«Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält…» (Tagebuch 1, 27)
Jemanden zu sehr zu kennen, bedeutet danach, dass das Lebendige einer Art Starre weicht. Wenn ich denke, jemanden durch und durch zu kennen, dann weiss ich, wie er ist, was er tut, ich muss nicht mehr hinschauen, mich nicht mehr interessieren, es steht alles fest.
«Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben, solang wir sie lieben.» (Tagebuch 1, 27)
Die Liebe führt dazu, immer weiterzugehen, tiefer zu tauchen, den anderen in seinem Sein zu durchschauen. Nur wird das nie gelingen, weil alles, was die Natur hervorbringt, unerschöpflich ist, schrankenlos, wie es Max Frisch ausdrückt «alles Möglichen voll».
Vielleicht ist es aber auch so, dass wir den kennen, den wir nicht lieben, weil wir nur soviel erkennen wollen, wie sich uns darbietet. Wir haben gar nicht den Wunsch, tiefer zu tauchen, immer mehr zu kennen. Wir sind weniger forsch forschend, eher zurückhaltend erkennend und annehmend. Die kleinen Eigenheiten, die tiefen Geheimnisse, sie offenbaren sich erst in der Nähe, deren grösste die Liebe darstellt.
