Ein ganz normaler Abend

Sie sah ihn nur an. Sie sagte nichts. Er wurde verlegen unter ihrem Blick, schwieg aber auch. Sein Blick schweifte umher. Mit dem Zeigfinger fuhr er sich über die Lippen, als ob er Krümel wegwischen wollte, die nicht da sein konnten. Er hatte nichts gegessen. Sie kannte diese Geste gut. Er machte sie oft. In ähnlichen Situationen. Man konnte aus der Geste ablesen, wie er sich fühlte. Sie konnte es ablesen. Aus allen seinen Gesten. Es fühlte sich vertraut an, von jemandem zu wissen, wie er sich verhält bei bestimmten Gefühlen. Ein Gefühl der Nähe kam in ihr auf. Sie wollte das nicht. Sie war wütend. Oder wollte sie es nur sein?

Er hatte ein liebes Gesicht. Sie kam nicht umhin, das zu denken, als sie ihn so ansah. Immer noch schweigend. Über die Jahre waren mehr weisse Haare zu seinen dunklen gekommen. Zeichen der Zeit, die gesehen werden wollen. Er hatte grosse runde Augen. Sie verliehen ihm immer etwas Hilfloses, Verlorenes. Rette mich. Ich brauche dich. Das stand irgendwie auch jetzt in seinem Blick. Oder las sie es nur hinein? Über die Jahre hatte er zugelegt. Alles war rund an ihm. Weich. Er auch mit sich selber. Nur mit ihr war er hart. Manchmal. Und es erschloss sich ihr nicht, wie jemand so Weiches so hart sein konnte. Sie mochte das Weiche nicht. Das Harte noch weniger. Manchmal dachte sie, sie wisse selber nicht, was sie mag.

Sie fühlte eine Trauer aufsteigen. Dachte zurück. An Momente, Augenblicke, Situationen. Sie dachte an Liebe, an ihren Beginn. Sie dachte, wie alles mal war und was hätte sein können. Sollen. Sie dachte daran, was sie sich erträumt hatten, was sie sich gewünscht hatten. Hatte sie es nur gewünscht? Oder nur er? War einer mitgezogen? Es erschien so bunt, so erreichbar, so realistisch damals. Wo waren sie gelandet?

Sie sassen an diesem Tisch in dieser Wohnung und schwiegen. Sie hatten sich viel zu sagen und hatten sich schon viel zu viel gesagt. Sie hatten sich Dinge gesagt, die sie nie hätten sagen wollen, nie hätten sagen sollen – und doch waren sie gesagt. Sie hingen in der Luft und klangen nach. Sie klangen aus allen Poren. Sie klangen aus seinen Gesten, aus seinem Blick, der in die Ferne ging. Und sie hingen ihr in der Brust.

Wie sollte es weiter gehen? Konnte es weiter gehen? Müsste es weiter gehen? Was würde es helfen, wenn dies nun das Ende wäre? Was käme danach? Was kommt nach dem Ende? Wo geht man dann hin? Sie sass da und schaute ihn an. Sie wünschte sich, er würde was sagen. Sie wünschte, er hätte eine Lösung, die er ihr präsentieren könnte. Und sie wusste, was immer er auch sagte, sie würde es zurück schmettern, würde ihn einen Besserwisser nennen, würde wütend sein, weil er Lösungen präsentierte, während sie keine mehr sah. Und weil sie wütend sein wollte. Auf sich. Auf ihn. Aufs Leben.

Er fragte nur leise: „Worum geht es hier eigentlich?“

Sie hatte keine Ahnung.

Robert Walser (*15. April 1878)

Am 15. April 1878 kommt Robert Walser in Biel zur Welt, besucht ebenda die Schule und macht später eine Banklehre. Nach einer kurzen Anstellung in Basel zieht Robert Walser 1895 nach Stuttgart, wo er sich als Schauspieler versuchen will, was allerdings ohne Erfolg bleibt. Schon damals ein guter Wanderer läuft er zurück in die Schweiz und landet schliesslich 1896 in Zürich. Es folgen diverse Anstellungen als Schreibkraft.

