Ein Apfel pro Tag

Ich nehme einen Apfel aus der Schale und betrachte ihn gedankenverloren. Er ist rot-gelb, sehr klein, sehr fest. Er hat diese leichte Maserung von oben nach unten, längliche Striche, einige kürzer, andere länger. Oben der Stiel, unten die kleine Fliege. Wieso heisst die Fliege Fliege? Heisst sie auf Hochdeutsch auch so? Ich überlege und weiss es nicht. Ich weiss auch gar nicht mehr, wie der Teil mit den Kernen drin auf Hochdeutsch heisst. Bitschgi heisst er bei uns. Wobei, was ist bei uns? Schon einige Kilometer nebenan heisst er anders. Bütschgi ist dabei noch die kleinste Variation.

Woher er wohl kommt, der kleine Apfel? Vermutlich war es am Regal im Supermarkt angeschrieben, ich habe es schlicht nicht beachtet. Ich hätte es beachten müssen. So konnte ich gar nicht wählen zwischen heimischen und fremden Äpfeln. Gibt es momentan überhaupt heimische Äpfel? Oder kommen die alle von irgendwo her? Vielleicht aus Israel. Ich stelle mir einen israelischen Bauern vor, wie er Äpfel erntet. Oder aus Afrika? Gibt es in Afrika Äpfel? Vielleicht hat der erntende Bauer gerade Streit mit seiner Frau. Vielleicht kennt er die Geschichte vom Schneewittchen und will sie an sein Leben anpassen, indem er der bösen Ehefrau den vergifteten Apfel bringt. Und so betrachtet er sehnsüchtig die rote Backe des kleinen Apfels, denkt sich aus, was er damit alles tun könnte, stellt sich die grosse Freiheit vor, die ihn erwarten würde, ohne Zank und ohne Zeter zu Hause.

„Dann packe ich meine Koffer, steige ins Boot und fahre, wohin der Wind mich treibt.“ So denkt er vielleicht. Wobei, das würde bedingen, dass er ein Boot hat und am Meer lebt. Wieso eigentlich nicht? Ein Segelboot muss es sein, denn sonst ist der Wind relativ nutzlos beim Vorwärtskommen. Ich bin noch nie mit einem Segelboot gefahren. Eine Freundin erzählte mir mal, es wäre ihr grösster Wunsch, die Segelprüfung zu machen. Sie erzählte von Wind und Meer und Freiheit. Ich sehe flatternde Haare vor mir und weiss, dass das nichts für mich wäre. Ich mag keinen Wind. Bei Wind friere ich immer. Sogar im Sommer finde ich Wind unangenehm. Die Haare im Mund und über den Augen kommen noch dazu. Die fliegen immer. Kein Erbarmen. Nicht mal Haarklammern helfen. Das machen die extra.

Mein Bauer hat vermutlich eine Glatze, darum fährt er gerne mit dem Segelboot. Ich beneide ihn. Aber vielleicht stammt der Apfel auch gar nicht von einem Bauern mit Segelboot in Afrika oder Israel. Vielleicht stammt der Apfel aus der Schweiz. Irgendwo aus dem Wallis. Wobei, das Wallis ist besser bekannt für Trauben und Aprikosen. Ich erinnere mich an meine letzte Fahrt durch die Rebberge. Es war im Winter und die Reben waren kahl und ohne Trauben. Der Gedanke an den Wein, der aus den damals nicht vorhandenen Trauben gewonnen werden könnte, liess mir doch das Wasser im Mund zusammen laufen. Ich mag Wein. Wenn er gut ist. Wallisser Wein ist sicher gut, noch lieber mag ich aber anderen Wein. Und vor allem mag ich roten Wein. Früher war ich mehr dem weissen zugetan, das hat irgendwann gedreht. Ich weiss nicht einmal wieso. Hätte Wein keinen Alkohol, ich könnte den täglich trinken. Aber das sollte man nicht tun, das wäre ungesund. So heisst es zumindest. Man streitet sich zwar, ob ein Glas pro Tag nicht doch gesund sei. Nur: es ist so schwer, nach dem einen Glas aufzuhören. Man sitzt grad so gemütlich da, eines ist auch keines und schwupps, sind es zwei, drei… Und mir wird so schnell übel. Ich vertrage nichts. Darum ist es besser, nicht täglich Wein zu trinken. Täglich einen Apfel zu essen ist aber gesund.  Man braucht dann keinen Doktor mehr. Ich beisse in die rote Backe. Zum Glück ist mein Mann kein Apfelbauer mit Schneewittchenphantasien und Segelboot.

Ein Kommentar zu „Ein Apfel pro Tag

  1. Ein wunderbarer Lese-Genuss über vermeintlich Triviales…
    Bei mir sind es mindestens zwei Äpfel am Tag und deshalb weiss ich das auch:
    Fliege = Blütenrest | Bitschgi = Kerngehäuse
    Ich gestehe aber, die Schweizer Bezeichnungen gefallen mir besser.

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