Plakative Betroffenheit erwünscht

In Orlando schiesst einer in einer Bar um sich und tötet dutzende Menschen. Die Betroffenheit ist gross, der Täter wird analysiert, es kommen mehr und mehr Details ans Licht über sein Leben, seine Absichten, seine Psyche. Spekulationen über seine Motive werden gemacht. Sympathien zum IS? Antipathien gegen Homosexuelle (die Bar war ein Treffpunkt)? Die Suche wird wohl weiter gehen.

Als ob die Tat nicht schlimm genug wäre, liest man nun auf Facebook empörte Statements. Man hätte sich mit Paris identifiziert (Je suis Charlie), mit Brüssel (eingefärbte Avatar) – keiner sei nun schwul oder zeige seinen Avatar in Regenbogenfarben. Damit sei der ganze Kampf für Akzeptanz der Homosexualität dahin und jeder nicht Stellungbeziehende sei potentiell homophob. Und schlimmer: Jeder Homosexuelle dadurch ein Opfer. Irgendwie.

Ich erinnere mich noch gut an Paris und Brüssel. In der Tat war die Anteilnahme plakativ sichtbar. Das wurde aber auch bemängelt von verschiedenen Seiten. Es sei übertrieben, zu plakativ, zu oberflächlich, wenig durchdacht. Das Fehlen solcher Signale scheint nun aber zu ignorant, gar diskriminierend zu sein.

Was mir auffällt ist: Es passiert viel auf der Welt, das Angst macht. Man versucht, damit weiterzuleben, einen Weg zu finden, das Leben weiterzuleben und doch sind da die Taten, die erschüttern. Wenn man die Möglichkeit sieht, seinen Avatar bunt zu färben, denkt man vielleicht, dass man auch ein Zeichen setzen möchte. Man möchte sich bekennen und Stellung beziehen. Nur wird es so viel, man müsste täglich irgendwo Stellung beziehen. Die Welt ist gross und es passiert überall was. Alles beschäftigt, das eine vielleicht mehr, das andere weniger; die Gründe können vielfältig sein. Ob der Grad der Betroffenheit aber wirklich an den offensichtlichen und plakativen Facebookzeichen abzulesen ist, wage ich zu bezweifeln.

Wir sind Menschen in einer Welt, die im Umbruch ist. Der Umbruch zeigt sich oft beängstigend und gewaltsam. Jeder Mensch geht anders damit um, kalt lässt es wohl kaum einen – ganz tief. Von aussen dahin zu gehen und andere abzuurteilen, weil sie zu viel, zu wenig, falsch öffentlich agieren ob des Unheils, das auf der Welt passiert, erachte ich als wenig konstruktiv. Erstens ist das plakative Zeigen wenig aussagekräftig in Bezug auf die wirkliche Tiefe des Mitgefühls, zweitens geht es den Kritisierenden wohl meist eher um eigene Befindlichkeiten oder Profilierung, denn um wirkliche Sorge um die tatsächlichen Opfer und drittens sehe ich wenig Sinn darin, sich in den sozialen Medien mit Argumenten zu bekriegen, wenn man eigentlich den realen Krieg der einen gegen die anderen anprangern sollte/wollte.

Die Welt ist im Umbruch und was passiert, macht Angst. Wir könnten alle morgen da sein, wo irgendeiner einen Anschlag verüben möchte – aus welchen Gründen auch immer. Das Leben geht weiter, die Angst müssen wir irgendwie ausblenden. Wäre es da nicht schöner, wir würden das miteinander tun, statt Kleinkriege anzuzetteln? Wäre es nicht sinnvoller, der wirklichen Opfer zu gedenken – jeder auf seine Weise –, statt sich selber zum Opfer einer als falsch definierten Trauer zu erküren? Wäre es nicht ein guter Anfang, Toleranz und Akzeptanz zu leben, statt zu be- und zu verurteilen, was den eigenen Massstäben nicht genügt? Denn: Sind die eigenen Massstäbe wirklich die absolut richtigen? Für einen selber wohl schon, doch worauf gründen sie? Und ist nicht gerade die Absolut-Setzung eigener Masstäbe eines der grossen Übel auf dieser Welt?

8 Kommentare zu „Plakative Betroffenheit erwünscht

  1. Sehr aktzentuierter Beitrag, zu dem ich nichts beitragen kann, außer warum ich bei Paris und Brüssel Anteil genommen habe. Es sind Städte die ich persönlich gut kenne. Wenn Trauer plakativ sein muss, würde ich einfach die Weltkarte abbilden, denn jede Minute geschehen überall Greueltaten, leider.

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  2. Was mich extrem nervt und besorgt ist die Instrumentalisierung jeglicher Vorkommnisse zur Profilierung der eigenen politischen Idee und das vorallem auch im aktuellen amerikanischen Wahlkampf.

    Und das, obwohl die Ereignisse in Paris und Brüssel mit Orlando überhaupt nicht vergleichbar sind und sowohl plakativ wohlgemeinte wie dito diskriminierende Vorschläge nichts zur Verbesserung beitragen.

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    1. Sehe ich eben genauso. Schlussendlich sind es überall Menschen. Wer nun Nationen oder sexuelle Ausrichtungen in die Waagschale werfen will, die angemessene Trauer zu bestimmen – und genau das tut man auch, wenn man eine dem eigenen Gefühl nicht angemessene kritisiert -, der tut eigentlich wenig anderes als die, welche das Unrecht verüben. So lange wir Menschen nicht als Menschen sehen, sondern aufgrund von Schubladisierungen Verhalten fordern, wird es nicht besser werden.

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  3. Ich gebe es zu, auch ich war Charlie und auch ich hatte den Avatar in den Farben der Trikolore. Mir hat wehgetan, was in meiner Nachbarschaft geschehen ist und was konnte ich denn sonst tun? Wahrscheinlich tstvich es natürlich aus Betroffenheit, aber auch ausaus meiner Hilflosigkeit. Aber inzwischen nach den Weiteten Vorfällen in Belgien, in Istanbul und in … kneife ich ganze fest meine Augen zu, in der Hoffnung, mich sieht vielleicht keiner.

    Danke für diesen tollen Beitrag und viel Stoff zum Nachdenken!
    Ela

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      1. Ich denke an den Fotografen Sebastião Salgado, der UNS viele Jahre lang Fotos von Orten der Armut, des Elends und der Verzweiflung schickte, um uns wachzurütteln. Irgendwann wurde er krank davon und wandte sich „positiven“ Projekten zu, u.a. einem Teilaufbau eines gerodeten Urwaldstücks in seiner unmittelbaren Heimat.

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  4. Die Welt ist aus den Fugen. Nie zuvor bekam man solche schrecklichen Ereignisse in dieser Dichte und Häufigkeit, präsentiert. Das überfordert den Menschen. Er kann nicht ständig im „höchsten Mitgefühl“ sein. Wer das suggeriert oder plakatiert, als ob er / sie das könnte, verzerrt die menschlichen Realitäten.

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