Wenn mich jemand fragt, wer ich bin, liegt die Antwort meist auf der Hand. Es ist nicht immer die gleiche, sie passt sich ein wenig dem Fragenden und seiner Intention an, aber doch: Ich bin…
- Sandra
- Philosophin
- Malerin
- Zeichnerin
- Mutter
- Frau
- Schweizerin
- Schreibende
- Fotografin
- Liebende
- ….
und vieles mehr. Und nein, die Reihenfolge ist keine Rangliste, sie ist rein beliebig.
Doch: Stimmt das? Was ist es, was ich preisgebe, wenn ich sage, wer ich bin? Und was verdecke ich? Würde ich alles sagen oder gibt es Tabus? Ist eine Beschreibung überhaupt ausreichend oder reicht das, was ich bin, nicht über alle Worte hinaus? Und wenn nicht, hätte das Gegenüber Zeit, all die Worte, die ich zu sagen hätte, anzuhören? Interessieren sie überhaupt?
Wer bin ich? Oft hilft es einem selber, sich in Schubladen zu sehen, da diese auch gefordert sind. Wohin man auch kommt, gibt es Formulare, in denen man ausfüllen muss, wer man ist – vieles vom oben Genannten kommt da vor. Nur: Bin ich das wirklich? Nur eines? Die Kombination?
Schubladen sind hilfreich, aber sie sind auch einengend. Wenn ich mich für eine entscheide, passe ich in die anderen nicht mehr rein. Und: In einer sitzend, lässt es sich oft schlecht rausschauen, was es noch alles gäbe. Und oft versagt man sich das andere bewusst, da es in der Schublade so komfortabel ist, das Draussen Gefahren bieten könnte.
Aber: Im Wissen, dass die Frage kommt, suche ich immer wieder nach Schubladen. Und keine passt auf Dauer. Weil eine einzige schlicht zu wenig ist. Denn: ich bin nicht nur eines, ich bin ganz viel. Und all die Facetten gehören zu mir – die hellen und dunkeln, die griffigen und die schwammigen, die emotionalen und die sachlichen, die genehmen und die unangenehmen. Ich bin ich. Schlussendlich. Mit allem, was dazu gehört.
Nur schon das zu sehen, ist nicht immer einfach. Es zu leben erfordert oft auch Mut. Zu sagen: Ich bin ich und eben keine einzelne Schublade, kann auf Unverständnis treffen. Die Angst, nicht akzeptiert zu sein, wenn man nicht in der richtigen Schublade sitzt, lässt oft zurückschrecken, verdecken, verstecken. Und gerade damit wohl auch anecken – wenn ich sofort bei anderen, so doch irgendwann bei einem selber. Und dann bald auch bei anderen. Weil man selten auf Dauer Teile versteckt. Und Verstecktes oft irgendwann, ganz unvermittelt, in ungemeiner Wucht ans Licht tritt.
Ich bin ich. Und ich bin viel. Und das ist gut so.
„Und es passt, was ich mir denke, auch wenn ich mich sehr beschränke, nicht auf einen Knopf an meiner Brust.“ (Reinhard Mey). Leider gibt es viele Menschen, die lieber „in einem Haufen raufen“ (ebd.) wollen, denn: „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.“ (Friedrich Schiller). „Dumm, aber viele.“ (Constantin Negruzzi, eigene Übersetzung aus dem Rumänischen).
LikeGefällt 3 Personen
Sind wir nicht auch viel zu groß und zu komplex für ein Wort als Beschreibung oder eine einzige Schublade? Lieben Gruß, Ela
LikeGefällt 2 Personen
Das denke ich auch! Und doch ist es ab und an wohl einfach (oder wird nicht weiter überlegt?), Schubladen anzulegen. Für sich und andere. Liebe Grüsse, Sandra
LikeGefällt 1 Person
Ach Sunny, ich könnte fast Wetten, dass du bei neuen Menschen einfach nur deinen erlernten Beruf nennt, so wie ich, um allen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Du bist eben ein Chamälion und das fragt man ja auch nicht, welche Farbe es nun hat.
LikeGefällt 1 Person
Ich habe doch gar keinen „Beruf gelernt“, ich habe „nur“ studiert 😉 Ich mag die Frage nach dem Beruf aber generell nicht… genau: Chamäleon.
LikeGefällt 1 Person
Chamäleon ist genau richtig, denn wir sind Teil einer Welt, in der sich alles dauernd ändert und natürlich ändern wir uns auch. Dies zu akzeptieren lässt uns gelassener leben.
LikeGefällt 1 Person
Ein Teil Anpassung , ein Teil Individualität?
LikeLike
Das hab ich nicht richtig erklärt.
Ich meine unsere Individualität und zwar auch der Teil, wo wir uns nicht anpassen, ist doch in Abhängigkeit von Ursachen entstanden, die wir nicht gemacht haben. Wir sind insgesamt Teil eines Prozesses von Ursachen und Wirkungen. Einen Teil davon betrachten wir als „Ich“, andere Teile nicht.
Beispiel: Ein Lichtstrahl bewegt sich in Richtung des Auges. Noch ist er nicht „Ich“. Jetzt trifft er auf die Netzhaut und macht dort ein Bild. Ist das jetzt schon „Ich“ oder erst, wenn die elektrischen Impulse ins Gehirn gehen und ein Bild im Bewusstsein erzeugen? Die Grenze ist willkürlich. Wenn daraus ein Gedanke entsteht, betrachten wir ihn als Teil unseres Ich. Dann handeln wir vielleicht und unsere Handlung hat in der Welt eine Vielzahl von Folgen. Die Folgen bezeichnen wir nicht mehr als „Ich.“
Noch ein konkreteres Beispiel: Mein Vater hat in der Kriegsgefangenschaft ein paar Leute kennen gelernt, die sein Interesse für Literatur weckten. Er liebte deshalb gute Bücher und fand Schriftsteller gut. Das hat er an mich weitergegeben. Ich habe mich viel damit beschäftigt und Bücher über Schriftstellerei gelesen. Diese Bücher waren wieder ein Einfluss von außen. Und je mehr ich gelesen habe, desto ernüchterter wurde ich. Mit welchen Tricks ich da zum Weiterlesen animiert werden soll, wie da genrekonform, markt-und SEO-gerecht getextet wird. -Nein, ich weiß nicht, ob ich das noch will.
Was ich „Ich“ oder meine „Individualität“ nenne ist immer in Bewegung, immer Teil der großen Kette von Ursachen und Wirkungen. Dies einzusehen hilft mir, an den Konzepten, die ich über „Mich“ habe weniger zu klammern, Entwicklungen zuzulassen, weniger zu kämpfen, freier und gelassener zu leben.
LikeGefällt 1 Person
Das sehe ich gleich. Alles ist irgendwie mit allem verbunden. Was und wer wir sind, sind wir nicht für uns allein. Thich Nhat Hanh hat dafür den Begriff des Interseins gefunden, der genau das sagt.
Danke für deinen anschaulichen und ausführlichen Kommentar.
LikeLike