Ich weiss nur, dass du fragtest

„Wieso, entlassen sie dich?“

„Nein, aber ich halte das hier nicht mehr aus.“

Du warst nicht begeistert. Ich solle Geduld haben. Sagtest du. Ich müsse ganz gesund werden. Fandest du. Es sei zu früh. Befürchtetest du.

„Ich bin zwar schwerer als beim Eintritt, aber im Kopf geht es mir schlechter. Bitte Papa. Ich schaffe es zu Hause. Ich verspreche es!“

Du hast mir geglaubt. Und du kamst. Und hast dich eingesetzt. Für mich. Du sprachst mit den Ärzten. Sie drohten. Sie malten tausend Teufel an die Wand. Du bliebst stark. Für mich. Und du nahmst mich mit nach Hause.

Auf alle Fälle war ich wieder zu Hause. Und das war gut. Nicht, dass es einfach gewesen wäre. Ich habe mit Verstand und Logik versucht, diese Krankheit zu überwinden. Ich rechnete, plante und organisierte. Essen war dominant. Aber ich nahm nicht mehr ab. Und irgendwann sogar zu. Der Essensplan, den ich mir aufstellte, war rein auf meine Gelüste und Vorlieben ausgerichtet. Gesund war das sicher nicht. Sicher gesünder als verhungern. Du hast mich unterstützt. Du hast mich alles ausprobieren lassen. Erinnerst du dich, wie wir regelmässig ganze Früchtekuchen beim Bäcker holten, die ich dann nach ausgeklügeltem Zeit-Plan ass? Oder wie ich Diäten umkrempelte, weil ich dachte, was zum kontrollierten Abnehmen hilft, müsste auch umgekehrt gehen. Die Kontrolle war wichtig. Die konnte ich nicht loslassen. Aber es ging. Irgendwie. Immerhin hatte ich irgendwann wieder ein Gewicht, das nicht mehr besorgniserregend war.

Papa, ich schreibe dir das und ich weine dabei. Ich denke an dich und wie oft du für mich gekämpft hast. Für mich da warst. Dich für mich eingesetzt hast. Du. Immer du. Du warst mein Fels. Mein Alles. Der starke Papa, auf den ich bauen konnte.

(«Alles aus Liebe», XXXV)

Eine Geschichte: Tiefpunkt (XXXIV)

Lieber Papa

Irgendwann hatte ich es geschafft. Ich hatte das Gewicht erreicht, das ich erreichen wollte. War ich zufrieden? Ich weiss es nicht mehr. An einem Abend ging ich zu einer Klassenfete. Ich tanzte den ganzen Abend. Als ich am nächsten Morgen auf die Waage stieg, hatte ich ein Kilo weniger. Das war zwar keine Absicht gewesen, doch es fühlte sich gut an. Ich wollte das Gewicht so halten. Die Angst, wieder zuzunehmen, war gross. Deshalb ass ich noch weniger. Und nahm noch mehr ab. Und wieder fühlte es sich gut an. Ein neues Gewicht, das ich halten wollte und deswegen noch weniger ass. Die Komplimente, die ich für meine schlanke Figur bekam, stachelten mich an. Das Gefühl, etwas geschafft zu haben, war grossartig. Ich fühlte mich so gut. Endlich war ich einmal gut genug. Die Spirale begann, zu drehen. Die Angst vor dem Zunehmen liess mich immer dünner werden. Zu den Komplimenten gesellten sich besorgte Stimmen. Ich brachte sie zum Schweigen.

Tief drin wusste ich, dass ich auf keinem guten Weg war. Nur: Ich konnte ihn nicht verlassen. Ein Teil von mir steuerte ins Unglück, der andere schaute hilflos zu. Da war etwas in mir, das sich wie ein Geschwür ausbreitete. Es nahm alles in Beschlag: Gefühle, Gedanken, Handlungen. Ich sass in einem Gefängnis. Niemand hatte einen Schlüssel. Keiner bewachte die Tür. Und doch gab es kein Entkommen.

