Tagesgedanken: Haben und Sein

Früher sprach man von der Dritten Welt. Darin steckt eine Hierarchie von Welten, von den Siegerländern und den Verlierern, von denen, die etwas haben, und denen, die nichts oder zu wenig haben. Es steckt eine Arroganz in dieser Zuschreibung, die dem Missstand der Armut zu einem Versagen in westlichen Massstäben erklärt. Diese Massstäbe greifen auch innerhalb unserer Gesellschaften: Die Schere zwischen arm und reich ist nicht nur eine finanzielle, es ist auch eine soziale, eine der Zugehörigkeit. Klasse ist nicht einfach eine Hierarchie, sondern auch ein Indikator dafür, wo man hingehört, welche Möglichkeiten man hat und mit welchen Diskriminierungen man konfrontiert ist. Das Haben entscheidet über das Sein.

Weltlauf

Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazu bekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das wenige genommen.

Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben –
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur die etwas haben.

(Heinrich Heine)

Das Bild, man könne alles schaffen, wenn man sich nur anstrenge, ist noch in vielen Köpfen. Dieses Bild sorgt dafür, dass die, welche arm sind, oft mit Verachtung gestraft werden: Sie haben sich nicht genug angestrengt, sie sind selbst schuld an ihrem Schicksal. Das ist nicht nur eine stark vereinfachte Sicht auf die Welt, es ist auch eine ungerechte. Gründe für Armut können vielfältig sein. Krankheiten können eine Ursache sein, aber auch Alter, Herkunft, Geschlecht, familiäre Situation spielen eine grosse Rolle. Gerade aus diesem Grund wäre es dringend nötig, unsere sozialen Systeme zu überdenken und sie so anzupassen, dass kein Mensch aus dem sozialen Leben ausgeschlossen ist, weil er aus finanziellen Gründen nicht mehr daran teilhaben kann. Auch Bildung und Gesundheitsvorsorge hängen stark an der sozialen Klasse. Zu beiden sollte ein gleichberechtigter Zugang für alle geschaffen werden. 

Noch immer sind es mehrheitlich Frauen, die unter all dem leiden. Sie leisten mehr unentgeltliche Haushalts- und Betreuungsarbeit, sie werden schlechter entlöhnt (aus diversen Gründen, die im Detail klar zu definieren sind), sie erhalten weniger Rente (mehrheitlich aus den vorher genannten Gründen). Das geht alle an, nicht nur die Betroffenen. 

„Ich denke nicht, dass wir Zustände der Ungleichheit und Ungerechtigkeit ändern, wenn sie immer nur von denen kritisiert werden dürfen, die darunter am meisten zu leiden haben. Unrecht muss von allen, von jede rund jedem, kritisiert werden, ganz gleich, ob es einen selbst oder die eigene Familie bevorteilt oder nicht.“ (Carolin Emcke)

Eigentlich geht es nicht um Mann oder Frau, es geht darum, dass wir in einem System leben, das nicht gerecht ist. Nur wirkt sich dieses System aktuell mehrheitlich auf Frauen aus, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte unterdrückt und ausgebeutet wurden und heute noch werden. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der keiner unterdrückt oder ausgebeutet wird, egal, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, Herkunft, Religion oder andere zum Ausschluss qualifizierende Eigenschaft er hat.

Alte weisse Frau

Ich bin ein Unmensch. Der zweitgrösste im System. Ich bin zwar eine Frau und damit eigentlich eine Unterdrückte im patriarchalischen System, aber ich bin weiss. Und damit bin ich nach dem alten weissen Mann die zweitgrösste Unterdrückerin und Rassistin. Allein meine Hautfarbe macht mich dazu. Der Rassismus ist mir durch die Geschichte und die mir gehörenden Privilegien, als weisse Frau in einem Land wie der Schweiz leben zu können, eingeschrieben. Wenn ich behaupte, nicht rassistisch zu sein, sondern im Gegenteil sogar gegen Rassismus zu schreiben, mich einzusetzen, ignoriere ich nur die Fakten, heisst es. Ich schaue nicht hin. Und ich habe mich nicht genug informiert.

Da sitze ich nun mit dem Stigma «weisse Frau» und frage mich, ob das nicht auch eine Form des Rassismus ist: Ich werde nicht als Individuum wahrgenommen und bewertet, sondern als Teil einer Gruppe schubladisiert und angeprangert. Aber auch darauf haben die selbsternannten Kämpferinnen (es sind mehrheitlich, wenn nicht fast ausschliesslich Frauen) eine Antwort: Es kann kein Rassismus sein, da ich nicht auf eine Jahrhunderte alte Geschichte der Unterdrückung zurückblicken kann. Ich war durch die Geschichte hinweg als weisser Mensch immer privilegiert. Den Feminismus, die Unterdrückung der Frau ignorieren wir nun mal, denn das ist zweitrangig. Ich bin in meinem Opferstatus – wir sind alle per se definierte Opfer – weniger wert als eine schwarze Frau. Es steht mir nicht zu, auf Missstände hinzuweisen, die ich in der Gesellschaft sehe, da diese allesamt viel weniger ins Gewicht fallen als die, mit welchen schwarze Menschen, allen voran schwarze Frauen zu kämpfen haben.

Nun möchte ich keineswegs behaupten, es gäbe keinen Rassismus und es gäbe keine Menschen, die ihn am eigenen Leib auf grausamste Weise erfahren müssen. Er existiert und jeder Fall ist einer zu viel. Auch sitzt er sicher in vielen Köpfen fest, manifestiert sich in deutlichen und weniger deutlichen Zeichen. Dass dies thematisiert werden muss, steht ausser Frage. Es steht auch ausser Frage, dass wir hinschauen müssen als Nicht-Betroffene und zuhören müssen, wenn Betroffene davon erzählen. Sie müssen eine Stimme haben und gehört werden. In meinen Augen wäre es sinnvoll, wenn wir dann gemeinsam hinstehen und etwas dagegen tun würden. Ich bin der Überzeugung, dass man mit vereinten Kräften mehr erreicht als allein, dass man mit Blick auf das Verbindende statt immer auf das Trennende weiter kommt auf dem Weg hin zu einer (sozial) gerechten Welt.

Nun gibt es im Netz auch Stimmen, die finden, ich hätte gefälligst zu schweigen zu Rassimus, da er mich nicht betreffe. Ich müsste mich – so diese Stimmen – still und voll Scham über meine Hautfarbe und Schuld wegen meiner Herkunft in die Ecke setzen und reuig die Anschuldigungen anhören. Ich müsse mich entschuldigen dafür, dass ich weiss bin und damit Teil eines unterdrückenden Systems. Das allerdings werde ich nicht tun. Ich bin in diese Welt geworfen worden wie jeder andere Mensch auch. Ich habe mir weder Herkunft noch Hautfarbe ausgesucht, habe versucht, mit allem, was ich kann, bin und will, ein guter Mensch zu sein. Ich habe mich für Gerechtigkeit eingesetzt, stehe hin, wenn ich Unrecht sehe, helfe, wenn ich kann. Es ist sicher so, dass auch mir Fehler unterlaufen sind, dass auch ich unsensibel gehandelt oder gesprochen habe. Ich bin froh, wenn man mich darauf aufmerksam macht, ich lerne gerne dazu. Ich schätze den offenen Dialog, höre gerne andere Argumente, prüfe sie, ändere meine, wenn ich mich im Irrtum sehe. Ich möchte das gleiche Recht aber auch haben.

