Was es ist

Claudia stand am Bahnhof und wartete. Um sie herrschte emsiges Treiben, Leute gingen, Leute kamen, alle stürmten sie an Claudia vorbei, ohne sie zu bemerken, in sich versunken, ohne Zeit, ohne Ruhe, nur dem eigenen Ziel zugewandt, den Moment missachtend. Claudia hatte Zeit. Sie war zu früh. Sie war immer zu früh. Das hatte sie von ihrem Vater geerbt. Ihr Vater war sehr streng und tolerierte keine Unpünktlichkeit. Sie erinnerte sich an einen Vorfall, als sie 10 Minuten zu spät heim kam und er mit ihr schimpfte, als ob sie ein Kapitalverbrechen begangen hätte. Er liess sie nicht mal erklären, wie es dazu gekommen war. Es war auch nicht aus Sorge, weil er dachte, ihr hätte was passiert sein können, es war einfach nur der Umstand, dass sie ihn 10 Minuten hatte warten lassen. Respektlos nannte er sie. Gedankenlos. Eigensüchtig. Das tat weh. Sie wollte es immer recht machen. Allen. Das schien unmöglich. Sie wusste es. Und doch versuchte sie es weiter.

Es zog am Treffpunkt im Bahnhof. Sie blickte die Rolltreppen hinauf und sah den dunklen Himmel über sich. Anfangs Januar wurde es früh dunkel, die Tage waren kurz. Ungeduldig blickte sie zur Uhr. Noch 15 Minuten. Dann musste er kommen. Sie freute sich sehr. Vor zwei Monaten hatte sie Thomas kennen gelernt. Sie hatte einen Beitrag im Internet von ihm gelesen, der ihr Herz berührt hatte mit der Tiefe und dem Wissen, die darin steckten. Sie hatte nicht umhin gekonnt, ihm zu schreiben und ihm das zu sagen. Nach dem Abschicken ihrer Nachricht hatte sie sich gescholten, gedacht, sich lächerlich gemacht zu haben. Und doch – sie hatte nicht anders gekonnt. Thomas fühlte sich aber gar nicht gestört und sie auch nicht lächerlich. Im Gegenteil, er hatte eine sehr liebenswürdige Mail zurück geschrieben. Und bald folgte eine Mail der anderen, sie tauschten sich aus, über München, wo er wohnte, über Literatur, über Kunst, Philosophie, sich selber. Das Leben schlechthin. Sie ertappte sich, wie sie täglich mehrmals die Mailbox anschaute, ob etwas von Thomas gekommen war. Wie gross die Freude, wenn es so war. Wie gross die Enttäuschung, wenn nicht. Und wie gross die Ungeduld bis zum nächsten Nachschauen.

Die Mails flossen bald täglich mehrmals zwischen Zürich und München hin und her. Thomas war Galerist in München. Er schrieb daneben an einem Lebenswerk über die Löcher in Menschenseelen und deren Ursachen. Jeder hat ein Loch im Leben. Das war auch Claudias Überzeugung. An einem Punkt kranken Menschen und oft ist es mangelnde Liebe, mangelnde Aufmerksamkeit. Daraus resultiert die oft verzweifelte Suche danach – oft bis hin zur Selbstaufgabe. Claudia war von Thomas in den Bann gezogen. Ihr ganzes Denken drehte um ihn. Als er sie eines Abends das erste Mal anrief, fügte sich dem Bild noch ein Teilchen hinzu. Seine Stimme war weich, warmherzig und sein Dialekt herzerwärmend. Sie liebte den Münchner Dialekt schon lange, seinem war noch ein Stück Wien beigemischt, was dem Ganzen eine spezielle Note gab. Claudia telefonierte eigentlich nicht gerne. Früher hatte sie ihr Vater ausgelacht, weil sie gleich nach der Schule mit Schulfreundinnen telefoniert hatte, was ihm ein Rätsel gewesen war, da sie sich ja eben erst getrennt hatten. Seit sie erwachsen war, telefonierte sie kaum noch. Sie wüsste nicht, wen sie anrufen sollte. Zudem kamen Anrufe meist dann, wenn man beschäftigt war. Selten sitzt man nur da und tut nichts, selten ist man bereit, einen Anruf entgegen zu nehmen, weil sonst grad nichts läuft.