1898 erscheinen erste Gedichte Walsers in der Berner Zeitung Der Bund. Durch sie wird man ausserhalb der Schweizer Grenzen auf ihn aufmerksam und er wird auch in der Zeitschrift Die Insel publiziert mit seinen Gedichten. Obwohl er durch diese Publikationen in Kontakt mit den literarischen Kreisen Münchens kommt, bleibt er vorerst in Zürich wohnen, wo er Militärdienst leistet 1905, danach zunächst als Gehilfe bei einem Ingeneur arbeitet, schliesslich eine Ausbildung zum Diener macht und eine kurze Zeit als ebensolcher arbeitet auf Schloss Dambrau in Oberschlesien. Auch diese Karriere ist nicht von Dauer, 1906 verschlägt es ihn nach Berlin, sein Bruder Karl lebt da und macht ihn mit den ansässigen Literaten- und Künstlerkreisen bekannt.

In dieser Berliner Zeit entstehen Walsers Romane Geschwister Tanner, Der Gehülfe und Jakob von Gunten. Diese wie auch kürzere Prosatexte kommen in der Literaturszene bei Autoren wie Hesse, Kafka oder Tucholsky ausnehmend gut an, der Zugang zu einem breiteren Publikum blieb ihm aber verwehrt. Leben kann er von seiner Schreiberei kaum. 1913 zieht Walser in die Schweiz nach Biel zurück, es entstehen weitere kleine Prosastücke, die sowohl in Zeitungen wie auch in kleinen Bänden erscheinen. Neben dem Schreiben ist es vor allem das Wandern, das Robert Walser begeistert. Ganze Tage und auch Nächste wandert er durch die Gegend, verarbeitet diese Eindrücke auch in seinem literarischen Werk. 1921 zieht Walser nach Bern, in dieser Zeit entstehen viele Entwürfe zu Gedichten, Prosastücken  und sogar ein Roman. Alles in millimeterkleiner Schrift, die nur selten mit Tinte ins Reine geschrieben wird und so lange nicht zu entziffern ist.

1929 verstärken sich Robert Walsers gesundheitlichen Probleme, er leidet zunehmend an Angstzuständen und Halluzinationen, hört Stimmen. Er kommt in die Heilanstalt Waldau bei Bern, wo er weiter schreibt, immer noch Miniaturen, wie er seine Entwürfe in Millimeterschrift nennt. 1933 wird Robert Walser gegen seinen Willen nach Herisau in die dortige Heil- und Pflegeanstalt übersiedelt. Er hört auf zu schreiben, behält nur noch die Liebe zu ausgedehnten Spaziergängen bei. Auf einem solchen stirbt er am 25. Dezember 1956 an einem Herzschlag.

Werk und Wirkung

Robert Walsers literarisches Werk greift sehr stark seine beruflichen Erfahrungen auf. Das Angestelltentum sowie auch das Dienen sind Motive, die sich in verschiedenen seiner Werke aufgreifen lassen. Auch die ausgedehnten Spaziergänge finden ihren Niederschlag in der Literatur.  In einer ab und an naiven Sprache und auf spielerische Art greift Robert Walser zudem die Umstände seiner Zeit auf und unterlegt den oberflächlich heiter wirkenden Werken eine zweite Ebene, die von den existentiellen Ängsten der damaligen Zeit spricht und auch auf eine sehr feine Beobachtungsgabe der Gesellschaft schliessen lässt.

Obwohl Robert Walser in literarischen Kreisen hoch geschätzt wird, kann er beim breiten Publikum nicht Fuss fassen. Er fühlt sich als Versager, was seine von Natur schon zu Depressionen neigende Verfassung unterstützt.

Erst in neuerer Zeit wird Walser wieder entdeckt und die Grossartigkeit seines literarischen Werkes auch von einem grösseren Kreis erkannt. Leider sind einige seiner Werke verschollen, darunter mindestens drei Romane sowie auch Prosastücke und Gedichte. 1960 erscheint die von Jochen Greven editierte Gesamtausgabe, welche die vorher verstreut publizierten Werke vereint. Noch heute kommen immer wieder neue Funde ans Tageslicht.

Gelassenheit
Seit ich mich der Zeit ergeben,
fühl’ ich etwas in mir leben,
warme, wundervolle Ruh!

Seit ich scherze unumwunden
mit den Tagen, mit den Stunden,
schliessen meine Klagen zu.