Am Schluss bestand mein Ernährungsplan aus Gurke und Hagebuttentee. Dann strich ich die Gurke. Schliesslich reduzierte ich den Tee, weil sich der Bauch danach wölbte. Erinnerst du dich noch an den Sommer, als wir zu einem Alpfest gingen? Es waren 28 Grad und ich fror. Und ich war müde. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Mehr war da wohl auch nicht mehr.

Kurz darauf ging ich zu unserem Hausarzt und sagte zu ihm:

„Ich kann nicht mehr. Ich komm da nicht mehr raus. Helfen Sie mir. Ich will ins Krankenhaus.“

Er hat mich eingewiesen. Du hast mich hingefahren. Bliebst bei mir, bis sie dich wegschickten. Der Abschied hat uns beiden wehgetan. Weisst du noch? Ich sah es in deinem Blick. Und doch: Wir waren voller Hoffnung. Jetzt würde alles gut.

(„Alles aus Liebe“, XXXIV)

Eine Geschichte: Zerstörung (XXXIV)

Lieber Papa

Erinnerst du dich an Käsli? So nanntest du ihn immer. Das war leider das einzige, was mich im Zusammenhang mit ihm zum Lachen brachte. Er war ein Sadist. Und mein Lehrer. Er schikanierte mich, wo er nur konnte. Er demütigte mich. Im Sport kam er auf seine Kosten, denn da bot ich eine perfekte Zielscheibe. Aber er fand auch andere Wege.

Wie oft kam ich weinend nach Hause. Verzweifelt. Wollte nicht mehr in die Schule. Wie oft bist du in die Schule, hast mit ihm gesprochen, weil du mir helfen wolltest. Es half nichts. Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Das Schlimmste war, dass er mich vor der Klasse blossstellte. Und alle lachten. Vor allem im Turnunterricht. Er stachelte sie an und sie machten in der Umkleide weiter. Hänselten mich. Ich sei ein Mehlsack.

„“Kein Wunder ist dein Bauch so dick, du bist ja auch ständig am Essen.“

Das sagte das dünnste Mädchen der Klasse. Sie war auch die sportlichste von allen. Wenn ich heue Fotos von damals anschaue, war ich alles andere als dick. Ich war nicht knochig, aber normal. Gross halt. Und mit den ersten Kurven. Gefühlt habe ich mich wie ein Schwabbelkloss nach solchen Aussagen. Und dieses Gefühl breitete sich in mir aus. Ich wollte dünn sein. Die Rundungen mussten weg. Ich schämte mich. Für meinen Körper. Für meine Unsportlichkeit. Für mich. Ich wollte das ändern. Leider wusste ich damals nicht, was ich heute weiss.

Ich fand eine Verbündete und gemeinsam begannen wir, Diäten auszuprobieren. Die erste war, dass man ab 16 Uhr nichts mehr essen darf. Bis dahin kauten wir uns durch alles, was uns schmeckte: Salzstangen, Chips, Brot, Nüsse, Käse, Kekse und wohl so einiges mehr. Punkt 16 Uhr räumten wir zusammen. Euch erzählte ich wohl, ich hätte schon bei Celine gegessen. Ich weiss nicht mehr, wie ihr darauf reagiert habt. So oder so: Der Erfolg dieser Diät blieb aus. Es kamen weitere mit demselben Erfolg.

Blieb nur eines: Ich musste mein Essen reduzieren. Auswärts ass ich nichts mehr, euch erzählte ich, ich hätte schon gegessen. Hatten wir Auseinandersetzungen deswegen? Wie kam ich damit durch? Ich habe es vergessen. Dann wurde ich Vegetarierin. Ausgerechnet ich, die Fleisch immer so geliebt hat. Dadurch konnte ich einen grossen Teil des Essens weglassen. Ein geschickter Kniff, wie ich fand. Was habt ihr gedacht? Ich weiss, dass du es nicht verstanden hast. Du machtest immer wieder entsprechende Bemerkungen. In Humor verpackt. Der Kern war wohl ernst. Dachtet ihr, es sei eine frühpubertäre Flause, die sich wieder gibt?

