Rezension: Pauline Boss – Da und doch so fern

Abschied ohne Ende

Demenz ist eine Krankheit, die in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Kaum eine Familie, in der kein Mitglied oder Freund daran erkrankt ist. Kaum eine Familie, in der keiner einen Angehörigen eines demenzerkrankten Menschen kennt und immer mehr Menschen werden zu Angehörigen von demenzerkrankten Menschen.

Liegt bei vielen Büchern der Schwerpunkt auf der Krankheit, auf dem Patienten, wendet sich Pauline Boss den Angehörigen der Patienten zu und zeigt die Schwierigkeiten auf, mit denen diese Angehörigen tagtäglich zu kämpfen haben. Sie zeigt die Trauer über den Verlust, der doppelt schwer ist, weil der Mensch, um den man trauert, noch da ist, aber nicht als der, den man kennt, sondern in einer veränderten und sich immer weiter verändernden Form. Neben der Trauer kommen weitere Probleme wie Erschöpfung, Isolation, Hilflosigkeit und auch Wut ins Spiel. Und als ob das nicht genug wäre, stehen auch Fragen nach Sinn und Hoffnung im Raum und man kämpft mit Schuldgefühlen, wenn man sich überfordert fühlt als Angehöriger und dementsprechend auch mal handelt, wie man das nicht möchte.

Sinn und Hoffnung zu finden, das ist möglich, selbst in einer so herausfordernden Situation wie in der Begleitung einer geliebten demenzerkrankten Bezugsperson. Doch es braucht Strategien, damit dies möglich ist.

Pauline Boss hat Leitlinien entwickelt, die betreuenden Angehörigen helfen sollen, ihre schwierige Situation an der Seite eines demenzerkrankten geliebten Menschen zu meistern. Diese Leitlinien sollen helfen, die Resilienz (Fähigkeit, in Krisen auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zurückzugreifen, und daran zu wachsen) zu erhöhen und Stress abzubauen.

Eine kontinuierliche individuelle Beratung und Begleitung der Angehörigen sind wichtiger als jeder andere therapeutische Ansatz. Patienten sind das „Spiegelbild“ der Angehörigen. Wenn die Angehörigen nicht überfordert sind, nicht argumentativ, sondern verstehend mit den demenzerkrankten Personen umgehen, fühlen sich die Betroffenen sicher, und es entstehen weniger Verhaltensstörungen.

Wichtig ist wohl die Einsicht, dass es keine perfekten Beziehungen gibt, schon gar nicht in Bezug auf demenzerkrankte Menschen. Ziel soll es sein, so Pauline Boss, genügend gute Beziehungen zu haben. Dies ist nicht einfach, da man immer weiss, wie Beziehungen mal waren und nun einer veränderten Beziehung gegenüber steht, in der einem vieles fehlt, was früher Kern der Beziehung war.

Es ist besonders schwierig, einen Sinn darin zu sehen, weil ein geliebter Mensch gleichzeitig da und doch so fern ist. Die Beziehung, die Sie einmal zu ihm gehabt haben, hat sich grundlegend gewandelt. Es fühlt sich so an, als ob eine fremde Person zu Hause wäre. Nichts ist klar und endgültig. Sie befinden sich in einer Warteschleife, ohne die Möglichkeit zu trauern oder einen Sinn darin zu sehen.

Pauline Boss versucht, Angehörigen Mut zu machen, sie zeigt Wege auf, mit der schweren Situation umzugehen. Sie zeigt die Wichtigkeit, sich auch als Angehöriger eines demenzerkrankten Menschen nicht selber zu vergessen, sondern sein eigenes Leben achtsam gegen sich zu leben. Sehr zentral ist dabei auch der Umgang mit Menschen, um nicht in eine Isolation zu geraten.

Der Umgang mit Demenz ist schwer, er ist körperlich wie seelisch belastend. Die Hilflosigkeit und der Verlust der Kontrolle lösen Stress aus und die Unabwendbarkeit lässt Wut und das Gefühl von Sinnlosigkeit aufsteigen. Sich den Gefühlen zu stellen, ist wichtig, gewisse Situationen in ihrer Absurdität zu erkennen und auch darüber zu lachen, kann dem Ganzen ab und an den Schrecken nehmen. Das Akzeptieren, dass die Beziehung nicht mehr ist, wie sie mal war, aber eine neue entsteht, kann mit der Zeit entlasten und die Trauer etwas mildern.

Die Anforderungen an betreuende Angehörige sind so hoch. Wie kann ich mich da noch um mich selber kümmern?

Es ist wichtig zu sehen, dass man nicht alleine ist, dass man Hilfe annehmen darf, dass man auch zu sich schauen soll, nicht nur für den anderen da sein muss. Pauline Boss zeigt Mittel und Wege, wie man als Angehöriger einen Weg finden kann, mit den Herausforderungen der Begleitung und Betreuung eines demenzerkrankten Menschen umgehen kann. In einem Anhang findet man weiterführende Informationen und Empfehlungen der Herausgeberinnen sowie Literaturtipps.

Fazit:
Ein schwieriges Thema von einer neuen Seite angepackt. Ein Buch, das Angehörigen von Demenzkranken Mut machen und ihnen Wege zur besseren Bewältigung ihrer Rolle aufzeigen will. Sehr empfehlenswert.

 

Zum Autor
Pauline Boss
Pauline Boss, PhD, ist emeritierte Professorin an der Universität Minnesota und hielt eine Gastprofessur an der Harvard Medical School inne. Bekanntheit erlangte sie mit ihren bahnbrechenden Untersuchungen zur Stressreduktion bei Personen, deren Angehörige oder Freunde von Demenz betroffen sind.

Dr. med. Irene Bopp-Kistler (Hg.)
Irene Bopp-Kistler hat an der Universität Zürich Medizin studiert und sich zur Fachärztin für innere Medizin ausbilden lassen. Später spezialisierte sich Bopp auf das Gebiet der Geriatrie. Heute ist sie leitende Ärztin der Memory-Klinik Waidspital Zürich. Ein grosses Anliegen ist ihr die Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Sie hält Vorträge und publiziert Schriften zum Thema Demenz.

Marianne Pletscher (Hg.)
Marianne Pletscher hat seit den frühen 1970er-Jahren für das Schweizer Fernsehen gearbeitet, unter anderem als Newsredaktorin, Kassensturz- und Rundschaureporterin, Auslandkorrespondentin und Produzentin. Seit rund 20 Jahren arbeitet sie fast ausschliesslich als Dokumentarfilmerin. Zum Thema Demenz hat sie die Filme »Glück im Vergessen?« (2009), »Behütet ins gemeinsame Boot« (2012) und »Sinn und Hoffnung Finden« (2013) realisiert. Zudem ist sie als Dozentin für Dokumentarfilm tätig.

Angaben zum Buch:
BossDaGebundene Ausgabe: 240 Seiten
Verlag: rüffer & rub Sachbuchverlag (12. September 2014)
ISBN-Nr.: 978-3-907625-74-3
Preis: EUR 29.80 / CHF 36

Zu kaufen in Ihrer Buchhandlung vor Ort oder online u.a. rüffer & rub, AMAZON.DE und BOOKS.CH

 

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