Und ich bin der Bürd entladen,
meiner Schulden, die mir schaden,
durch ein unverblümtes Wort:
Zeit ist Zeit, sie mag entschlafen,
immer findet sie als braven
Menschen mich am alten Ort.
(Robert Walser, in: Die Gedichte, Suhrkamp Verlag)

Werke von Robert Walser

  • Geschwister Tanner (1907)
  • Der Gehülfe (1908)
  • Jakob von Gunten (1909)
  • Prosastücke (1916/17)
  • Der Spaziergang (1917)
  • Kleine Prosa (1917)
  • Seeland (1920)

Michael Stavarič: Böse Spiele

Ein Mann liebt eine verheiratete Frau. Mit ihr könnte er sich alles vorstellen, was er sich sonst im Leben nicht vorstellen kann. Sie ist die richtige Frau für ihn, nur: Sie ist nicht frei. Eine Frau liebt diesen Mann, sie könnte sich mit ihm alles vorstellen, weil er für sie der Mann überhaupt ist. Allein: Er ist nicht frei. Der Mann wartet, weil er ein Mann ist, der warten kann, die Frau wartet, weil sie eine Frau ist, die warten kann. Das Ganze unter Plastikpalmen mit verschiedenen Farben, je nach Situation und Stimmung.

Am nächsten Tag stehen wir unter einer schwarzen Plastikpalme, sie trägt ihr Herz links, wo es hingehört, und ich spinne meines in Trauerflor, trage schwer daran, dass sie eine vollkommene Frau ist und ich nur ein passabler Mann.

Michael Stavarič erzählt die komplizierte Geschichte von menschlichen Beziehungen. Gefühle, die hochschlagen und tief fallen, Menschen mit Träumen, Hoffnungen, Phantasien und Zwängen. Liebe, die gelebt werden will und scheitert, Betrug, der schön geredet wird, schmerzt und doch bittersüss ist. Es ist eine Geschichte direkt aus dem Leben, erzählt, wie sie passiert, mit allen Wirrnissen, Hindernissen, Verstrickungen und Verzweiflung, die doch voller Hoffnung steckt. Eine Geschichte, in der alle dasselbe wollen, sich allerdings in ihrem Wollen nicht finden, weil immer etwas im Weg steht.

Dass sie die Vollkommenheit liebe und ich meine Freiheit, dass ich aufhören müsse zu glauben, ich könne noch etwas zum Besseren wenden.

In einer teilweise lyrisch anmutenden Sprache beleuchtet Michael Stavarič die menschlichen Abgründe, die Lebenslügen und Spiele mit Gefühlen. Leitmotive führen durch den Roman, verleihen ihm eine innere Kohärenz, die auf allen anderen Ebenen zu fehlen scheint. Erzählerperspektive, Realitätsebene, Zeitstruktur – alles ändert, sprungartig, augenblicklich. Der Leser pendelt zwischen Innensichten und Dialogen, zwischen Erzählung und Wünschen hin und her und sieht sich immer wieder denselben Motiven ausgesetzt.

Böse Spiele besticht durch eine plastische Sprache, durch eine Lebendigkeit in Form und Stil. Bildhaftigkeit ersetzt blosse Beschreibung, Farben drücken Stimmungen aus, wiederkehrende Refrains erzeugen eine Melodie. Literatur erscheint hier als Komposition aus Tönen, Bildern und Stimmungen.

Fazit:
Lyrische Prosa voller Brüche und Widersprüche, verwirrend und doch lebensnah. Eine lohnende Herausforderung.

Zum Autor
Michael Stavarič
Michael Stavarič wurde am 7. Januar 1972 in Brünn geboren und kam mit 7 Jahren aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich. Er studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik. Neben vielfältigen anderen Anstellungen arbeitete er auch als Rezensent für Die Presse sowie das Wiener Stadtmagazin Falter sowie als Gutachter für tschechische Literatur bei verschiedenen Verlagen. Michael Stavarič lebt heute als freier Schriftsteller in Wien. Er schreibt neben Romanen auch Gedichte, Essays und Kinderbücher, besticht dabei immer durch eine sehr kreative Sprache. Von ihm erschienen sind u. a.  Flüggellos (Gedichte, 2000), Böse Spiele (Roman, 2009), Brenntage (Roman, 2011), Gloria nach Adam Riese (Kinderbuch, 2012).

StavaricSpieleAngaben zum Buch:
Taschenbuch: 155 Seiten
Verlag: C.H.Beck (21. Januar 2009)
Preis: EUR  16.90 / CHF 25.10

 

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