Der Zeiger der grossen Bahnhofsuhr rückte nur langsam vorwärts. Es war ja immer so: Wenn man was erwartet, geht es umso länger, bis es eintrifft. Neu war diese Erkenntnis wahrlich nicht. Eigentlich mochte Claudia keinen solchen Sprüche. Sie waren zwar wahr, aber wenig originell. Doch was war heutzutage noch neu? Alles war schon mal dagewesen. Jeder Gedanke schon mal gedacht. Der Mensch erlebt selten mehr was Neues – je älter er wird, desto mehr Erfahrungen hat er schon und wiederholt sie nur noch in wechselnder Besetzung. Eigentlich eine trübe Sicht und Claudia wollte nicht Trübsal blasen, denn sie freute sich. Trotzdem konnte sie selten aus ihrer Haut. Sie war ein nachdenkliches Gemüt und alles, was ihr begegnete, regte immer zu 100 neuen Gedanken an. Und so konnte es kommen, dass sie vom einen zum andern floss gedanklich, ohne Unterlass, oft sprunghaft, so dass ihr niemand mehr folgen konnte. Oft sie sich selber nicht.

18.05 – nun musste der Zug angekommen sein. Claudia merkte, wie ihr Herz unruhiger schlug. Sie spähte neugierig in die Masse. Dann wieder zwang sie sich, wo anders hinzusehen. Sie wollte nicht allzu erwartungsvoll erscheinen. Sie könnte jemanden beobachten, dass es fast so aussah, als ob sie gar nicht wirklich wartete, sondern beschäftigt wäre. Das würde cool wirken. Aber sie musste nicht cool sein. Thomas war es auch nicht. Endlich mal ein Mann, der eben nicht cool war, sondern echt. Sie hatte in ihrem Leben genug andere kennen gelernt. Und ja, sie gab es zu, die hatten ihren Reiz. Sie konnten so schön blenden und sie liess sich viel zu oft und zu schnell blenden. Nicht weil sie geblendet werden wollte, im Gegenteil, sondern, weil sie eben nie davon ausging, dass etwas nicht wahr sein könnte. Vermutlich war sie naiv. Ihr Vater warf ihr das immer vor. Sie hörte innerlich seine Stimme: „Kind, du bist sonst so intelligent, wieso menschlich so dumm? So dumm kann man doch nicht sein.“ Offensichtlich doch…

Die coole Masche lag ihr nicht. Sie blickte doch wieder in die Richtung der Gleise, hoffnungsvoll. Sie sah in ein Meer von Köpfen, blonde, braune, schwarze, weisse, herausragende, untergehende – und in den einen herausragenden. Nicht weil er besonders gross wäre oder sonst auffällig, sondern, weil er es war. Er sah genau so aus wie auf dem Bild. Dick eingemummt – es war bitterkalt –  kam er ihr entgegen. Er umarmte sie zur Begrüssung. Wie alte Freunde. Irgendwie waren sie das. Oder was waren sie eigentlich?

Was war es, das sie verband? All die Mails, die Telefonate? Das schönste Telefonat war vor einem Tag gewesen. Sie war zum Silvester eingeladen gewesen und Punkt Mitternacht klingelte ihr Handy: Thomas. Er wünschte ihr einen guten Rutsch, sagte, wie sehr er sich freute auf ihr Treffen, auf seinen Besuch in Zürich. Claudia freute sich ebenso.

Nun war er also da. Sie liefen Seite an Seite durch die Gassen Zürichs zum Hotel, in dem Thomas ein Zimmer reserviert hatte. Er wollte nur schnell die Koffer abgeben, danach wollten sie essen gehen. Es war alles vertraut. Sie sprachen, als ob sie sich ewig kennen würden. Irgendwie taten sie das auch. Sie hatten über so viel geredet, über so viel geschrieben. Beim Essen ging das Gespräch weiter. Sie lachten, scherzten, schauten sich in die Augen. Er hatte liebe Augen. Wie auf dem Bild. Sie fühlte sich so nah, so aufgehoben, so geborgen. Sie fühlte, da sass ein Mann, ein Mensch, der sie wahrnahm. Wie sie war. Der sie so akzeptierte und toll fand. Sie kannte das nicht. Bislang kannte sie nur das Gefühl, nicht zu genügen. Es war immer zu wenig oder zu viel. In allem. Zu dumm, du gescheit, zu gross, zu klein, zu laut, zu leise. Einfach immer zu. Nie gut. Zumindest empfand sie es so. Bei Thomas war das anders.