Erste Erfolge stellten sich ein. Ich kam meinem kurvenlosen Ideal näher, erreichte es aber nicht. Der Blick in den Spiegel zeigte deutlich: Ich musste mehr tun. Fast schien mir, ich sei dicker geworden, obwohl die Waage weniger anzeigte. Merkwürdig, aber: Spiegel lügen nicht.

Ich ass noch weniger. Ich machte Listen mit verbotenem (sehr lange Listen) und erlaubtem (immer kürzer werdende Listen) Essen. Ich war gut. Ich war diszipliniert. Nur manchmal schielte ich sehnsüchtig auf all die verschmähten Dinge. Dann sah ich die Lösung: Im Fernsehen kam ein Film über ein Mädchen, das ass, was es wollte, ohne zuzunehmen. Was für ein Wunder. Immer nach dem Essen kotzte sie sich die Seele aus dem Leib und joggte dann fast bis zum Umfallen. Rennen war Sport, also nicht meins. Ich versuchte es mit dem Kotzen. Bis dahin war Erbrechen mein grösster Horror gewesen, da ich es aus der Kindheit kannte von all den Magen-Darm-Geschichten, für die ich anfällig gewesen war. Das nun freiwillig auszulösen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Aber: Was tut man nicht alles. Ich gab mir Mühe. Und kriegte es nicht hin.

Das viele Essen war logischerweise kein Problem, die Probleme fingen danach an: Nun müsste ich den Finger in den Hals stecken. Ich stellte mir vor, wie dann diese saure Sauce über meine Hände plätscherte. Das war zu eklig. Das war unmöglich. Aber dieses ganze Essen musste raus. Was machte ich denn nun? Ich fühlte mich wie ein Klumpen. Fett. Ich war wütend. Ich hätte alles um mich kurz und klein schlagen, alles kaputt machen können. Mich am liebsten mit. In mir wurde eine Stimme immer lauter:

„Nicht mal das kriegst du hin. Nicht mal zu den einfachsten Dingen bist du fähig.“

Diese innere Vernichtung dauerte lange an. Irgendwann hast du mich weinend gefunden. Du hast mich getröstet, auch wenn du nicht verstanden hast, worum es geht. Wie hättest du das auch können? Ich verstand es doch selbst nicht. Ich hatte den Zugang zu mir verloren. Da war nur Leere. Und Trauer. Und Wut. Ich habe dir in dieser Zeit wohl oft weh getan. Das tut mir heute leid. Du hast dir Sorgen gemacht. Das weiss ich. Du fühltest dich hilflos. Auch das weiss ich. Wusste es schon damals. Und kam doch nicht aus meiner Haut. Ich war in etwas geraten, das grösser war als ich.

(„Alles aus Liebe“, XXXIV)

Eine Geschichte: Es recht machen (XXXII)

Lieber Papa

Ich liebte Bücher. Erinnerst du dich? Ganze Nachmittage konnte ich auf dem Bett liegend mit einem Buch in der Hand verbringen. Ich liebte es, einzutauchen. In Geschichten. In andere Welten. Und vermutlich liebte ich auch, aus meiner flüchten zu können. Du fandest, ich müsse mehr raus. Ich könne mich nicht nur zu Hause einschliessen und lesen. Das sei nicht gut für mich. Also ging ich raus.

Ich fand etwas, das mir Spass machte: Das Eisfeld. Anfangs noch sehr zögerlich auf den Kufen, lernte ich sehr schnell immer schnellere Kurven zu drehen. Die Mädchenschlittschuhe mussten bald Hockeystiefeln weichen. Wir spielten fangen. Ich war schnell. Und gut. Eigentlich merkwürdig. Ich die Sportspfeife.

