Das Auge
Die Welt ist eine große Seele
Und jede Seele eine Welt;
Das Auge ist der lichte Spiegel,
Der beider Bild vereinigt hält.
Und wie sich dir in jedem Auge
Dein eignes Bild entgegenstellt,
So sieht auch jeder seine Seele,
Sei eignes Ich nur in der Welt
(Emil Rittershaus, 1834 – 1897)
Kategorie: Kleine Poesie
ein letzter flügelschlag
Kleine Poesie: Wintermorgen
Kleine Poesie: Zu zweit allein
Du schaust mich an
und siehst mich nicht,
du kennst mich zwar,
und doch auch nicht.
Es ist dein Bild,
dass dir im Sinn,
und niemals ich,
so wie ich bin.
So gehen wir
den Weg zu zweit,
ein jeder fremd
und doch auch traut.
Und dann und wann
entdecken wir,
was Neues, das
noch nie da war.
So bleibt wohl viel
Geheimnis pur,
und Einsamkeit –
so eine Spur.
©Sandra von Siebenthal
Kleine Poesie: Sonnenfreude
Kleine Poesie: Kreise durchbrechen
Kleine Poesie: Tibetteppich

Else Lasker-Schüler: Ein alter Tibetteppich
Deine Seele, die die meine liebet
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet
Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.
Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausendabertausendweit.
Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzentron
Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.
Kleine Poesie: Deine Bestimmung

Die Bestimmung einer Rose ist es, Rose zu sein.
Deine Bestimmung ist es, du selber zu sein.
Renne nirgends hin, um jemand anders tu werden.
Du bist gut so, wie du bist.
(Thich Nhat Hanh)
Kleine Poesie: Die Liebe

Matthias Claudius: Die Liebe
Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel,
Und dringt durch alles sich;
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
Und schlägt sie ewiglich.
Kleine Poesie: Im hohen Gras

Joseph Freiherr von Eichendorff: Im hohen Gras
Im hohen Gras der Knabe schlief,
Da hört‘ er´s unten singen,
Es war, als ob die Liebste rief,
Das Herz, wollt ihm zerspringen.
Und über ihm ein Netze wirrt
Der Blumen leises Schwanken,
Durch das die Seele schmachtend irrt
In lieblichen Gedanken.
So süße Zauberei ist los,
Und wunderbare Lieder
Geh´n durch der Erde Frühlingsschoß,
Die lassen ihn nicht wieder.
Kleine Poesie: Herbstbild

Frierich Hebbel: Herbstbild
Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält;
denn heute löst sich von den Zweigen nur,
was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.
Kleine Poesie: Wie eine Blume

Heinrich Heine: Du bist wie eine Blume
Du bist wie eine Blume,
So hold und schön und rein;
Ich schau dich an, und Wehmut
Schleicht mir ins Herz hinein.
Mir ist, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt,
Betend, daß Gott dich erhalte
So rein und schön und hold.
Kleine Poesie: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
(Rainer Maria Rilke: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen)