Bildbetrachtungen
„Es beginnt in der Schule, und man geht durchs Leben, indem man wiederholt, was andere gesagt haben. Ihr seid also Menschen aus zweiter Hand.“ Krishnamurti (Der Flug des Adlers)
Das klingt natürlich sehr ketzerisch, und doch ist in meinen Augen ein Funken Wahrheit dabei. In der Schule erzählt ein Lehrer seiner Klasse etwas und die Schüler müssen das glauben und lernen. So sagte Michel Bréal einst:
„Ein Professor ist ein Mann, der lehrt, was er nicht weiss.“
Gerade in der heutigen Welt, die sich in einem immer schnellen Tempo verändert, so dass keiner wissen kann, wo sie morgen stehen wird, ist es schwierig, wirklich sinnvolles und nützliches Wissen zu vermitteln. Einerseits ist es fraglich, ob das Wissen von heute morgen noch Gültigkeit hat, andererseits ist es noch unsicherer, ob das Wissen morgen noch von Bewandtnis ist. Zudem ist reines Wissen besser im Computer gespeichert und abrufbar, als in menschlichen Köpfen mit ihren Vergesslichkeiten.
Doch es soll hier nicht um Schulkritik gehen, sondern um ein Bild, nämlich Pieter Breughels ‚Der Blindensturz‘, ein Tempera-Gemälde von einer Grösse von 154 x 86 cm, gemalt 1568.
Eine Gruppe von sechs Blinden will in der Kirche um Almosen betteln. Sie machen sich auf den Weg, verfehlen aber den richtigen und irren in der Folge umher. Die sechs tragen diverse Utensilien bei sich, die darauf deuten, welche Funktion sie beim Betteln gehabt hätten. Einer hätte musiziert (ein Instrument unter dem Gewand), ein anderer gesammelt (der Teller am Gürtel). In einer Diagonale von links oben nach rechts unten stolpern die sechs dem Fall entgegen, der erste, der Anführer, liegt schon am Boden, der zweite ist schon im freien Fall, streckt noch die Hand aus, um zu versuchen, sich aufzufangen.
Das Bild ist in gedämpften Tönen und einer reduzierten Palette aus mehrheitlich Naturtönen gehalten, einzig ein roter Pullover und rote Socken bringen etwas Farbe hinein, wobei auch das Rot gedämpft ist.
Das Bild geht auf ein Gleichnis in der Bibel zurück, so heisst es im Matthäus-Evangelium:
„Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer. Wenn aber ein Blinder den anderen führt, so fallen sie beide in die Grube.“
Jesus meint damit die Pharisäer, die er als blinde Blindenführer sieht, welche das Volk in die Irre führen würden. Ein ähnliches Gleichnis findet sich nicht nur in der Bibel, sondern auch in indischen religiösen Schriften:
„So laufen ziellos hin und her die Toren, wie Blinde, die ein selbst auch Blinder anführt.“ (Katha Upanishaden)
Oder in den frühen buddhistischen Sutren des Pali-Kanon:
„Angenommen es gäbe eine Reihe blinder Männer, jeder in Berührung mit dem nächsten: der erste sieht nichts, der mittlere sieht nichts, und der letzte sieht nichts. Ebenso, Bhārdvāja, gleichen die Brahmanen, was ihre Behauptung angeht, einer Reihe blinder Männer: der erste sieht nichts, der mittlere sieht nichts, und der letzte sieht nichts“
Die Welt wird immer unübersichtlicher und manchmal findet man den richtigen Weg nicht. Wie froh ist man dann über jemanden, der einem zeigt, wo dieser entlangführt und wie man ihn gehen kann. Man vergisst dabei zwei Dinge: Wir wissen nicht, wie der andere seinen Weg gefunden hat und ob er wirklich richtig ist. Und: Es ist sein Weg, der für ihn funktionierte und ihn zu seinen Zielen führt. Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch hat eigene Ziele, die sich aus diesem So-Sein ergeben. Auch der Weg dahin kann nur ein eigener sein, einer, der einem entspricht.
„Du kannst von niemandem abhängig sein. Es gibt keinen Führer, keinen Lehrer, keine Autorität. Es gibt nur dich – deine Beziehung zu anderen und zur Welt.“ Krishnamurti (Einbruch in die Freiheit)
Zudem geben wir mit der Befolgung anderer Lehren die eigene Freiheit auf. Wir begeben uns in eine Abhängigkeit und verlernen nach und nach das eigene Denken und die die Fähigkeit, eigene Lösungen zu finden.
Manchmal stehen wir am Scheideweg, wissen nicht, welchen Weg wir nun nehmen sollen. Schlussendlich ist es wichtig, sich für einen zu entscheiden. Wie der andere gewesen wäre, werden wir nie herausfinden. Keinen zu wählen wäre aber die schlechteste Option. Wie schrieb Robert Frost in seinem wunderbaren Gedicht „The road not taken“:
„Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
…
I shall be telling this with a sigh
…
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.“
(Das ganze Gedicht findet ihr HIER
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Synchronizitäten führen bei mir immer noch zu starken Reaktionen. Als ich eben bei dir las: „Du kannst von niemandem abhängig sein. Es gibt keinen Führer, keinen Lehrer, keine Autorität. Es gibt nur dich – deine Beziehung zu anderen und zur Welt.“ Krishnamurti (Einbruch in die Freiheit)“, war solch ein Moment. Denn grad zuvor hatte ich eine Erfahrung der vergangenen Nacht in mein Büchlein notiert. Da raste ein Gewitter um unser Haus, und ich stand und starrte ein wenig beklommen hinaus, murmelte auch eine Art Gebet. „Und schlagartig wurde mir klar, dass ich selbst der Adressat meiner Worte bin. Ich sage sie, ich höre sie, sonst niemand. Ich allein bin verantwortlich für mich selbst. Es gibt nur mich. Zwar muss mein Herz dem Kosmos verbunden sein, damit ich verantwortlich handeln kann, aber da ist niemand, der mir etwas gebietet oder verbietet. Ich bin ganz allein und vollkommen frei. Niemand da oben straft, niemand hilft, niemand befiehlt. Nur untereinander sind wir Menschen rechenschaftspflichtig.“
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Danke fürs Teilen deiner Erfahrung. Was für eine Erkenntnis. Sie wirft einen auf sich selbst zurück und zeigt einerseits ein Alleinsein, aber ein Potential. Keiner hilft dir. Aber: Du kannst es selbst tun, denn du hörst deine Worte.
Das Zitat von Krishnamurti lief mir immer wieder über den Weg. Und ab und zu passierte etwas und ich erinnerte mich daran. Ab und zu vergesse ich es auch und rufe es mir dann hinterher wieder ins Bewusstsein. Ich finde es wichtig, sich immer wieder darauf zu besinnen, dass nur wir selber unsere Wege wählen und gehen können. Klar haben wir Hilfen, Wegweiser, auch mal Krücken, wenn es gar nicht anders geht. Aber er liegt schlussendlich doch in unserer Hand. Und irgendwie ist das gut so. Und wichtig.
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