Alle anderen Kinder dürfen länger aufbleiben als mein Sohn. Alle anderen Kinder dürfen länger draussen bleiben. Die anderen Kinder haben auch weniger Regeln um TV, Computer und überhaupt. Sie dürfen all das, was mein Sohn nicht darf. Und mein Sohn findet das ungerecht. Bin ich zu streng? Sind wirklich alle anders oder sagt er es nur so?
Mein Sohn ist ein lieber Junge. War er immer. Sehr viel Charme, ruhig, will im Grunde seines Herzens niemanden verletzen. Und doch hat er eine Art an sich, die ab und an zu Tobsuchtsanfällen führt. Ein Nein, wo er es nicht angebracht findet und er vergisst sich, spürt sich nicht mehr, steigert sich in eine Spirale von Ausbrüchen verbaler Natur, immer beleidigender, immer lauter, immer wütender. Und natürlich ist man die Böse in dem Spiel, man hat das Nein gesetzt. Und selbst wenn man neun Mal ja sagte, einmal nein, das Nein prägt alles. Alles vorher ist vergessen, man ist böse, schlecht, gemein. Ab und an überkommt mich die Lust, von Anfang an nein zu sagen, denn irgendwann wird ein Nein kommen und der Tag ist eh im Eimer. Wieso nicht von Anfang an? Es bleibt das Gefühl zurück, dass man schlussendlich nur verlieren kann.
Und doch: ich liebe ihn, sehr. Er ist mein Sohn. Und ich würde ihn gerne ein Leben leben lassen, das glücklich ist, das erfüllt ist. Möchte seine Augen strahlen sehen. Möchte klar auch geliebt sein als Mutter. Die Rolle der Bösen liegt mir nicht. Es tut weh, angeschrien zu werden. Es tut weh, zu hören, man sei gemein. Alle seien besser. Klar weiss ich, dass er mich liebt. Klar weiss ich, dass das Phasen sind. Und doch: sie treffen. Das Gefühl von „ich mache doch, was ich kann und es reicht doch nicht“ kommt hoch. Und das macht wütend. Und hilflos.
Wir waren eigentlich immer alleine – er und ich. Sein Vater arbeitete viel und war ganz schnell ganz weg. Er arbeitet noch heute viel. Hat kaum Zeit. Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass ich da bin. Viele Dinge waren nicht möglich dadurch. Andere waren sehr Kräfte raubend. Tags das Kind, nachts die Arbeit. Zwischendurch Nebenjobs mit Kind unter dem Arm. Schlafen? