#abcdeslesens – K wie Mascha Kaléko

Ein Leben auf der Flucht, ein Leben als Heimatlose, so könnte man Mascha Kalékos Leben beschreiben. Schon als Kind musste Mascha Kaléko immer wieder weiterziehen, die Heimat verlassen, eine neue finden. Immer wieder spürte sie das Gefühl der Heimatlosigkeit, der Haltlosigkeit, und auch den Drang, sich wieder neu einzurichten, zurechtzufinden.

Mascha Kaléko sprach nicht nur von einem Leben, sondern von deren sechs. Sie hat ihr Leben selber in sechs Etappen[1] eingeteilt:

Erstes Leben: Mascha allein
Zweites Leben: Mascha und ihr erster Mann, S. Kaléko
Drittes Leben: Mascha und ihr zweiter Mann, Chemjo Vinaver
Viertes Leben: Mascha, Chemjo und ihr Sohn Steven
Fünftes Leben: Mascha und Chemjo ohne Steven
Sechtes Leben: Mascha allein

und sie hat darüber ein Gedicht geschrieben:

Das sechste Leben

Eine Katze hat neun
Ich brachte es auf fünf
Das erste war keines
Aber das zählte fast doppelt.
Angst, Hunger, Dunkel
Dann kam die Liebe
Und der Tag schien wieder möglich

Leben Nummer zwei
Bootfahrt auf dem Wasser
Der Jugend.

Nummer drei begann, da hörte
Nummer zwei auf.
Sturm rüttelte am Dach
Die Seidendecke zerriss
Und wir lagen im Gras
Deckten uns zu mit der weissen Wolke
Auf blauem Grund.

Nummer vier begann damit, dass
Aus Zweien Drei wurden
Es war ein Märchen
Wunder schon zum Frühstück
Und Zauber am Abend
Wir ritten über das Weltmeer
Trockenen Fusses
Pfeile trafen dicht daneben
Die Glut versengte uns nicht
Wir flogen im Schatten der
Schutzengel-Schwingen

Alle drei die Gott liebte.
Dann nahm er uns das Kind
Schon war es ein Mann geworden
Ein Gott…

Und wieder allein, doch nicht
Wie zuvor, da zwei zu sein genügte…*

Gerade aber diese vielen Ortswechsel förderten auch etwas bei Mascha Kaléko, was ihr später zugutekommen sollte: Den Umgang mit Sprache. Aus der Überzeugung heraus, dass man weniger fremd an einem Ort ist, wenn man dessen Sprache spricht, eignete sie sich schnell die Berliner Mundart an und sie entwickelte ein feines Sensorium für die Mentalität der Menschen da. Es gelang ihr so, sich zu assimilieren, «einer von ihnen» zu werden, was ihr sehr wichtig war. Dieses Feingefühl für Menschen hört man ihren Gedichten an, eine pointierte Grossstadtlyrik entstand, die das ganz normale Leben damaliger Zeit beschrieb. Der Erfolg liess nicht lange auf sich warten, innerhalb weniger Jahre gehörte Mascha Kaléko zur literarischen Szene Berlins.

Frühling über Berlin

Sonne klebt wie festgekittet,
Bäume tun, als ob sie blühn.
Und der blaue Himmel schüttet
Eine Handvoll Wolken hin.

Grossstadtqualm statt Maiendüfte,
– Frühling über Gross-Berlin! –
Süse wohlbekannte Düfte…
Stammen höchstens von Benzin.*
(…)

Mascha Kaléko beschreibt in ihren Gedichten den ganz normalen Alltag, das ganze Leben angefangen von den Strassen in den Städten, hinein in die Büros der Arbeitswelt und weiter in die Schlafzimmer der einfachen Menschen. Mit klarem Blick und ebensolcher Sprache legt sie dem Leser ein Stimmungsbild vor, welches den Blick für die Realität öffnet.

Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich
Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.
Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:
Es klang nicht schön. – Mir schien es jetzt erklärlich,
Dass Eheleute nicht in Liebe glühn.

(…)

Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!
– Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauss,
Die Gläser, die wir gestern Abend leerten,
Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.
…Das alles sieht am Morgen anders aus.*

(…)

Mascha Kalékos Lyrik kurz beschrieben, gliche einem Rezept: Man nehme einen offenen Blick aufs Leben mit seinen Details aus dem Alltag, wähle einen lockeren Ton, füge eine Prise Humor dazu, und würze mit einer Spur Melancholie. Die Menschen erkannten sich wieder mit ihren Ängsten, Sorgen, Hoffnungen – wohl mit ein Grund für ihren Erfolg. Trotzdem hob sie nicht ab, wurde sie nicht übermütig oder gar überheblich. Im Gegenteil: Als ihr eine Zeitung das Angebot machte, jeden Montag ein Gedicht veröffentlichen zu können und dies sogar zu einem stattlichen Honorar, lehnte Mascha Kaléko ab – sie hatte Angst, dem nicht gewappnet zu sein:

«Dazu muss ich allerdings gestehen, dass ich an einer quälenden Furcht litt. Kaum, dass mir etwas Ordentliches gelungen war, so vermeinte ich, dies wäre das Letzte! Nie wieder würde mir derartiges glücken. Unter dieser Mysteriösen Qual litt ich anfangs unsäglich.»[2]

Nach gutem Zureden entschied sie dann doch anders und es kam zu den wöchentlichen Gedichten.