Aus den Boxen dröhnte Musik. Immer die gleichen Lieder. Ich liebe sie noch heute. Sie bringen mir ein Stück Glück zurück. Ich schwebte übers Eis, fühlte mich frei. Unbeschwert. In meinem Element. Alles andere war weit weg. Ich fand schnell Anschluss. So ungewohnt. So schön. Da war dieser eine Junge. Er war schon älter. Er war der Schnellste und Beste auf dem Eisfeld. Und: Er mochte mich. Mich…

Tagsüber fuhr ich mit dem Rad zum Eisfeld. Ich sehe den Weg noch vor mir. Nach einer kurzen Strecke auf der Strasse führte er über Felder, an Schreibergärten vorbei, durch kleine Quartiersträsschen. Ich bin ihn so oft gefahren. Immer voller Vorfreude. Ich fühlte mich lebendig. Ich gehörte dazu. Das war so neu. Angekommen sprang ich vom Rad, packte meine Sachen, rannte hinein. Ich konnte es kaum erwarten.

Ab und zu durfte ich auch abends aufs Feld, allerdings nicht mehr mit dem Rad. Du fandst das zu gefährlich. Du hast mich mit dem Auto gebracht und später wieder geholt. Ich erinnere mich nicht mehr an diese Fahrten. Nur daran, dass es manchmal eine Predigt gab. Darüber, dass ich zu viel rausgehe. Zu wenig an die Zukunft denke. Zu wenig für die Schule täte. Vielleicht mehr lesen sollte.

Erinnerst du dich an den einen Abend? Ich fragte dich, ob du mich fährst. Du sagtest ja. Doch dann fingst du an. Fandst, ich verschwende mein Leben. An die falschen Leute. Dieser Junge zum Beispiel. Der tauge nichts. Er erinnere dich an die besten Tänzer früher. Mehr Schein als Sein. Die hätten später im Leben nichts erreicht. Du sprachst von falschen Vorbildern und unnützen Freunden, davon, wie man sein Leben vergibt, wenn man die falschen Prioritäten setzt. Und noch viel mehr. Während du so sprachst, zogen wir uns an. Und dann war mir die Lust vergangen

„Du kannst die Jacke wieder ausziehen. Ich möchte nicht mehr gehen.“

Sagte ich.

„Wir haben gesagt, wir gehen, nun gehen wir.“

Sagtest du.

„Aber ich habe keine Lust mehr nach all dem.“

Wir sind gefahren. Und schwiegen. Als wäre alles gesagt.

Während ich das schreibe, kommt mir das Abba-Lied „When all is said and done“ in den Sinn.

(„Alles aus Liebe“, XXXII)

Eine Geschichte: Geheimnisse (XXXI)

Lieber Papa

Ach Papa, wer warst du wirklich? Manchmal denke ich, ich habe dich gar nicht richtig gekannt. Habe ich nicht gut genug hingeschaut? Oder wolltest du dich nicht zeigen? Wieso? Was hast du versteckt? Was war nur Schauspiel? Was echt?

Ich wusste als Kind nichts von deiner Vergangenheit. In späteren Jahren hast du ab und zu etwas erzählt, meist Oberflächliches. Lustiges. Nie Tiefes. Oder Persönliches.

Gotti hat mir ein paar Bruchstücke erzählt. Als deine ältere Schwester kannte sie dich länger. Aber auch sie wusste nur, was man von aussen sah. Ich weiss nicht mehr, wie wir dazukamen. So erfuhr ich von einem düsteren Kapitel aus deinem Leben. Dinge, die du nicht lachend weggesteckt hast. Du hast nie davon gesprochen. Wieso? Hast du dich geschämt? Ging es mich in deinen Augen nichts an? Hast du es verdrängt?