Der erste Anruf nach dem Besuch war schön. Aber wehmütig. Die Stimme so nah, der Mensch so fern. Und doch so nah. Die Nähe zwischen Claudia und Thomas wuchs ständig. Sie hatten eine innere Verbundenheit, weil jeder beim anderen fand, was er im Leben sonst vermisst hatte. Verständnis, Zuneigung, Echtheit, Tiefe. Claudia war traurig, dass Thomas schon wieder weg war, vor allem, weil sie nun ihren Geburtstag alleine verbrachte. Er hatte ihr ein Geschenk dagelassen, einen Gedichtband von Erich Fried. Ein wunderbares Buch, es hiess „Was es ist“ – was war es? Was war es, das Thomas und Claudia verband? Liebe? Es fühlte sich so an. Was sollte es sonst sein? Was spräche gegen Liebe?

Claudia merkte, wie gut ihr Thomas tat. Und auch er sagte, dass sie seinem Leben einen neuen Sinn gebe, einen, welchen er sich immer gewünscht hatte. Beide konnten tiefe Löcher in sich und im Leben stopfen durch die Präsenz des anderen. Die gegenseitigen Besuche waren immer viel zu schnell vorbei, zurück blieben Vermissen und doch Glück über das Wissen, dass der andere auch in der Ferne nah war. Sie hatten schon ein paar Mal darüber geredet, wie es wäre, wenn Claudia nach München käme. Sie könnte in Thomas‘ Galerie arbeiten, wenn sie wollte, in der Hauptsache aber ihre Projekte verfolgen. Einfach zusammen sein, das wäre es, was sich beide wünschten. Zuerst aber stand noch ein Besuch in München an. Thomas hatte eine Vernissage organisiert. Claudia freute sich. Es war das erste Mal, dass sie dabei sein konnte bei so einem Anlass.

Claudia stand am Rand des Geschehens, neben ihr Thomas‘ beste Freundin. Eine sehr nette Frau, die Thomas viel bedeutete. Claudia konnte es verstehen. Die Gäste bestaunten die Bilder, der Künstler sass in der Mitte des Geschehens, lächelte freundlich, sichtlich zufrieden mit seinem Werk und der Wirkung, die es erzielte. Die Gesichter, die ein und ausgingen, sah man sonst in Derrick oder im Alten, alte Bekannte aus dem Wohnzimmer der Kindertage, als die Serien noch häufiger liefen. Unter den Gästen auch ein Schriftsteller mit seiner neuen Freundin. Claudias Nachbarin am Rande beäugte das Paar kritisch und konnte nicht verstehen, was sich ein Mann dabei dachte, sich eine so viel jüngere Freundin zu suchen. Dekadent nannte sie es. Dumm dazu, da sie wahre Gefühle kategorisch ablehnte in solchen Fällen, in seinem Fall Dummheit, in ihrem Geltungsdrang als Motive nannte. Claudia zuckte zusammen. Unmerklich. Äusserlich zumindest. War das wirklich das übliche Bild? Wohl schon. Sie hatte sich die Gedanken auch schon gemacht. Sie war sich nicht sicher, wie sie dazu stand. Aber sie musste sich klar werden.

Thomas war zufrieden mit der Vernissage. Er war sichtlich aufgeräumter Stimmung. Sie sassen im Restaurant bei ihm um die Ecke, tranken ein Glas Wein und liessen den Tag Revue passieren. Thomas nahm Claudias Hand. Er blickte ihr in die Augen. Er dankt ihr, dass sie gekommen war. Es hätte ihm viel bedeutet. Generell bedeute ihr seine Anwesenheit sehr viel. Endlich sei das Loch in seinem Herzen zu. Und er fühle sich wieder ganz. Thomas fragte Claudia, ob sie zu ihm ziehen wolle. Ob sie sich vorstellen könnte, seine Frau zu werden. Und bei ihm zu bleiben. Claudia zuckte zusammen. Unmerklich. Äusserlich. Sie bat sich Bedenkzeit aus. Der Abschied nahte, die Zugfahrt nach Hause war dieses Mal noch trauriger. In Claudias Kopf drehten die Gedanken. Sie fuhren Karussell. Was war richtig, was falsch? Was ist es? Was kann ich? Was soll ich? Was darf ich? Würde sie ja sagen, wäre Thomas der Dumme, sie die Geltungssüchtige. 31 Jahre. Das war eine Menge. Die Welt würde sie anstarren. Verurteilen. Aburteilen. Und mit der Welt Thomas beste Freundin. Thomas würde das nicht gut wegstecken. Das wusste Claudia instinktiv.