Ich wünsche mir eine Welt von Menschen unter Menschen. Ich möchte eine Welt, in der jedes Individuum gesehen wird, wie er ist, nicht was er ist. Wir alle haben uns nicht ausgesucht, wo und womit wir auf die Welt kamen, wir haben es dann aber – mehr oder minder – in der Hand, der zu werden, der wir sein wollen. Wir sind in erster Linie nicht weiss, schwarz, schwul, Frau, Mann oder Juden, wir sind in erster Linie existierende Wesen, Menschen. Würden wir uns als das begegnen, müssten ganz viele Kämpfe wohl nicht ausgefochten werden.

Nun weiss ich auch, dass wir davon weit entfernt sind. Nur: Wir werden nie dahin kommen, wenn wir immer wieder neue Fronten aufmachen, wenn wir neue Gegensätze bilden, wenn wir uns gegen immer wieder andere abgrenzen. Das Verbindende wird uns zu Menschen unter Menschen machen, nicht das Trennende. Im Wissen, dass die Energie immer der Aufmerksamkeit folgt, sollten wir unseren Fokus darauf legen.

Tagesgedanken: Nach eigenen Überzeugungen leben

Wenn man an Simone de Beauvoir denkt, steht einem oft das Bild einer starken, selbstbewussten Frau vor Augen, die eines der grossen Standardwerke für/über die Frau geschrieben hat: „Das andere Geschlecht“. Simone de Beauvoir ging ihren Weg, und sie wählte einen, der für Frauen damals nicht üblich war.

Sie studierte Philosophie an einer angesehenen Universität unter vorwiegend Männern, und sie schloss als eine der Besten ab. Sie wählte für sich ein Leben, das unabhängig und selbstbestimmt war, und sie widmete es dem, was sie tun wollte: dem Schreiben. Sie kämpfte für das, was ihr wichtig war, allem voran ihre Freiheit. Sie nahm sich das Recht heraus, ihr Leben als die, die sie sein wollte, zu leben, ohne Rücksicht auf Konventionen und gesellschaftliche Ansprüche. Dass sie damit immer auch aneckte, Argwohn und Kritik auf sich zog, liegt auf der Hand. Auch wurde sie als Frau oft nicht ernst genommen, stand als Philosophin mehrheitlich im Schatten ihres Lebensgefährten Sartre (dieser sah das nie so und verdankt bei Lichte betrachtet einige der ihm zugeschriebenen Gedanken Simone de Beauvoir) – das traurige Los vieler Frauen der (wirklich nur?) damaligen Zeit.

Doch da war eine andere Seite: Als sie sich in der Mitte ihres Lebens in den Schriftsteller Nelson Algren verliebte (wohl ihre grosse Liebe, auch wenn sie Sartre immer an erster Stelle in ihrem Leben behielt), wurde sie bei ihrem gemeinsamen Leben plötzlich zur fürsorglichen Frau, stellte ihm Apfelschnitze hin, sorgte für ein ansprechendes gemeinsames Liebesnest, übernahm also wie selbstverständlich die typischen Frauenaufgaben. Sie hörte damit nur dann auf, wenn Sartre sie plötzlich brauchte, dann liess sie alles stehen und liegen (eigenes Schreiben, Ferienpläne mit dem geliebten Mann, etc.) und folgte seinem Ruf.

Es scheint, ihr ging es wie vielen von uns im Leben: Wir wissen tief drin, was wir wollen, was wir fühlen, haben Ideale und Vorstellungen, Theorien und Ansprüche – und lassen diese im tatsächlichen Miteinander sausen, indem wir in althergebrachte Muster verfallen, patriarchische Rollenmuster übernehmen und leben. Wir wollen den eigenen Vater nicht vor den Kopf stossen, keinen Streit mit dem Partner, keine Diskussion mit dem guten Freund – und schlucken Dinge runter, die eigentlich für uns nicht in Ordnung sind, die dann wie ein Kloss im Magen sitzen und das Gefühl hinterlassen: Wieso bloss? Wieso lebe ich immer wieder entgegen meiner eigenen Überzeugungen? Und über allem steht die Frage: Wie reagiere ich das nächste Mal besser?

Nicht für den Profit

Die Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit sind wohl zwei der am schwierigsten auszuhaltenden. Um ihnen zu entgehen ist man oft zu vielem bereit, macht Zugeständnisse, die einem eigentlich nicht entsprechen. Zwar ist das Resultat davon nur eine Folge der Ohnmacht und nicht etwa eine Befreiung, aber zumindest fühlt sich die Situation für den Moment besser an. Ein selbstbestimmtes Leben ist auf diese Weise nicht möglich. Durch jedes Zugeständnis, durch jedes Aufgeben der eigenen Position gibt man ein Stück der eigenen Würde auf, weil man sich etwas unterordnet, wozu man bei Lichte betrachtet nicht stehen kann. Stück für Stück wird man aus Angst und gefühlter Schwäche zum Gehorchenden, statt das Leben in die eigene Hand zu nehmen.

In der Literatur findet sich eine Gegenposition zu dieser Haltung: Christa Wolf hat mit ihrer Kassandra eine Figur geschaffen – angelehnt an die griechische Mythologie -, für welche die Selbstbestimmung an oberster Stelle steht. Die mit der Sehergabe versehene Kassandra wird aus verschmähter Liebe mit einem Fluch belegt: Sie sieht alles voraus, aber niemand glaubt ihr. Sie muss zusehen, wie Menschen in ihr Unglück rennen trotz ihrer Warnung. Da sie nicht nur in Bezug auf das Schicksal anderer hellsichtig ist, sondern auch auf das eigene, sieht sie ihren eigenen Tod voraus. Auch das kann sie nicht zum Einlenken und Nachgeben bewegen, sie geht dem Tod mutig entgegen mit dem Vorsatz, bis zum Schluss ihre Bewusstheit und Autonomie zu wahren. 

Das Buch zeichnet anhand einer griechischen Sage das abendländische Patriarchat nach, es zeigt die Macht zur Unterdrückung und die Forderung nach Gehorsam. Bleibt dieser aus, folgen Konsequenzen. Es zeigt aber auch einen Weg des Widerstandes auf. Kassandra entscheidet sich für ihre Selbstbestimmtheit, sie nimmt ihre Rolle als Aussenseiterin an, um authentisch leben zu können, sie unterwirft sich nicht der Macht eines Mannes, um ihr Schicksal zu drehen. 


„Ich will die Bewusstheit nicht verlieren, bis zuletzt.“

Es ist wohl menschlich, ab und zu den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Zudem ist es sicher nicht zu empfehlen, sehenden Auges in den Tod zu gehen. Zum Glück haben die meisten Entscheidungen im Leben keine so weitreichenden Folgen, doch auch schon bei weniger gravierenden Konsequenzen sind viele bereit, eigene Werte aufzugeben. Vor allem, wenn der eigene Erfolg auf dem Spiel steht, verschliesst man gerne die Augen vor einer weitreichenderen Gerechtigkeit, man nimmt eigene Vorteile in Kauf, obwohl man weiss, dass sie anderen zum Nachteil reichen. Für die eigene Bequemlichkeit ignoriert man auch zu oft die weitreichenden Auswirkungen des eigenen Tuns. Das ist wohl menschlich, führt aber weder zu einer gerechteren und gleichberechtigteren Gesellschaft, noch werden wir auf diese Weise finanzielle und ökologische Probleme abwenden.  