Was sie erzählte und was ich erlebte, passte nicht zusammen. Es liess sich nicht in Einklang bringen. Als ob hinter deiner heutigen Maske ein vergangenes (echtes?) Gesicht verborgen wäre. Verbogen für alle anderen. Auch für mich. So hast du alle auf Distanz gehalten. Auch mich. Das fühlt sich nicht schön an. Ein Teil deiner Maske war das Schweigen. Etwas, das du in deiner Familie gelernt hast.

„Darüber spricht man nicht.“

Was nicht gesagt wurde, existierte nicht. Präsentiert wurde nur die glatte Oberfläche. Die, welche man auf Hochglanz poliert hatte. Was störte, wurde unter den Teppich gekehrt. Stillschweigend. Einvernehmlich. So sollte es sein. Die Teppiche waren geräumig. Ganze Menschen hatten unter ihnen Platz. Zum Beispiel Grossvati. Vom verehrten Familienoberhaupt zur Persona non grata. Von heute auf morgen.

„Wir sprechen nicht mehr über Grossvati.“

Hiess es.

„Was ist passiert?“

„Das tut nichts zur Sache.“

Die Botschaft war klar. Das Thema war durch. Was folgte, war Schweigen. Zu dem Zeitpunkt war er schon viele Jahre tot. Es war ein Sockelsturz post mortem. Er starb quasi zum zweiten Mal. Ich verstand nicht, wie man einen Menschen erst lieben und loben und dann fallen lassen konnte. Ich habe auf all meine Fragen nie eine Antwort bekommen. Es gab ein paar Andeutungen. Ich weiss nicht mehr von wem. Frauengeschichten, Schulden. Alles unzusammenhängend und vage. Ich hatte ihn gerngehabt. Es war, als ob ich das nicht mehr dürfte. Was mir bleibt, ist die Erinnerung. Ich erinnere mich an die Besuche bei ihm. Er sass in seinem Sessel. Schon schlecht auf den Füssen. Ich war noch klein. Ich krabbelte vor ihn, zog ihm seine Finken aus. Ganz schnell. Er schaute runter, als ob er mich vorher nicht gesehen hätte. Und dann lachte er. Er lachte so sehr, dass sein ganzer Körper wackelte. Und da war viel, das wackeln konnte. Ich habe es geliebt. Mehr Erinnerungen an ihn habe ich nicht.

Wer war Grossvati, bevor er Grossvati wurde? Ich weiss es nicht. Es hiess mal, er hätte gerne Geschichte studiert. Das Geld fehlte, also machte er eine Lehre. Als Metzger. Weil man da immer zu essen hätte. Das glaubte er. Der Beruf machte ihm keine Freude. Später wurde er Schlachtermeister am Schlachthof Zürich. Und er litt mit den Tieren mit. Ging jedes Wochenende hin und fütterte und tränkte sie, war bei ihnen. Dann war er Wirt. Hätte die Braunen aus dem Lokal geworfen. Trotz Drohungen. Das habt ihr stolz erzählt, als er noch ein Held für euch war. Auch das zählte nicht mehr.

Wie war er für dich als Vater? Wie war deine Beziehung zu ihm? Ich weiss nur, dass er dich mal mit dem Gürtel verprügelte und du dir dann geschworen hast, dein Kind nie zu schlagen. Das hast du gehalten. Und noch eine Geschichte hast du lachend erzählt. Vom Krieg. Als das Essen knapp war. Eines Tages hättet ihr Kaninchenbraten auf dem Tisch gehabt. Euch gefreut. Bis deine Schwester nach der Katze fragte. Und Schweigen zurückkam. Grossvati hatte die Katze geschlachtet, um euch etwas auf den Tisch zu bringen. Keiner hätte einen Bissen gegessen. Er sei wütend geworden. Ich vermute, auch traurig. War es nicht gut gemeint gewesen? Während ich das schreibe, frage ich mich, wann die Geschichte für dich lustig wurde. Das waren die Geschichten, die du erzählt hast. Es waren wenige. Wie ging es dir mit all dem? Das hast du nie erzählt. Auch später nicht. Wenn ich dich fragte, wie es dir geht, kam zurück:

