Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben

«Unsere Mutter sollte sich heimisch fühlen, denn, wie wir ihr im Laufe des Tages immer wieder sagten, hier wohnte sie jetzt, das war jetzt ihr «Zuhause», wogegen sie resigniert protestierte: «Nein, das wird nie mein Zuhause sein», dann: «Nein, das ist nicht mein Zuhause, bevor sie es leid war, dass wir sie scheinbar nicht verstanden, und sagte: «Jaja, ich weiss, aber es ist nicht dasselbe.»»

Didier Eribon erzählt von seiner Mutter, vordergründig, in Tat und Wahrheit erzählt er mehr von sich und seinem Verhältnis und Verhalten der Mutter gegenüber. Er liefert eine Sozialstudie dessen, was es heisst, alt und damit Minderheit zu sein. Er demonstriert, was es bedeutet, einer unteren Klasse zuzugehören, und welche Probleme damit verbunden sind.

«…mir wurde wieder einmal bewusst, wie befremdlich und nahezu unerträglich das sein kann, was man gemeinhin als «Familienbande» nennt. Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts. Ausser der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten.»

Und: er zeigt die Zerwürfnisse und Schwierigkeiten in Familien, vor allem dann, wenn es darum geht, Lösungen zu finden, an denen alle beteiligt sind und die alle in einer Weise betreffen. Neben der persönlichen Ebene dieses Buches gibt es auch die soziale, die politische. Didier Eribon verweist auf die Lage von alten Menschen in unserer Gesellschaft, auf ihr Übergangensein, auf ihre Stellung am Rande der Gesellschaft und dieser quasi nicht mehr zugehörig. Sie haben keine Stimme mehr, Entscheidungen werden oft über ihren Kopf hinweg und für sie getroffen. Es ist, so Eribon, dringend nötig, alten Menschen wieder eine Stimme zu geben, ihnen die Würde zu belassen, die ihnen zusteht.

«Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit.»

Eribon schaut unbarmherzig auf seine Beziehung zu seiner Mutter. Er sieht seine Versäumnisse, sein mangelndes Einfühlungsvermögen und auch die Vernachlässigung der Beziehung. Er war in seinem Weg der Abgrenzung von seiner Herkunft, damit, all das, was dafürstand, abzulehnen, so gefangen, dass ihm der Blick auf die anderen, das Einfühlen in ihre Position und ihren Umgang mit der Situation, verborgen blieb. Nein, all das blieb nicht einfach verborgen, er schaute bewusst weg.  

Eribon bleibt aber nicht beim Persönlichen stehen, er zeichnet auch ein Bild der Gesellschaft, wie sie war, vor allem auch für Frauen:

«Als Frau hatte man es schwer, Männer konnten machen, was sie wollen, Frauen nicht.»

Seine Mutter kam aus einer Zeit, in welcher Frauen wenig Rechte und Möglichkeiten hatten. Den Frauen und deren Entscheidungen ausgeliefert hatten sie den Platz einzunehmen, der ihnen zugewiesen wurde. Dies war vor allem in den unteren Klassen der Fall, in welchen generell wenig Spiel- und Freiraum zur Lebensgestaltung herrschte.

«Selbst wenn eine Ohnmachtserfahrung der Vergangenheit angehört, wenn sie längst in Vergessenheit geraten ist, hinterlässt sie unauslöschliche Spuren.» 

Auch wenn sich die Zeiten verändert haben, Frauen mehr Rechte bekamen, so sitzen die Spuren dessen, was war, doch tief. Ein neues Verhalten, eine neue Gewissheit für den eigenen Platz in der Gesellschaft ergibt sich nicht von heute auf Morgen. Zudem hat sich das Neue auch in den Köpfen anderer noch nicht vollkommen eingenistet, so dass Spuren vom Alten noch immer aktuell sind und damit auch erlebt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass mit der fortschreitenden Zeit eine weitere Schwierigkeit auftaucht, ein neues Stigma, welches den Stand in der Gesellschaft erneut schwieriger macht: Das Alter. Mit diesem einher geht eine weitere Diskriminierung, die erneute Erfahrung, nicht mehr zum aktiven Teil der Gesellschaft gezählt zu werden und nach und nach, wenn die Gesundheit entsprechend ist, in Zwangssituationen zu geraten, die man selbst nicht möchte.

«Der Umzug ins Altenheim ist… der Eintritt in eine erzwungene Gemeinschaft, der man sich schwerlich entziehen kann.»

Wer sagte nicht in jungen Jahren, dass er nie in einem Altenheim leben möchte, weil man damit wenig Positives verbindet. Diese Sicht verfestigt sich und ist nicht einfach weg, wenn der Zeitpunkt kommt, dass man es in Erwägung ziehen muss – oder dazu genötigt wird, es in Erwägung zu ziehen. Dieser Umzug ist nicht einer von vielen, er gleicht einem aus der Freiheit des eigenen Seins und Tuns in ein geregeltes System mit Vorschriften und erzwungenen Nachbarschaften.

«Wenn alte Menschen keine Stimme haben. Oder nicht mehr haben oder sogar, im Fall Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können – sind dann nicht andere angerufen, ihnen eine Stimme zu geben»?