Wir werden nicht von heute auf morgen die Welt verändern (wieso eigentlich nicht?), aber wir können zumindest hinschauen, wo wir uns selbst im Leben aufgeben, wo wir unsere Werte verraten, wo wir unseren Überzeugungen widersprechend handeln. Indem wir das eigene Tun hinterfragen und vielleicht auch ändern, tragen wir immerhin unseren Beitrag zu einem grossen Ganzen bei. Tun wir das nur alleine, müssen wir vielleicht auf einen Erfolg verzichten zugunsten eines moralischen Verhaltens, aber: Tun es mehr und immer mehr, wird dieses Verhalten die alten Strukturen überwinden helfen, und dann geht es uns allen besser. So oder so bin ich der festen Überzeugung, dass es dem eigenen Gewissen und damit auch Wohlbefinden dienlich ist, sich nicht zum Preis des Gehorsams und den daraus resultierenden Profit zu verkaufen.

Tagesgedanken: Mein Platz in der Welt

Seinen Platz in der Welt finden – das ist wohl für viele selbstverständlich, sie finden sich in dieser Welt, in die sie geboren wurden und leben ihr Leben, ohne dieses und die Welt zu hinterfragen. Andere hadern mehr damit, sie sehen eine Welt, in welcher sie sich nicht wohl, nicht gesehen fühlen, und haben doch keine andere als die des eigenen Rückzugs, was zwar eine momentane Erleichterung, aber kein lebenswertes und lebensmögliches Leben darstellen würde, sind wir doch immer auf die Mitwelt angewiesen, können nicht ohne sie sein – gerade darum ist der Halt in ihr wohl so elementar und es nagt tief, wenn man ihn für sich nicht findet. 

Simone de Beauvoir litt unter den Einschränkungen und vielen Verboten ihrer Kindheit, schon früh regte sich in ihr ein Freiheitsdrang und die Überzeugung, das eigene Leben selbst in die Hand nehmen zu wollen. Als es dann nahezu so weit war, stellte sich diese teilweise Freiheit doch als schwieriger dar als erhofft, da sie bei allem Sehnen unvertraut und noch nicht gewohnte Lebenswelt war:

„Das Übel, an dem ich litt, bestand in Wahrheit darin, dass ich aus dem Paradies der Kindheit vertrieben war und meinen Platz unter den Menschen noch nicht gefunden hatte.“

Wie man doch verklärt, was war, wenn das Neue noch nicht ist, was man sich davon erhofft. Das war nicht der einzige Kampf von Simone de Beauvoir. Dazu kam das eigene Gefühl des Minderwerts. Dass dieser nicht aus dem Nichts einfach da war, liegt auf der Hand:

„Gewiss bedauerte ich nicht, eine Frau zu sein; ich zog im Gegenteil grosse Befriedigung daraus. Meine Erziehung hatte mich von der geistigen Unterlegenheit der Frau überzeugt, die auch von vielen meiner Geschlechtsgenossinnen zugegeben wurde.“

Anfangs traute sich Simone nicht, mit den männlichen Kommilitonen zu sprechen, sah sie diese doch ihr überlegen. Als sie nach einigen Gesprächen dann doch merkte, dass dem nicht so war und sie durchaus etwas zu sagen hatte, kam langsam das Selbstbewusstsein. So oder so verfolgte sie immer ehrgeizig ihre Pläne und Träume für ihr Leben: Unabhängig sein und Schreiben. Das war ihr Ziel und das sollte sie auch erreichen – und das schon bald in einer lebenslangen Gemeinschaft mit einem anderen grossen Denker: Sartre.

„…sein Geist war immer wach. Er kannte keine Erschlaffung, Schläfrigkeit, Gedankenflucht, Abschweifung, Ermattung, aber auch keine Vorsicht und keinen Respekt. Er interessierte sich für alles und nahm niemals etwas als selbstverständlich hin.“

Diese Offenheit des Denkens, diese Vorurteilslosigkeit, war es vielleicht auch, die dazu führte, dass Sartre Simone de Beauvoir nie geringachtete, dass er hinschaute und sah, was sie zu bieten hatte, was in ihr steckte. Er spornte sie an, ihre Ziele nie aus den Augen zu verlieren:

„Auf alle Fälle solle ich mir das bewahren, was das Schätzenswerteste an mir sei: meinen Hang zur Freiheit, meine Liebe zum Leben, meine Neugier, meinen Willen zum Schreiben.“


In Sartre fand sie den Mann, mit dem sie all das leben konnte, was sie wollte, denn:

„er war der Doppelgänger, in dem ich in einer Art von Verklärung alles wiederfand, wovon ich auch selber besessen war. Mit ihm würde ich immer alles teilen können.“

Vielleicht ist man dann in der Welt zu Hause, wenn man sich selbst treu bleiben kann und in dieser Selbsttreue und dem Verwirklichen des eigenen Seins begleitet und verstanden wird. Und manchmal muss das nicht von der ganzen Welt passieren, manchmal reicht einer, der einem die Welt ist.

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Leseempfehlung: Simone de Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Tagesgedanken: Wenn der Spass aufhört

Da sitzt man in geselliger Runde, ist in ein Gespräch vertieft, und plötzlich kommt ein Gefühl auf: Irgendwie passt das so nicht. Das, was der andere gesagt hat, beleidigt, verletzt mich. Nur: Was nun? Wie reagieren? Soll ich es ihm sagen? Soll ich einfach schweigen, das Gesagte ignorieren und die aufkeimenden Gefühle runterschlucken?

Grundsätzlich müsste man es wohl ansprechen, doch wenn man das tut, hört man oft „das war doch nur ein Witz“ (hahaha), „sei doch nicht so empfindlich“ (Augenrollen) und fühlt sich dadurch nur noch schlechter. Wenn man es dann immer noch nicht witzig findet, ist man humorlos oder eine Mimose.

Nun mag es sein, dass viele Witze und Bemerkungen nicht verletzend gemeint sind, nur: Wenn man merkt, dass es doch verletzt, finde ich es angebracht, damit aufzuhören. Wie sagte schon Schiller:

„Wohl lässt der Pfeil sich aus dem Herzen ziehn,
Doch nie wird das verletzte mehr gesunden.“

Witze, die nur der eigenen Belustigung (und eventuell der Dritter) dienen, sind nicht lustig, sondern ein Zeichen von persönlicher Profilierung. Sie schaffen Hierarchien von denen, die wissen, was lustig ist, und denen, die diese für den eigenen Spass instrumentalisieren. Zu viele haben sich angewöhnt, das stillschweigend hinzunehmen, um noch mehr Verletzungen zu vermeiden. Zu viele wurden genau dazu erzogen, zu viele wurden dahingehend geprägt. Ich denke nicht, dass das ein guter Weg ist. Die Verletzung ist trotz allem da, sie wühlt einfach im Innern, die Möglichkeit, dass das Gegenüber sensibler wird, ist so nicht gegeben.  Und: die gefühlte Ohnmacht ist immer wieder eine zusätzliche Verletzung des eigenen Selbstwerts. Zudem:

„Wer die Schlechten schont, verletzt die Guten.“ (Publius Syrus)

Kate Manne thematisiert das in ihrem Buch „Down Girl“:

„Daraus folgt, dass wir Grund haben, kritisch zu sein und an unseren Instinkten zu zweifeln, wenn wir den Eindruck haben, eine Frau „spiele das Opfer“, ziehe die Gender-Karte oder sei allzu dramatisch… Ihr Verhalten mag deshalb herausstechen, weil wir es nicht gewöhnt sind, dass Frauen in diesen Zusammenhängen das ihnen Zustehende einfordern.“

Misogynie findet oft im Kleinen statt, in so genannt witzigen Bemerkungen, die bei näherem Betrachten aber eigentlich abwertend sind. Wir Frauen werden oft dazu erzogen, still zu sein, diese Dinge hinzunehmen, nicht zu laut aufzubegehren. Und: Werden wir beleidigt und klagen das lautstark an, werden wir belächelt und gar verspottet, wir hören Aussagen wie „Nun hab’ dich doch nicht so!“,  oder „Das war doch nur witzig gemeint“ und dergleichen mehr. Wir werden in die Ecke der Spassbremsen gestellt, der Humorlosen und Verbissenen. Und viel schlimmer noch: Wir fühlen uns auch so.