„Es geht mir gut.“

Du zogst diese Worte morgens an wie eine Uniform und trugst sie durch den Tag. Du warst ein Meister der Tarnung. Du lehrtest auch mich, nie zu zeigen, dass es mir schlecht geht. „Von Menschen, denen es nicht gut geht, wendet man sich ab“, sagtest du. Ich war leider nie so gut in meiner Tarnung wie du. Gute Miene zum bösen Spiel? Lag mir nie. Selbst wenn ich mich bemühte und versuchte, so zu tun, als sei alles gut: Man sah mir das Gegenteil an. Wie oft hast du mich dafür gerügt.

„Trag dein Herz nicht immer auf der Zunge!“

Hast du gesagt.

„So will niemand mit dir zusammen sein!“

Hast du gesagt. Ich habe es geglaubt. Ich glaube dir bis heute. Will es einer doch, hat er nur noch nicht gemerkt, wie ich bin. Spätestens dann ist er weg. Deine Sätze, deine Überzeugungen, deine Lehren, sie begleiten mich durchs Leben.

Wie bist du eigentlich zu dem Schluss gekommen? Dass man Menschen nicht mag, die nicht immer fröhlich sind? Mochtest du sie nicht? Weil sie dich an deine düsteren Stunden erinnerten? Oder interessierte dich schlicht nicht, wie es anderen ging? Weil du an der Oberfläche bleiben wolltest? Fürchtetest du das Aufdecken deiner eigenen Tiefen? Was hat dich in deinem Leben so sehr verletzt, dass du die Entdeckung befürchtetest?

Und so trugst du eine Maske. Schafftest Distanz. Ich hatte Ahnungen, was dahinter versteckt sein könnte. Sicher war ich nie. Ich kam sprichwörtlich nicht an dich heran. So hieltst du alle auf Abstand. Wovor hattest du Angst? Dass Nähe dich verletzbar gemacht hätte? Vor neuen Wunden? Sogar bei mir? Ich habe dich geliebt. Und wäre dir gerne nah gewesen. Ich hätte deine Nähe gebraucht. Und kam nicht zu dir durch. Auch jetzt hast du dich mir wieder entzogen. Darum bleiben mir nur diese Briefe.

(„Alles aus Liebe“, XXXI)

Eine Geschichte: Gemeinsame Momente (XXX)

Lieber Papa

Als ich dir vom Sporttag erzählte, bei dem all das, was ich nicht kann, so zentral war, kam mir auch das Singen wieder in den Sinn. Der Vorfall mit der Mitschülerin, die meinte, mit meiner Stimme könne man nicht singen. Und wie mir das das Singen nachher verleidet hat.

Da dachte ich an dich. Als ich noch kleiner war, hast du manchmal für mich gesungen. Nicht ernst. Es war ein kleiner Spass zwischen uns. Kein In-den-Schlaf-Singen, eher eine Parodie. Wie habe ich es geliebt. Oft war es „Uncle Satchmo’s Lullaby“ von Louis Armstrong. Du hast beide Stimmen gesungen. Zuerst hoch und piepsig:

«Ich sag gute Nacht…»

und dann tief und brummig:

«And I say good night…»

“Die Sonne geht schlafen, der Tag ist vorbei…”

«When Uncle Satchmo sings his lullaby…”

Danach konnte ich mich vor Lachen kaum mehr halten. Du hast nämlich auch den Part der Trompete gesungen. Es war wunderbar. Und ich merke, wie sich ein breites Grinsen auf meinem Gesicht eingenistet hat, während ich das schreibe. Ich würde es gerne nochmals erleben.

Wenn ich Louis Armstrong höre oder ein Bild von ihm sehe, denke ich an dich. Und an Uncle Satchmo. Und an diese wunderben Momente, die nur uns beiden gehörten. Es ist schön, diese Erinnerung zu haben.

