Rezension: Patrick Modiano – Gräser der Nacht

 

Was erinnern wir?

Niemand mehr, mit dem ich darüber reden könnte. Zwei oder drei noch lebende Zeugen müssten sich wohl finden lassen. Doch wahrscheinlich haben sie alles vergessen. Und ausserdem fragt man sich irgendwann, ob es wirklich Zeugen gegeben hat.

Jean, ein Schriftsteller, denkt zurück an die Zeit vor 30 Jahren, als er Dannie traf und sich verliebte. Er wusste nicht genau, woher sie kam. Sie schien mehrere Wohnorte zu haben und war sehr verschlossen, beantwortete ungern Fragen. Auch wusste er nicht genau, wie sie hiess, Dannie war wohl nicht ihr richtiger Name, aber er nannte sie so, weil sie ihm so vorgestellt worden war.

Dannie verkehrte mit mysteriösen Typen, die aus Marokko kamen oder Kontakte dahin hatten. Eines Tages wurde Jean sogar gewarnt, er solle sich fernhalten von diesen Menschen.

„Seien Sie vorsichtig! Die können Sie auf sehr schmutzige Wege führen. Ich rate Ihnen, die Verbindungen abzubrechen, solange noch Zeit ist.“

Jean fühlte die Gefahr nicht. Erst 30 Jahre später sieht er langsam die Zusammenhänge, erfährt, was wirklich passiert ist – aber vielleicht auch dann nicht wirklich.

So geht Jean durch die Zeiten, welche sich kreuzen und vermischen. Er liest seine Notizen von damals, die ihm Halt sind gegen das Vergessen. Er erlebt in Gedanken und Träumen nochmals die Vergangenheit und wandelt im Heute auf ihren Spuren.

Mir war als wie im Traum. Das passierte mir damals oft, vor allem nach Einbruch der Nacht. Müdigkeit? Oder jenes seltsame Déjà-vu-Gefühl, das einen ebenfalls aus Schlafmangel überkommt? Dan verschwimmt alles im Kopf, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, durch ein Phänomen der Überblendung.

Dieser Satz beschreibt eigentlich den Stil des ganzen Buches. Modiano zeichnet eine Geschichte, die sich über 30 Jahre erstreckt, bei der man nie genau weiss, in welcher Zeit man genau ist – oft weiss es nicht mal der Erzähler. Er pendelt zwischen Träumen, Erinnerungen und der Gegenwart, weiss oft nicht, was Traum, was Wirklichkeit ist. Er stellt Fragen, obwohl ihn die Antworten nicht zu interessieren scheinen, denkt an Menschen, obwohl sie ihm – so sagt er – alle gleichgültig sind.

Gräser der Nacht ist ein nachdenklicher Roman, ein Roman über Liebe, Lügen, Geheimnisse, Identität und Herkunft. Der Roman stellt fragen, wie es der Erzähler auch tut, die Antworten sind selten eindeutig. Modianos Sprache ist fliessend, fast schon monoton. Sie steht damit im Widerspruch zum wilden Durcheinander der Zeiten. Am Anfang kann dieses Monotone und doch Sprunghafte überfordern und auch langweilen. Es braucht seine Zeit, in die Geschichte reinzukommen, aber man sollte sie dem Buch geben, denn es lohnt sich. Einmal gepackt, taucht man ein und ungern wieder aus

Fazit
Die Geschichte fängt langwierig und verworren an, verstrickt sich, wird dichter und packt den Leser dann plötzlich, um ihn nicht mehr loszulassen. Also: Unbedingt durchhalten. Absolut empfehlenswert.

Zum Autor
Patrick Jean Modiano wurde am 30.7.1945 in Boulogne-Billancourt als Sohn einer flämischen Schauspielerin und eines jüdischen Emigranten orientalischer Abstammung geboren. Sein Vater lebte während der deutschen Besatzungszeit im Untergrund und schlug sich mit Schwarzmarktgeschäften durch. Modiano erlebte eine chaotische Nachkriegskindheit: häufige Abwesenheit der Mutter, früher Tod des Bruders und Trennung der Eltern. Modiano widmete sich schon früh dem Schreiben und bereits mit 21 Jahren beendete er seinen ersten Roman. Seitdem publizierte er zahlreiche Romane, Kinderbücher sowie Theaterstücke und Drehbücher. Mit seinem Roman „Eine Jugend“ wurde er in Deutschland bekannt. 2014 ist Modiano mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden. Der Autor lebt in Paris.

Angaben zum Buch:
ModianoGräserTaschenbuch: 184 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (22. April 2016)
Übersetzung: Elisabeth Edl
ISBN-Nr.: 978-3423144940
Preis: 9.90 Euro /14.90 CHF

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