Witze, die Menschen herabsetzen (oder von denen sich Menschen herabgesetzt fühlen), sind nicht lustig. Sie sind beleidigend und unnötig. Humor ist eine Tugend und das Leben ist schöner damit, dies gilt aber nur, wenn die Witze nicht dazu dienen, Hierarchien zu schaffen, den einen über den anderen zu stellen. Witze sollten nie verletzen, sie sollten nie beleidigen. Tun sie das, sind es keine Witze, sondern Gemeinheiten. Und das muss gesagt werden dürfen. Wer das nicht begreift, hat nicht nur ein Humor-Problem, sondern auch eines im respektvollen Umgang mit Menschen. Dies dem Frieden zuliebe zu ignorieren, mag eine lange eingeübte Verhaltensweise sein, aber keine, welche auf lange Frist jemandem dient. Schon gar nicht den so Herabgesetzten.

Tagesgedanken: Scheinkämpfe

Ich bin müde. So viele Missstände in der Welt, es gäbe viel zu tun. Und immer höre ich: Ach, das ändert sich nie. Ach, deine Gedanken sind doch Utopien. Gerechtigkeit? Abschaffung von Armut? Träum weiter. Und ja, ich wünsche mir, dass aus den Träumen Realität wird. Für alle. Und höre die Stimme: «Bist du eine Philosophin…»

Ich bin müde. Bei Diskussionen um den Feminismus höre ich oft, den brauche es nicht, Männer seien auch Arme, alle Fragen beträfen nicht nur Frauen. Das ist wohl wahr und ich bin überzeugt, dass die feministischen Ziele allen dienen würde. Ich solle es Humanismus nennen, wenn es alle beträfe. Aber das würde die jahrzehntelange Unterdrückung von Frauen ausblenden, die es anzugehen gilt. Es würde ausblenden, dass Frauen mehrheitlich betroffen sind bei Ungleichheiten. Das Ziel des Feminismus ist es, diese zu beseitigen, damit alle in einer Welt leben können, in welcher sie als die, welche sie sind, gleiche Chancen, Möglichkeiten und Rechte haben, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sexualität, etc. 

Das Argument, dass im Begriff «Feminismus» die Frau drinstecke, kommt oft gleich hinterher als Erklärung, wieso dieser nicht taugt. Und oft kommt er von denselben, welche die gendergerechte Sprache belächeln, finden, bei der männlichen Form sei die Frau mitgedacht, das müsse reichen. Wieso ist es dann ein Unding, beim Feminismus den Mann mitzudenken?

Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe nicht, wieso man gegen Begriffe kämpft, wieso man Unterdrückung schönreden will. Ich verstehe nicht, wieso man so viel Energie in Scheinkämpfe legen, wieso man sich für Träume rechtfertigen muss. Und manchmal denke ich: Ach, lass es doch sein, Sandra, vielleicht haben sie alle recht und du bist schlicht eine idealistische, verblendete Philosophin, die sich in überflüssigen Gebieten bewegt. Und dann schaue ich auf die Welt und denke: Nein!

Vielleicht hatte Rilke recht, als er sagte:

„Du musst das Leben nicht verstehen, 
dann wird es werden wie ein Fest.“

Tagesgedanken: Es recht machen wollen

Ich staune immer wieder, wie tief gewisse Prägungen sitzen. Was ich als kleines Mädchen gelernt habe, leitet auch heute noch oft mein Denken, Fühlen, Handeln. Der Gedanke, ja nichts falsch zu machen, nur bloss nicht aufzufallen, der Anspruch, genügen zu wollen und das Gefühl, doch nicht (gut) genug zu sein – all das sitzt tief. Im Bemühen, es allen recht zu machen, ignoriere ich oft meine eigenen Bedürfnisse oder bin ihrer gar nicht wirklich bewusst, ich versuche mich anzupassen, mich passend zu machen, und merke oft zu spät, dass es für einen mindestens nicht passt: Mich. Erich Fromm schreibt in seinem Buch „Authentisch leben“,

„[…] dass wir Gedanken, Gefühle, Wünsche, ja sogar Sinnesempfindungen haben können, die wir subjektiv als unsere empfinden, obwohl sie uns von aussen suggeriert wurden und uns daher im Grunde fremd sind und nicht das, was wir wirklich denken, fühlen und so weiter.“

Eigentlich weiss ich selber, dass das Bemühen, mich zu verbiegen, um alles richtig zu machen, unsinnig ist, da ich mich so eigentlich verleugne und auf diese Weise sowieso keine wirkliche Begegnung mit einem anderen Menschen zustandekommen kann, denn: Der findet mich ja gar nicht in mir. Eine Beziehung bedingt ein gegenseitiges Interesse am Anderen, auch oder gerade in seinem Anderssein. Trotzdem ich das alles weiss, fällt es schwer, danach zu handeln, die Angst vor Ablehnung ist gross, weil ich das Verhalten ja durch ebendiese gelernt habe. Es braucht Mut, auszubrechen und zu lernen, dass ich genug bin, wie ich bin, dass ich es nicht recht machen muss, dass es in Beziehungen und im Sosein kein richtig oder falsch gibt. Dazu gibt es einen schönen Spruch von Rumi:

„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Hier können wir uns begegnen.“

Tagesgedanken: Feminismus überflüssig?

Feminismus braucht es nicht mehr, alle Probleme sind gelöst, wir leben in einer gleichberechtigten Welt (zumindest in den meisten westlichen Ländern).

Klar, noch immer versucht jeden Tag ein Mann, seine (Ex-)Partnerin umzubringen und jeden dritten Tag gelingt es. Sterben muss sie, weil sie eine Frau ist und nicht so gehorcht, wie Frauen das in den Köpfen dieser Täter sollen. Und ja, häusliche und sexuelle Gewalt findet mehrheitlich gegen Frauen statt. Und ja, der Gender pay gap ist noch immer vorhanden und Haus- und Sorgearbeit sind noch immer ignoriert oder abgewertet. Auch Armut betrifft weltweit mehrheitlich Frauen.

Wenn man diese Dinge schreibt, kommt sicher jemand daher und findet:

Männer aber auch.

Ja, es gibt auch Ungerechtigkeit gegen Männer, auch Männer werden umgebracht, erleben sexuelle Gewalt, werden unterdrückt, sind arm. Aber weniger, und: Sie blicken nicht auf eine Jahrhunderte dauernde Geschichte der Unterdrückung zurück. Diese steckt im Feminismus drin, drum ist er kein Humanismus, zumal dieser alles andere als eine frauenfreundliche Denkrichtung war. Man denke nur an Rousseau in „Emile“:

„Ihnen [den Männern] gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen. Geht man nicht bis auf dieses Grundprinzip zurück, so entfernt man sich vom Ziel, und alle Vorschriften, die man ihnen macht, können weder zu ihrem noch zu unserem Glück dienen.

All das macht nicht im Kleinen Halt, es hat globale Auswirkungen. Länder mit autokratischen Regierungen und patriarchalen Strukturen sind mehr betroffen von Armut und Hunger (es gibt keine Demokratie mit Hungersnöten), es gibt in ihnen mehr innerstaatliche Gewalt und Unterdrückung, und sie sind mehr in internationale Konflikte verwickelt. Menschenrechte werden da mit Füssen getreten und es sind mehrheitlich Frauen, die sich für diese einsetzen.