Wir dürfen nicht wegschauen. Menschen sind Teil unserer Gemeinschaft. Immer. In jedem Alter, mit allen Fähigkeiten und Hindernissen. Oft vergessen wir die, welche sich nicht mehr wehren können. Wir lassen sie am Rand stehen. Vordergründig sind sie versorgt, doch was dieses «versorgt» wirklich bedeutet, blenden wir aus. Didier Eribon hat hingeschaut. Und er hat dieses Buch geschrieben. Er hält den Finger in die Wunde dieser Gesellschaft. Er gibt seiner Mutter eine Stimme, als diese keine mehr hat. Er gibt durch sie den Menschen eine Stimme, die keine haben. Damit wir sie hören. Und hinschauen.

Das Buch wurde von mir sehr erwartet und hatte damit wohl einen schweren Stand. Auch schwer war es, weil ich von den beiden vorher gelesenen Büchern «Rückkehr nach Reims» und «Gesellschaft als Urteil» mehr als begeistert war. Ich wurde, ich kann es gleich sagen, enttäuscht. Ob das nur der hohen Messlatte geschuldet war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber für mich war es sicher nicht Eribons bestes Buch. Trotzdem ist es absolut lesenswert und eine Empfehlung von mir.

Bücher meines Lebens – zum Weltbuchtag

«Denn ich ohne Bücher bin nicht ich.» Christa Wolf

Heute ist Welttag des Buches, damit irgendwie auch mein Tag, denn es geht mir wie Christa. Diese Liebe zu Büchern, die nun schon so viele Jahrzehnte anhält, ist die Konstante in meinem Leben. Bücher haben immer einen Halt gegeben, ein Zuhause war immer erst eines, wenn meine Bücher da waren. Bücher sind für mich Türen zu Welten. 

Jagoda Marinic hat die wunderbare Sendung «Bücher meines Lebens» auf Arte. Ich nehme das Konzept als Vorbild und präsentiere hier die Bücher meines Lebens, wohl wissend, dass dies eigentlich ein Unterfangen ist, das nie endgültig und abschliessend ist, da einige vielleicht wechseln, andere fehlen, weil es zu viele würden. Und doch ist die Auswahl hier durchaus richtig und wichtig. Die Reihenfolge ist dem Moment geschuldet, wie sie in mein Leben traten:

Thomas Mann: Doktor Faustus – ich habe im Rahmen meiner Masterarbeit 9 Monate mit Thomas Mann gelebt, seine Musik gehört, alle Bücher gelesen, Biografien, Filme, alles von und über ihn aufgesogen
Rainer Maria Rilke: Gesammelte Gedichte – ich habe das Buch geschenkt bekommen und wirklich jedes einzelne Gedicht gelesen und für mich durchdacht und «analysiert»
Hannah Arendt: Denktagebuch – diese Frau und ihr Denken haben mich immer fasziniert. 
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht – ein Klassiker einer Frau, die mich tief in ihren Bann gezogen hat
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims – dieses Buch war für mich der Augenöffner schlechthin, ich erfasste, wie meine eigene Reise weitergehen soll

Welches sind eure Lebensbücher?

Habt einen schönen Tag!

Gedankensplitter: Herkunft, die nicht vergeht

«Die lange verleugnete Wahrheit über das, was ich war, kam zu mir zurück und zwang mir ihr Gesetz auf.»

Wir kommen in diese Welt und sie schreibt sich in uns fest. Wir gehen unseren Weg, doch nehmen wir mit, was wir unterwegs auflesen. Jean Paul Sartre schrieb in seinem Stück Saint Genet:

«Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.»

Als Existenzialist vertrat er die Meinung, dass wir sein können, wer wir wollen, dass das Leben keinen Sinn hat ausser dem, den wir ihm zuschreiben durch unser Dasein. Und doch: Wir sind, wer wir sind, auch aufgrund dessen, woher wir kommen. Und diese Herkunft prägt unser Sein bis tief in unsere Gene, sie ist in unserer Haltung, unserer Sprache, unserem Denken eingeschrieben und wirkt sich da aus. Zwar können wir die Herkunft verlassen, doch los werden wir sie nie.

Als ich Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» las, kamen mir unter der Dusche spontan folgende Zeilen in den Sinn, so dass ich diese verliess, um sie sofort aufzuschreiben:

«Es gibt Bücher, die sind für dich geschrieben. Sie tragen Sätze in sich, die zu dir sprechen, weil sie gleichsam auch aus dir sprechen. Sie scheinen dazu geschrieben worden zu sein, dass du dich in ihnen erkennst und dir endlich erklären kannst, was du bislang nur gefühlt hast, aber nicht erfassen und einordnen konntest – oder dich nicht trautest, es zu tun.»

Müsste ich ein Buch nennen, das mir wichtig ist, das mir am Herzen liegt, das ich nicht missen möchte, es wäre dieses.

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Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Suhrkamp Verlag, 2023.

Die autobiografische Erzählung von Didier Eribon, welcher zu seinen Wurzeln im Arbeitermilieu zurückkehrt, aus dem er für lange Zeit geflohen war – körperlich und geistig. Eribon verwebt autobiografische Erlebnisse mit politischen, soziologischen und psychologischen Erklärungen, er zeichnet das Bild einer Zeit und einer Gesellschaft, erläutert politische Gesinnungen und Gesinnungswechsel, legt eigene Gedanken und Verhaltensmuster offen. Ein kluges, ein tiefes, ein bewegendes, ein wichtiges Buch. Ein Herzensbuch.