Ich möchte hier nicht mehr weiterschreiben. Das soll so stehen bleiben. Weil es so schön ist. Für mich. Erinnerst du dich auch?

(«Alles aus Liebe», XXX)

Eine Geschichte: Danke sagen (XXIX)

Lieber Papa

Sport war generell ein Horror für mich, ich mochte nichts daran. Am schlimmsten waren aber die Sporttage. Vor so vielen Leuten musste ich zeigen, was ich alles nicht kann. Du bist immer gekommen, wenn du es einrichten konntest.

„Dein Vater ist ja alt.“

Und

„Mir wäre es peinlich, wenn mein Vater an den Sporttag käme. Vor allem, wenn er sich so aufführte wie deiner.“

Als ich das von einer Klassenkameradin hörte, war es mir auch plötzlich peinlich.  Es stimmte schon, die anderen Väter waren viel jünger als du. Zudem: Was sollte man bei mir anfeuern? Von Bejubeln wollen wir gar nicht reden. Es war bekannt, dass ich eine Sportniete war. Der Lehrer wurde nicht müde, mir das immer wieder zu sagen. Am liebsten für einen Lacher bei meinen Mitschülern. Die Disziplin war dabei egal. Ich konnte nichts. Es fehlte mir an allem: Kraft, Schnelligkeit und Motivation. Ich hing wie ein Mehlsack an der Kletterstange, machte an Reck und Barren in etwa dieselbe Figur. Der geworfene Speer kam unweit meiner Füsse wieder runter und ich, wenn ich hochsprang, kriegte dieselben kaum vom Boden. Ein gefundenes Fressen für Herrn Käser, meinen Mittelstufenlehrer.

„Ach schaut, das Lama kommt auch noch ans Ziel.“

Das waren seine Worte am Ziel des 100-Meter-Laufs. Er mochte mich nicht. Ich hatte ihn mal im Deutsch korrigiert. Das zahlte er mir nun doppelt und dreifach heim.

Du wusstest, wie schlimm die Sporttage für mich waren. Du wusstest, dass ich mich schämte. Dass ich litt, weil ich all das, was ich nicht konnte, präsentieren musste und gemessen wurde – an anderen und mit Noten. Du wolltest mir beistehen. Nach der Aussage meiner Mitschülerin bat ich dich immer, nicht mehr zu kommen. Den Spott darüber noch obendrauf, das war zu viel.

„Die anderen sind nur neidisch, weil ihre Eltern nicht kommen.“

Das sagtest du und ich konnte es nicht glauben.

Und dann standest du da. Und feuertest mich beim Schnelllauf an, machtest mir Mut beim Hochsprung, jubeltest, wenn ich den Ball weiter warf als letztes Mal. Es war mir so peinlich. Das zog noch mehr Aufmerksamkeit auf mich, wo ich doch am liebsten im Boden versunken wäre. Und doch war da auch noch etwas anderes. Ich fühlte mich nicht ganz allein. Du warst da. Für mich.

Wenn ich nun zurückdenke, denke ich: Ich habe mich viel zu wichtig genommen. Als ob sich die ganze Welt für meine fehlenden Sportfähigkeiten interessieren würde. Die anderen waren sicher mehr mit sich als mit mir beschäftigt gewesen. Ein paar kritische Aussagen konnten mich verunsichern und alles drum herum negativ erscheinen lassen. Ich entdecke den Zug noch heute manchmal an mir.

Habe ich dir damals je gesagt, dass ich insgeheim froh war, dass du bei mir warst? Dass du sogar die kleinsten Erfolge als solche sahst und feiertest? Interessant. Da, wo ich nichts konnte, hattest du auch keine Erwartung. Da war kein Druck, ich habe dich nie enttäuscht. Im Gegenteil: Du hast mich getröstet, wenn es nicht gut gelaufen war. Hast mich aufgebaut, wenn ich niedergeschlagen nach Hause trottete. Nahmst mich bei der Hand und versuchtest, meine Welt wieder in Ordnung zu bringen.

Wenn ich das so schreibe, kommen mir die Tränen. Ich schäme mich für die späte Einsicht. Ich würde dir gerne sagen, dass ich es heute besser weiss. Dass ich dankbar bin für dein Dasein damals. Ich möchte dir sagen, dass es mir tief drin etwas bedeutet hat, ich es nur nicht zeigen konnte. Vielleicht habe ich es damals selbst nicht gespürt, weil alles andere so laut war und die leise Dankbarkeit zudeckte. Ich hoffe, du wusstest es trotzdem. Irgendwie.

(„Alles aus Liebe“, XXIX)

Eine Geschichte: Vom Erinnern (XXVIII)

Lieber Papa

Ich bin müde vom Schreiben, vom Erinnern. Vom Schreiben über das, was war. Ich frage mich, wieso ich es tue. Und dann erinnere ich mich an die Energie, die dieses Erinnern und das darüber Schreiben ausgelöst hat. Immer wieder. Als ich damit anfing, war es, als wäre ein Ventil aufgegangen und alles sprudelte aus mir heraus. Und nun steht da dieses grosse «Wozu»? Die Frage nach dem Sinn und dem Zweck eines solchen Unterfangens breitet sich in meinem Kopf aus und nimmt mir die Energie, lässt das Sprudeln versiegen.

Angefangen hat alles damit, dass ich verstehen wollte. Ich wollte verstehen, wer ich bin, wer ich geworden bin und wieso. Woher kommen all die Stimmen und Gefühle in mir? Worauf gründen all die Abwertungen und Selbstbezichtigungen, die ich mir immer wieder an den Kopf werfe?

Anfangs fühlte es sich wie eine Befreiung an, alles aufzuschreiben. Doch dann kam eine Schwere, eine Trauer. Wo habe ich hineingestochen? Welches Wespennest habe getroffen? Zerstöre ich gerade etwas, weil ich durch die Sprache zu viel ans Licht hole? Wäre es ungesagt nicht an einem sicheren Ort verstaut, unsichtbar, quasi ungeschehen und nicht vorhanden? Nur: Das stimmte offensichtlich nicht. Es war ja da. Und trieb mich um. Da war etwas in mir, das mein Tun, mein Sein prägte. Es tat dies teilweise auf eine Weise, die mir immer wieder selbst das Leben schwer machte. Und ich konnte es nicht benennen. Es wütete aus dem Verborgenen heraus und hatte eine Kraft, der ich mich oft nicht widersetzen konnte. Ohne zu wissen, woher diese kam.

Unsere vermeintlich heile Familie hatte ihre Schattenseiten. In unserem Haus gab es einen dunkeln Keller und viele Teppiche, unter die zu viel geschoben worden war. Dinge, über die man nicht sprach. Alles, was nicht genehm war, kam dahin. Ganze Familienmitglieder fanden ihren Platz dort. Das war nicht nur bei uns dreien so. Das war in der ganzen erweiterten Familie so. Und irgendwann wurde auch ich darunter gekehrt. Weil ich nicht mehr ins Bild passte.

So weit bin ich noch gar nicht in meinem Erinnern. Und doch drängt es immer wieder herein. Ich weiss, dass ich dahin kommen werde, wenn ich weiterschreibe. Ich überlege, ob ich es auslasse. Drum herum schreibe. Weil es nicht schön ist. Weil es schmerzt. Weil ich mich schäme. Auch vor mir. Weil ich es verbergen möchte. Weil ich mich nicht vor allen schämen möchte. Doch dann ist es nicht mehr meine Geschichte.  

Schreiben braucht Mut. Es holt ans Licht, macht sichtbar. Ich werde diesen Mut aufbringen. Später.

(«Alles aus Liebe», XXVIII)