Vielleicht braucht es den Feminismus doch noch? Ich bin davon überzeugt.

Tagesgedanken: Würde als Frau

In seinem Buch „Die Würde ist antastbar“ behandelt Ferdinand von Schirach in einem Essay die Frage der Gleichstellung der Frau. Er zeigt fragwürdige Haltungen in der Politik zu diesem Thema auf (nicht ganz aktuell, es gibt in Deutschland durchaus Hoffnung auf eine Verbesserung durch die aktuelle Koalition, allen voran Annalena Baerbock) und listet Zahlen aus Vorständen und Führungspositionen. Und man sitzt da und fragt sich, wie es möglich ist, dass der Frauenanteil in Vorständen grosser Firmen nur 3% beträgt, in Führungspositionen ist der Satz etwas höher, aber bei weitem nicht annähernd ausgeglichen. Nur mangelnder Einsatz und fehlende Bereitschaft kann nicht der Grund dafür sein.

Als Aristoteles seine Idee einer guten Gesellschaft formulierte, sprach er von gleichen Rechten für alle. Damals war klar, dass „alle“ nur freie Männer einer gewissen Klasse meinte. Sklaven, Arbeiter und Frauen waren ausgeschlossen aus diesem „alle“. Wenn man seine Schriften heute liest, denkt man, diese Bewertung sei antiquiert, doch die tatsächlichen Zahlen sprechen eine andere Sprache – immer noch. Die Aussage von Mary Shear:

„Feminismus ist die radikale Auffassung, dass Frauen Menschen sind.“

ist also nicht obsolet, sondern offensichtlich noch nicht in allen Köpfen in ihrer ganzen Tragweite angekommen. Zwar erkennt man Frauen durchaus als Menschen im Sinne des Menschseins, aber eben nicht im Sinne eines teilhabenden, gleichwertigen Menschen. Frauen sind eher „die Anderen“, die auch noch da sind, wenn die Welt verteilt ist unter denen, die eben „die Einen“ sind. Aus dieser Haltung leitet Simone de Beauvoir den Titel ihres Hauptwerkes ab („Das andere Geschlecht“) und das Buch ist aktuell wie eh und je.

Wir haben also noch viel zu tun, um auch zu den Einen zu gehören. Denn: Es steht uns zu. Alles andere spräche uns unsere Würde als Mensch ab. Wobei der Konjunktiv falsch gesetzt erscheint…


Interessantes Buch zum Thema Sichtbarkeit von Frauen im Literaturbetrieb:

Nicole Seifert: Frauenliteratur

Tagesgedanken: Haltung bewahren

Nach einer etwas nachdenklichen Phase, weil ich mit mir und dem Gefühl, (gewissen Ansprüchen) nicht zu genügen, haderte, kam ich zum Schluss, mir ein neues Motto zu setzen:

„Ich bin nicht auf dieser Welt, um so zu sein, wie du mich gerne hättest.“

Ich erkannte, dass diese Haltung die einzig heilende sein kann, denn ansonsten würde ich mich aufreiben an den von aussen gesetzten Ansprüchen und Forderungen, die bei Lichte betrachtet wenig mit mir persönlich zu tun haben, sondern mit verschiedenen Rollen, in die mich andere zwängen (wollen). Bei näherem Hinsehen, fiel mir auf, dass ich mit meinem Bestreben, es allen recht zu machen, zu gefallen, mich einzufügen, genau das mache, was von Frauen so oft erwartet wird und womit sie auch über Jahrhunderte klein gehalten wurden: Bloss nicht auffallen, nett lächeln, gefallen, sich kümmern, lieb und brav sein. Sonst wurde man schnell kritisch beäugt und mit netten Sprüchen wie „oho, die hat die Hosen an“, „Mannsweib“, „Emanze“ und ähnlichem bedacht (und das sind noch die harmlosen Formen).

Ich habe vor einiger Zeit (und damit eher spät in Anbetracht meines Alters) begonnen, mich mit Feminismus auseinanderzusetzen und erkannt, dass dies meine Themen sind, dass ich da einiges auch an eigenen Erfahrungen und Gedanken beizutragen habe. Ich war wenig erstaunt über die Reaktionen, die von Belächeln über abgedroschene Sprüche bis hin zu offener Ablehnung reichten. Und ich fing für mich an, Ausflüchte zu suchen und schlussendlich „gewichtigere Themen“ – im Nachhinein wohl, um die Konfrontationen zu umgehen und: gefälliger zu sein. Ich bin zum Schluss gekommen, dass es nun endlich reicht. Ich hoffe, in Zukunft mit einem gepflegten „scheiss drauf“ souveräner hinstehen und meine Sicht mit mehr Selbstvertrauen vertreten zu können. Wem das nicht passt, der kann das gerne äussern, ich muss lernen, damit umzugehen, frei nach Kant als mein eigener Gesetzgeber. Wem sonst sollte ich die Macht über mich und mein Denken und Tun übergeben?

Tagesgedanken: Freiheit

Als Simone de Beauvoir jung war, gab es einen zentralen Wunsch: Sie wollte frei sein (und schreiben). Der Wunsch entsprang wohl vor allem dem Umstand, dass sie sehr eingeschränkt aufwuchs, mit vielen Verboten und Geboten, von aussen aufgestellte Mauern gegen die eigene freie Entfaltung. Es gibt aber auch die eigenen Schranken, die, welche man sich selber errichtet. Oft haben sie ihren Ursprung in eingeprägten Mustern, die aus der Kindheit stammen, sie äussern sich in Stimmen, die einen selber geformt haben. Das meint Simone de Beauvoir wohl mit diesem Satz aus dem Buch „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“:

„Das Schlimmste aber, wenn man ein Gefängnis mit unsichtbaren Mauern bewohnt, ist, dass man sich den Schranken nicht bewusst ist, die den Horizont versperren.“

Was heisst Freiheit? Ich würde sie so definieren, dass mir ein Leben möglich ist, in welchem ich meine Fähigkeiten nach meinen Wünschen und Absichten entwickeln kann, mir die Möglichkeiten dazu offenstehen. Vielen Menschen auf dieser Welt ist das nicht möglich, sie haben keinen Zugang zu ausreichender Ernährung, Bildung, Gesundheit. Noch immer sind es mehrheitlich Frauen, die darunter leiden. Auch wenn es in unseren Breitengrade sicher besser ist, so finden sich auch hier immer noch strukturelle Benachteiligungen von Frauen, Ungleichbehandlungen, die die Freiheit massgeblich einschränkten. Simone de Beauvoir sah uns hier in der Pflicht:

„Der Frau bleibt kein anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten. Diese Befreiung kann nur eine kollektive sein.“

Es geht nicht an, nur für uns selber zu schauen, denn Unterdrückung ist selten ein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Es ist ein Problem, das in den Köpfen der Menschen sitzt und da ersetzt werden muss durch eines der gleichberechtigten Mitmenschlichkeit oder wie Hannah Arendt es ausdrückt: Weltgestaltung. Schön wäre es, wenn wir uns dieses verinnerlichen würden:

„Das eigene Leben hat einen Wert, so lange man dem Leben anderer einen Wert zuschreibt.“ (SdB)

Seyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit

Warum Liebe politisch ist

Inhalt

„Ich schreibe, weil mich die Welt zutiefst beunruhigt. Buchstaben machen die Unruhe für mich fassbar. Und ich schreibe, weil ich Veränderung will.“

Wer glaubt, dass Liebe Privatsache ist, täuscht sich gewaltig. Liebe findet nicht im luftleeren Raum statt, Liebende sind keine unbeschriebenen Blätter. Durch die kulturelle und gesellschaftliche Prägung haben wir alle Muster und Bilder verinnerlicht, die wir in unsere Liebe, in unser Begehren hineintragen. Wen wir begehren oder begehren dürfen, ist oft von ganz vielem gesteuert. Und wehe, wenn unser Lieben nicht dem entspricht, was der gesellschaftlichen Norm entspricht, dann sind wir in Gefahr, Diskriminierung und Gewalt zu erleben.

