Ein entscheidender Augenblick

Sie war mittlerweile genügsam geworden. Sie hoffte nicht mehr auf die grosse Liebe, wenn Susanne sie wieder einmal verkuppeln wollte. Schon ein netter Abend wäre gut. Ab und zu fragte sie sich, ob ihre Freundin sie wirklich kannte. Die Zweifel lagen auf der Hand bei den vorgestellten Männern. Heute stand eine Dichterlesung an. Sie liebte Lyrik, weniger aber die Lyriker, die waren ihr seltsam fremd. Und: Der Auserwählte war der Künstler himself, sicher mit weissem Schal und gegelten Haaren.

Sie schaute sich im Spiegel an. Für ihre 50 Jahre sah sie noch ganz passabel aus. Dass sie trotzdem Single war, lag wohl eher daran, dass sie insgeheim gar keine Beziehung wollte. Zu kompliziert, zu anstrengend, zu viel Risiko. Und doch war da manchmal diese leise Sehnsucht, nicht allein zu sein, sich austauschen zu können, jemanden an der Seite zu haben, der sie versteht. Ob man das überhaupt konnte? Sie verstehen? Manchmal tat sie es selbst nicht.

Sie waren die ersten, die bei der Lesung ankamen. Dabei blieb es. Der Künstler sass vor den aufgereihten Stühlen, schaute suchend umher. Sie war sich nicht sicher, ob er froh war, dass sie gekommen waren, oder keine Zeugen dieses Vorkommnisses vorgezogen hätte. Was sollte er tun? Nicht lesen? Doch lesen? Sie fühlte förmlich, wie es in ihm drehte, wie sich Selbstzweifel, Unsicherheiten, Trauer und Wut unterhielten und sich gemeinsam gegen ihn verbündeten. Das Ganze rührte sie auf merkwürdige Weise an. Da schien eine Seele genauso verloren zu sein wie sie es selbst ab und zu fühlte.

Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen. Mit einem Auge, mit dem anderen schielte er zu ihrer Freundin. Oder war es andersrum? Sie konnte es nicht genau sagen. Sie wusste nur: das war doch sehr kompliziert, anstrengend, verunsichernd. Schlicht: Nichts für sie!

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Dieser Text entstand im Rahmen der abc.etüden von Christiane, HIER die Schreibeinladung

Die Regeln: 3 Worte in max. 300 Worten, die Worte dieses Mal lauteten Dichterlesung, genügsam, verkuppeln. Sie wurden gespendet von Werner Kastens (hier sein Blog)

5 Kommentare zu „Ein entscheidender Augenblick

  1. Ja, schade, ein bisschen wenigstens. Aber gerade in so einer Situation ist es wichtig, sehr gut aufzupassen und sich selbst nicht zu überhören. Wenn sie (und er) die Kommunikation nicht aufnehmen will, dann nicht, dann ist es besser so.
    Danke, dass du mitgeschrieben hast, ich freue mich.
    Morgenkaffeegrüße ☁️☕🍪

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  2. Ich als Mann unterstelle mal, dass er mit einem Auge auf die Freundin geschaut hat, weil es ein abgekatertes Spiel war, was die Freundin arrangiert hatte, nämlich alle Karten im Vorverkauf auf sich zu ziehen, damit sie mit ihm alleine waren.

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    1. Interessante These. Funfakt: Ich hatte nicht mehr Worte, um es klarer zu schreiben: Ich dachte an Sartre, der ja sehr stark schielte. Ich meinte eigentlich ein solches Schielen, so dass immer beide Augen in unterschiedliche Richtungen gingen, man also nie wusste, wen er wirklich anschaut. Aber irgendwie gefällt mir deine Interpretation fast besser.

      Gefällt 1 Person

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