Mascha Kalékos Leben war mit vielen Schwierigkeiten gepflastert. Mit der tief gefühlten Entwurzelung durch die Flucht in der Kindheit fing es an, damit ging es später auch weiter. Als ihre Bücher von den Nationalsozialisten verboten wurden, emigrierten sie, ihr Mann und der gemeinsame Sohn über Frankreich in die Staaten. Wegen des ausbleibenden Erfolgs ihres Mannes, dem Dirigenten und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver, lag es an ihr, die Familie zu ernähren, was sie unter anderem mit dem Verfassen von Werbetexten machte, daneben schrieb sie Kindergedichte. Dass es in der Zeit zu vielen Streitereien zwischen den Eheleuten kam, machte alles noch schwerer.

«Ich gehe langsam aber sicher zugrunde. Ich weiss nicht, warum wir uns gegenseitig das Leben verbittern. […] ich fühle, wie alles zerbricht, was ich in meinem Innern aufgebaut hatte, und auch was im Äusseren begonnen hat, mein Leben zu sein, ist im Grunde nur eine Qual. […] leider ist er nicht der Mann für mich, neben ihm sterbe ich täglich einen neuen Tod. Ohne ihn würde ich nur einmal sterben. Aber dafür einen gründlichen Tod, von dem man nicht wiederkehrt. Ich möchte einschlafen, um nie wieder zu erwachen.»

Doch sie gab nicht auf, sie kämpfte weiter und irgendwann konnten sie auch wieder nach Deutschland zurück, wo endlich auch wieder Publikum für ihre Gedichte wartete, wo sie wieder aufblühen konnte. Doch es folgte der nächste Umzug: Ihrem Mann zuliebe zog sie mit diesem nach Jerusalem, wo sie sehr unter der sprachlichen und auch kulturellen Isolation litt, heimisch fühlte sie sich nie.

Der Fremde

Sie sprechen von mir nur leise
Und weisen auf meinen Schorf.
Sie mischen mir Gift in die Speise.
Ich schnüre mein Bündel zur Reise
Nach uralter Vorväter Weise.
Sie sprechen von mir nur leise.
Ich bleibe der Fremde im Dorf.**

Das Melancholische ihres Wesens wird stärker, nicht nur der Ton ihrer Gedichte wird pessimistischer, auch die Themen ändern sich: Einsamkeit, Aussenseitertum, Vergänglichkeit stehen nun im Zentrum.

Resignation für Anfänger

Suche du nichts. Es gibt nichts zu finden,
Nichts zu ergründen. Finde dich ab.
Kommt ihre Zeit, dann blühen die Linden
über dem frischgeschaufelten Grab.

Kommt seine Zeit, dann schwindet das Dunkel,
funkelt das wiedergeborene Licht.
Nichts ist zu Ende. Alles geht weiter.
Und du wirst heiter. Oder auch nicht.

Zwischen Vergehen und Wiederbeginnen
liegt das Unmögliche. Und es geschieht.
Wie und Warum waren nie zu ersinnen.
Neu erklingt dem Neuen das uralte Lied.

Geh nicht zu Grunde, den Sinn zu ergründen.
Suche nicht. Dann magst du ihn finden.*

Und dann schlug das Schicksal erneut zu, erst mit dem Tod des Sohnes, dann mit dem Tod ihres Mannes.

Auf Reisen

Ich gehe wieder auf Reisen
Mit meiner leisen
Gefährtin, der Einsamkeit.

Wir bleiben zu zweien einsam
Und haben nichts weiter gemeinsam
Als diese Gemeinsamkeit.

Die Fremde ist Tröstung und Trauer
Und Täuschung wie alles. Von Dauer
Scheint Traum nur und Einsamkeit.**

Ihre Schreibkraft flackerte nochmals kurz auf, ein produktives Jahr folgte, bis Mascha Kaléko 14 Monate nach ihrem geliebten Chemjo auch starb.


[1] zit. nach Gisela Zoch-Westphal: Aus dem Leben der Mascha Kaléko

[2] zit. nach Jutta Rosenkranz: Mascha Kaléko

_____
* zitiert nach „Die paar leuchtenden Jahre“ © 2003 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München – zu kaufen direkt beim Verlag: HIER

** zitiert nach „In meinen Träumen läutet es Sturm“ © 1977 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München – zu kaufen direkt beim Verlag: HIER