Seyda Kurt erzählt einerseits ihre eigene Geschichte mit den lange verinnerlichten Mustern, die es für sie zu durchbrechen galt. Andererseits beleuchtet sie die althergebrachten Beziehungsmodelle und plädiert für einen Bruch mit diesen, um eine gerechtere Gesellschaft ohne Diskriminierungen zu schaffen.

Weitere Betrachtungen

„Strukturelle Privilegien legen sich gleichsam wie eine Schutzschale um manche Körper und bewahren sie davor, gewisse Formen der Gewalt zu erfahren.“

Wer der gängigen Norm entspricht, lebt in einer sehr privilegierten Welt, in welcher er von Gewalt, Abwertung und Diskriminierung verschont ist. Oft sind wir uns dessen nicht bewusst und tragen sogar noch dazu bei, diese toxischen Strukturen aufrecht zu erhalten. Seyda Kurt zeigt auf, inwiefern die landläufig als normal angesehene monogame, heterosexuelle Beziehung sich als Normalität in unseren Köpfen und in unserem Begehren eingenistet hat, und sie ruft dazu auf, damit zu brechen.

Die aktuell sehr breit vertretene Auffassung, dass eine offene Beziehung, mehrere Partner und homosexuelle Erotik die freie und wirklich gefühlte Form sei, die monogame heterosexuelle nur alten Mustern und Zwängen aufsitzt, hat auch in diesem Buch wieder eine Vertreterin. Es mutet dabei komisch an, in einem Plädoyer für mehr Offenheit und Toleranz auf die Verurteilung des von der Autorin als nicht mehr der Zeit entsprechenden Beziehungsmodells zu stossen. Ich bin durchaus der Meinung, dass jeder auf seine Weise den von ihm gewünschten Menschen (oder auch mehrere) lieben soll, nur sollte das alle Formen beinhalten, auch die monogame heterosexuelle, die nicht immer nur auf Mustern, nicht wahrem Begehren fusst.

„Jemand kann dich lieben und dich gleichzeitig unterdrücken, dich nicht beachten, wenn du deine Stimme erhebst. Es ist Zeitverschwendung, immer auf die Liebe zu verweisen. Stattdessen müssen wir auf die ungleiche Verteilung von Macht verweisen, die hierarchischen Strukturen auflösen, in denen die einen immer unten und die anderen immer oben stehen.“

Es gibt immer wieder Stimmen, welche die Liebe allmächtig sehen. Wenn nur die Liebe da ist, wird alles gut. Leider ist das zu kurz gedacht. Auch in Liebesbeziehungen kann es zu Gewalt kommen, auch in Liebesbeziehungen können Hierarchien existieren, auch in Liebesbeziehungen kann einer unterdrückt werden. Dies muss nicht aus mangelnder Liebe oder Boshaftigkeit geschehen, es können auch tief verinnerlichte Muster und Veranlagungen Auslöser von all dem sein. Oft passiert ganz viel davon unbewusst, wird von beiden (allen) Beteiligten nicht wahrgenommen. Dagegen können wir nur angehen, wenn wir uns dieser Möglichkeiten bewusster werden, wenn wir hinschauen, wie und was wir eigentlich leben, und uns immer auch fragen, ob wir das so wirklich wollen oder aber nur hinnehmen, weil es „normal“ ist, oder wir nicht wüssten, wie wir es anders haben könnten.

„Ich kann und will Diskriminierungen nicht gegeneinander aufrechnen… Privilegien sind oft formbar, anpassungsfähig, mehrdeutig. Sie sind nicht universell. Ihre politische Wirkkraft ist stark gekoppelt an Kontexte und historische Gegebenheiten.“

Es gibt verschiedene Gründe für Diskriminierung: Hautfarbe, Geschlecht, Religion, sexuelle Ausrichtung, etc. Sie wirken sich in verschiedenen Situationen verschieden aus. Oft treten sie auch kombiniert auf. Hierarchien zu schaffen, welches die am schlimmsten betroffenen Opfer seien, dient der Sache nicht, da sie nur Spaltung unter den Opfern provoziert, statt diese zu vereinen im gemeinsamen Kampf gegen Diskriminierung auf allen Ebenen. Intersektionalität ist gefragt, nicht Hierarchie oder neue Formen des Ausschlusses.

Persönlicher Bezug

„Je konkreter ich meine Bedürfnisse formuliere, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich und andere Menschen sie befriedigen können. Desto verständlicher mache ich für mich und andere Menschen Verletzungen, an denen ich leide. Vielleicht hilft es mir zu heilen.“

Ich neige dazu, meine Bedürfnisse hintenan zu stellen und schweigend die anderen zu erfüllen. Ich merke zwar, dass ich innerlich ab und zu damit an Grenzen stosse, doch es fällt mir schwer, das zu durchbrechen, da ich ja genügen möchte, es den anderen recht machen möchte. Auf Dauer geht das selten gut, die eigene Unzufriedenheit wächst, weil man sich nicht gesehen fühlt, weil man zu kurz kommt. Und irgendwann ist auch das Fass voll und es kommt zu einer Reaktion, die aus dem Anstau von unbefriedigten Bedürfnissen resultiert und in der aktuellen Situation nicht angemessen ist.

„Doch gerade im Kontext romantischer Liebe habe ich oft Angst, konkret zu werden. Denn je konkreter ich formuliere, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass meine Bedürfnisse jenen anderer Menschen widersprechen. Dass ich vielleicht verurteilt werde.“

Schweigen aus Angst, abgelehnt zu werden – das ist der sicherste Weg ins Unglück. Und doch erscheint es oft als einfachster Weg.

Für mich hat das Buch ein paar interessante Einblicke gewährt, ein paar Denkanstösse gegeben, es brachte aber wenig Neues (Bücher rund um die Themen boomen grad, ich habe ja einige besprochen in der letzten Zeit, und sie erzählen alle in etwa das gleiche) und war mir teilweise zu sehr auf neue Beziehungsformen ausgerichtet und zu verallgemeinernd ablehnend gegenüber anderen.

Fazit
Ein gut lesbares Buch über die Liebe, Liebesformen und die Bedeutung von gesellschaftlichen Strukturen für dieselbe.

Autorin
Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin und ist Journalistin und Moderatorin. Sie schreibt unter anderem für taz. Die Tageszeitung und ZEIT ONLINE. In der Kolumne Utopia bespricht sie für das Theater-Onlinemagazin nachtkritik.de kulturelle Repräsentationen von Liebe und Zärtlichkeit auf Theaterbühnen. Auf Twitter schreibt sie unter @kurtsarbeit über politische und soziologische Belange.