Es war die wohl schwierigste Mail gewesen, die sie je geschrieben hatte. Und die Antwort von Thomas war noch schwieriger – zu verkraften. Er brauche Zeit. Das wegzustecken. Abstand. Claudia musste es akzeptieren. Es zerriss sie förmlich. Nun war er weg. Weit weg. So fern. Er, der ihr näher gewesen war als selten jemand. Täglich ferner, in Gedanken täglich nah. Im Herzen sowieso. Sie konnte die Distanz nicht ewig halten. Nach ein paar Wochen schrieb sie ihm. Wollte wissen, wie es ihm ging. Er antwortete prompt. Aus einem Mail pro Tag wurden zwei, wurden Anrufe, wurde ein Besuch – wurde die erneute Frage, ob sie käme. Wurde der erneute Bruch. Der erneute Schmerz. Wurden erneut wieder vereinzelte Mails. Ein Besuch wurde besprochen – er wurde nie realisiert. Dann Schweigen. Tiefes Schweigen. Sie schrieb. Nichts kam. Sie schrieb wieder. Keine Antwort. Dann ein Anruf. Es sei alles in Ordnung. Er sei im Spital. Routine.

Claudia hörte Alarmglocken. Er hatte immer schon Probleme gehabt. Bauchweh. Unwohlsein. Wollte zum Arzt. Ihretwegen. Weil sie drängte. Und er durch sie einen Sinn sah. Den er dann verloren hatte. Nun war er wohl gegangen. Gut. Er würde sich melden, meinte er. Claudia freute sich drauf. Nur meldete er sich nicht. Ob sie ihm nochmals schreiben sollte? Oder ihn in Ruhe lassen? Sie konnte nicht. Was er wohl machte, womit er sich wohl beschäftigte? Sie suchte im Netz die Homepage seiner Galerie.

Der Boden öffnete sich, schien sie zu verschlingen. Sie fühlte nichts mehr – nur Leere. Ein grosses, gewaltiges Nichts. Das sie erstickte. Sie kriegte keine Luft mehr. Das konnte nicht sein. Das musste ein Irrtum sein. Noch weiter weg. Einfach gegangen. Ohne ein Zeichen. Einfach verlassen hatte er sie. Einfach so. Wobei: Deswegen wohl der Anruf. Doch ein Zeichen. Deshalb das eindrückliche „pass auf dich auf“. Er war weg. Einfach gestorben. Claudia starb ein Stück mit.

Vier Jahre später, Claudia blätterte wieder einmal in Frieds Gedichtband, sah sie sich die erste Seite des Buches an. Und sah, was sie davor noch nie gesehen hatte:

Was es ist…..

In Liebe Thomas

Geschrieben vor seinem ersten Besuch bei ihr. Es war ihm damals also gleich gegangen wie ihr. Sie hatte es nicht gewusst. Hatte die Signatur nie gesehen. Sah sie jetzt. Durchlebte alles noch einmal. War es richtig gewesen? Falsch? Was war es gewesen? Was war es noch? Es ist, was es ist.

© Sandra Matteotti

6 Kommentare zu „Was es ist

  1. Man(n) hat Zeit „zwischen den Jahren“ und so lese ich „hier und da, kreuz und quer“ bei DENKZEITEN, wie ich es so gerne tue… aber nach dem Lesen solch echter Lebensgeschichten kann ich nicht einfach so „weiterblättern“…

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  2. Bei vielen der hier so wunderbar beschriebenen Gefühlen, Emotionen und evtl. damit verbundener Defizite habe ich meine eigenen echten oder vermeintlichen „wiedererkannt“. Haben denn so viele oder gar alle Menschen hier die gleiche „biologische Programmierung“? Ich weiss nicht. „Loch im Herzen“ – diese Umschreibung kannte ich noch nicht, aber sie sagt so viel… alles…

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  3. Hat dies auf Denkzeiten rebloggt und kommentierte:

    Ich hole selten alte Beiträge hoch. Dieser kam mir heute in den Sinn. Ich musste ihn suchen. Und ich fand ihn.

    Die grosse Liebe. Zu wenig Mut. Zurück bleibt die Erinnerung. Und in schweren Momenten immer der Gedanke: Was hättest du gesagt?

    Ich weiss, es wäre das Richtige gewesen. Das war es immer.

    Und ab und an denke ich: Hätte ich nur mehr Mut gehabt, würde er noch leben. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ich hoffe nur, ich werde diesen Fehler nicht nochmals machen….

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