Angaben zum Buch
Herausgeber: HarperCollins; 7. Edition (20. April 2021)
Taschenbuch: 224 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3749901142

Julia Cruschwitz/ Carolin Haentjes: Femizide. Frauenmorde in Deutschland

Inhalt

„Frauenmord ist keine Familientragödie.
Frauenmord ist keine Beziehungstat.
Frauenmord ist kein Eifersuchtsdrama.
FRAUEN WERDEN GETÖTET, WEIL SIE FRAUEN SIND.
ES HEISST FEMIZID.“

Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet, einfach weil sie eine Frau ist. Jeden zweiten Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten – und das sind nur die bekannten Fälle. Viele Kinder werden durch solche Taten traumatisiert, weil sie dabei sind, oder auch umgebracht. Hunderte Kinder werden so jedes Jahr zu Halbwaisen.

Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes wollen mit ihrem Buch „Femizide“ aufrütteln und ein Thema ins Bewusstsein bringen, welches viel zu wenig bekannt ist. Sie haben dazu mit Menschen aus relevanten Gebieten wie der Wissenschaft, der Polizei, Sozialarbeit oder dem Rechtssystem geredet, liessen betroffene Überlebende zu Wort kommen und analysierten Studien.

Wir haben ein Problem, aber es ist lösbar – mit den nötigen Massnahmen auf verschiedenen Ebenen. Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes zeigen sie auf.

Weitere Betrachtungen

„Die Ursache der Gewalt […liegt] in gesellschaftlichen Strukturen. Männliche Machtansprüche seien in der Gesellschaft immer noch akzeptiert, die Geschlechterrollen hätten sich in der Tiefe nicht verändert, beispielsweise sei es immer noch ungewöhnlich, wenn eine Frau mehr verdiene als ihr Mann oder gesellschaftlich höher stehe, und viele Männer hätten ein Problem damit.“

Femizide sind nicht nur einzelne Gewalttaten, auch hier haben wir es mit einem strukturellen Problem zu tun. Noch immer herrscht in vielen Köpfen das alte Rollenbild der männlichen Dominanz vor, der Mann hat das starke Geschlecht auf allen Ebenen zu sein, die Frau ihm unterlegen und von ihm beschützt. Wenn ein so denkender und fühlender Mann nun in eine Situation kommt, in welcher er seine Rolle in Gefahr sieht, muss er sich wehren, das gebührt seiner Männlichkeit und seiner Ehre. Nun ist dieses Rollenbild nicht bei allen Männern gleich stark (oder überhaupt noch da) und nicht jeder mit einem solchen wird seine Partnerin irgendwann umbringen, aber das Rollenbild birgt eine Gefahr in sich, die im schlimmsten Fall tödlich ausgehen kann. Aus diesem Grund ist es wichtig, diese Rollenbilder ins Bewusstsein zu bringen und sie durch neue, gleichberechtigtere zu ersetzen.

„In der Mehrzahl der Fälle wurde mit erheblichem Aufwand reflektiert, geplant und entschlossen gehandelt… In mehr als 90% der Tötungen kam es im Vorfeld zu Stalking – das ist ein untrügliches Warnzeichen für mögliche Gewalt. Ein weiteres, starkes Warnsignal sei es, wenn Männer massive Kontrolle während der Beziehung auf ihre Partnerin ausübten.“

Femizide passieren selten aus dem Nichts und auch kaum je spontan. Sie werden von langer Hand geplant, aus einer Wut heraus, aus Berechnung, aus dem Gefühl, dass diese Frau nicht mehr zu leben verdient, weil sie eben diese Frau ist. Oft wird fälschlicherweise angenommen, in der Beziehung vorher müsste es schon zu Gewalt gekommen sein, damit die Gefahr eines Femizids gegeben sei. Was oft schon während der Beziehung passiert, ist eine sich steigernde Dominanz des Mannes der Frau gegenüber. Ihr Bewegungsradius wird eingeschränkt und kontrolliert. Dem ist nicht so. Die meisten Femizide passieren nach Trennungen, oft, wenn ein neuer Partner im Spiel ist. Im Vorfeld kam es oft zu Stalking, oft auch zu Drohungen, die leider zu wenig wahrgenommen werden, weil die Sensibilität und das nötige Wissen in dem Bereich fehlt bei den Behörden.

„Es braucht politischen Willen, damit ein Hochrisikomanagement eingeführt wird, das allen an einem Fall Beteiligten ermöglicht, die Gefahr zu erkennen und Betroffene zu schützen. Das setzt voraus, die Gefahr zu erkennen und Betroffene zu schützen. Das setzt voraus, dass auch häusliche Gewalt und Stalking als schwerwiegendes öffentliches Problem erkannt werden. Diese Haltung muss auf allen Ebenen vorhanden sein.

Persönlicher Bezug

„Verbleibt eine Frau in einer Beziehungs- oder Liebesgemeinschaft, … in der sie stets mit Misshandlungen und Demütigungen rechnen muss und aus der sie sich mit einem Mindestmass an Selbstverantwortung hätte befreien können, kann im Falle einer Körperverletzung keine staatliche Entschädigung beansprucht.“

Dies war Teil der Begründung der Ablehnung einer Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz, welches Opfern von Gewalt, welche unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden dadurch unterstützen soll. In diesem Satz zeigt sich ein grosser Teil der Problematik, nämlich das mangelnde Wissen um die Hintergründe solcher Taten. Oft geht dem versuchten Femizid eine lange Leidensstrecke der Frau voraus. Sie hat über Jahre Erniedrigungen, Gewalt und Kontrolle erfahren. Sie ist dadurch immer schwächer geworden in ihrer Selbstwahrnehmung, so dass ihr schlussendlich sowohl die Kraft wie auch der Glaube fehlt, es allein schaffen zu können. Zudem lässt ein solcher Mann seine Frau nicht einfach gehen. Entweder schafft er es, sie mit überzeugend klingenden Argumenten zu halten, oder aber er kann sie mit Drohungen in eine Angst versetzen, die jegliche Handlungsmacht der Frau auslöscht.

Das in diesem Entscheid sichtbare Unverständnis zeigt sich leider auch bei den behandelnden Behörden, so dass eine Frau, die es zur Polizei oder gar vor Gericht schafft, damit rechnen muss, nicht ernst genommen zu werden und keine dringend nötige Hilfe zu erhalten. Dafür das Risiko auf sich zu nehmen, ist doppelt schwer.

Es gibt viel zu tun, wir können das Problem der häuslichen Gewalt nicht länger ignorieren. Auf Stufe der Polizei. gibt es vielerorts Ausbildungen und Handlungsanleitungen, wodurch mehr Sensibilität und ein besserer Umgang mit diesem Problem gewährleistet ist. Sieht man teilweise Gerichtsurteile und die dahinterliegenden Begründungen (es finden sich einige in dem Buch), stehen einem die Haare zu Berge. Ich hoffe und wünsche mir, dass dieses Buch aufrüttelt, dass es an den richtigen Stellen gelesen wird und Handlungen auslöst.

Fazit
Ein analytisches, differenziertes, ausführliches Buch über Femizide, deren Hintergründe und Bedingungen sowie der offensichtlichen Mängel, die es in unserer Gesellschaft und bei unseren Behörden im Umgang damit noch gibt. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Julia Cruschwitz studierte Kommunikationswissenschaften, Hispanistik und Literaturwissenschaften und ist seit 2003 als freie Autorin fürs Fernsehen tätig. Für ihre Beiträge wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Carolin Haentjes arbeitet seit ihrem Studium der Politik-, Kultur- und Literaturwissenschaften als freie Journalistin und Feature-Autorin, unter anderem für das Deutschlandradio und den Mitteldeutschen Rundfunk.

Angaben zum Buch
Herausgeber: S. Hirzel Verlag GmbH; 1. Edition (25. November 2021)
Taschenbuch: 216 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3777630298

Svenja Flasspöhler Sensibel

Über moderne Empfindlichkeit und die Grenze des Zumutbaren

Inhalt

„Offenbar sind wir mehr denn je damit beschäftigt, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren. Doch fährt sich der Diskurs hierüber zunehmend fest: Liberale und Egalitäre, Rechte und Linke, Alte und Junge, Betroffene und Nicht-Betroffene stehen sich unversöhnlich gegenüber.“

Wir leben in einer Gesellschaft, die durch zunehmende Sensibilisierung um gegenseitige Anerkennung kämpft, die Menschen in ihrer Verletzlichkeit schützen will und dafür Mittel und Wege findet im Umgang miteinander in verschiedenen Bereichen. Svenja Flasspöhler streicht die Errungenschaften dieser Haltung heraus, beleuchtet aber auch kritisch ihre Gefahren:

Entmündigt eine Gesellschaft, die alles unternimmt, Verletzungen zu vermeiden, nicht auch das Individuum, da es dieses aus der Pflicht der Selbstbehauptung und Selbstermächtigung nimmt und es als hilfloses Opfer äusserer Umstände betrachtet? Müsste im Kampf um Emanzipation und Gleichberechtigung nicht auch das Individuum selber seine Widerstandskraft trainieren?

Entstanden ist ein gut lesbares, informatives, differenziertes Buch über die Möglichkeiten, wie ein Weg in eine gleichberechtigte Gesellschaft gelingen kann, welcher immer ein gemeinsamer sein muss.

Weitere Betrachtungen

„Unbestritten gehört es zu den Errungenschaften der Emanzipation, dass man Menschen nicht auf ihr Geschlecht reduziert, sondern für das anerkennt, was sie können und machen. Wenn es gelänge, das generische Maskulinum als universale, geschlechtsunabhängige Bezeichnungspraxis zu nehmen, die es rein formal eben ist: Böte es dann nicht ein erstaunliches emanzipatorisches Potenzial – und zwar gerade durch seine umfassende Bezeichnungskraft, die nicht nur einzelne Gruppen meint, sondern alle?“

Neben anderen Themen geht Svenja Flasspöhler in ihrem Buch auch auf die Sprache ein, die in der heutigen Gesellschaft ein Politikum geworden ist. Was darf man noch sagen und wie muss man es sagen, dass alle mit gemeint und keiner verletzt ist? In Bezug auf das generische Maskulinum bedeutet das, zu sehen, dass mit ihm kein Geschlecht gemeint ist, sondern alle unter den Begriff fallenden Einheiten. Lehrer sind damit nicht nur Männer, sondern alle möglichen Ausprägungen des Geschlechts. Da nun neue Begriffe einzuführen, bringt nicht zwingend mehr Gerechtigkeit, sondern meistens auch neue Fronten, da jeder neue Begriff wieder jemand anderen ausschließt, wie sich am Beispiel LGBTQIA+ zeigt, welcher nach und nach um einen weiteren Punkt erweitert werden musste, bis nun mit dem + alle noch nicht genannten mit gemeint sind.

„Sondern gesagt werden soll lediglich, dass – um noch mal auf Saussure und Derrida zurückzukommen – Lautbild und Vorstellung nicht unauflöslich aneinandergekoppelt sind und gerade in der Bedeutungsverschiebung emanzipatorisches Potenzial liegt.“

Sprache und ihre Bedeutung ist nicht in Stein gemeisselt, sondern unterliegt Konventionen. Je nach Zeit und Umfeld und Kontext bedeutet ein Wort etwas anderes und diese Bedeutung ist von all dem abhängig. Insofern bildet Sprache nicht die Wirklichkeit ab, sondern sie ist eine konnotierte Bedeutungszuschreibung. In Anbetracht dessen könnte es sinnvoll sein, statt Wörter auszuwechseln, sie neu zu konnotieren, sie mit einer neuen, positiven Bedeutung zu belegen. Das passierte so zum Beispiel mit dem Wort „queer“, welches seltsam, komisch heisst und damit nicht wirklich positiv wirkt. Durch eine Neubewertung steht das Wort nun für den Widerstand, es hat also quasi seinen Effekt umgekehrt, die ursprüngliche Zielsetzung der Verletzung und Abwertung wurde zum Ausdruck der Selbstermächtigung.

„Wörter haben aus psychoanalytischer Perspektive immerhin sichtbares Heilungspotenzial. Umgekehrt können sie auch, so offenbart sich an konkreten psychosomatischen Leiden, wie ein ‚Schlag ins Gesicht‘ wirken.“

Bei all dem betont Flasspöhler, dass Sprache verletzen kann und ein sensibler Umgang damit deswegen wünschenswert und nötig ist.

Persönlicher Bezug

«…dann kann sich eine funktionsfähige Gesellschaft nicht in der Aufgabe erschöpfen, Verletzungen zu vermeiden. Genauso fundamental muss die gezielte Stärkung von Widerstandskraft sein, die wesentlich ist für die Ausübung von Autonomie.»

Wir leben in einer Welt, die uns mit vielem konfrontiert, Gutem wie Schlechtem. Als Menschen streben wir danach, das Gute zu fördern und das Schlechte zu meiden. Das liegt in der Natur der Sache und unseres Wesens. So lange das eine eigene Strategie ist, schaut jeder für sich, wie er dahin kommt, möglichst viel Leid zu vermeiden. Wenn wir diese Aufgabe Gesellschaft und Staat übereignen, nehmen wir uns aus der Pflicht. Nun ist es durchaus so, dass eine Gesellschaft so gestaltet sein sollte, dass jeder Mensch sich in ihr wohl fühlen kann, keiner um sein Leben oder seine Integrität fürchten muss. Auch dem Staat fällt die Aufgabe zu, die einzelnen Menschen in grösstmöglicher Weise vor Unrecht zu bewahren.

Vergessen werden darf allerdings nicht, dass auch der einzelne Mensch durchaus etwas in der Hand hat und dies auch nützen soll. Selbstverantwortung schliesst auch mit ein, dass man selber dafür sorgt, sich so gut wie möglich aus eigener Kraft in der Welt einzurichten, sich für sich selber einzusetzen, wo man Unrecht erfährt. Es ist wichtig, die eigene Potenz zu entfalten und nicht darauf zu hoffen, dass von aussen alle Steine aus dem Leben geschafft werden. Ich mag Rilkes Sicht aufs Leben deswegen, die hinter seinem Satz „du musst dein Leben ändern“ steht. Er sieht das Leben als Kunstwerk, welches wir selber gestalten und verändern können. Den grossen Rahmen dazu haben wir, die Gesetze in unseren Breitengraden sind grossmehrheitlich so, dass sie eine gleichberechtigte Gesellschaft unterstützen und jedem Menschen seine Würde und Persönlichkeit zusprechen. An der Umsetzung können wir aktiv mitarbeiten.

Fazit
Ein sehr differenziertes Buch über die heutige Gesellschaft, ihre Empfindlichkeiten und Möglichkeiten, als Individuen in einer liberalen, demokratischen Gesellschaft ein Miteinander zu leben. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des Philosophie Magazin. Die promovierte Philosophin war leitende Redakteurin beim Deutschlandfunk Kultur, wo sie die Sendung »Sein und Streit« verantwortete. Mit Wolfram Eilenberger, Gert Scobel und Jürgen Wiebicke gestaltet sie das Programm der »Phil.cologne«, dem größten Philosophie Festival Deutschlands. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die Streitschrift »Die potente Frau« wurde ein Beststeller.

Angaben zum Buch
Herausgeber: Klett-Cotta; 4. Druckaufl., 2021 Edition (20. Oktober 2021)
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3608983357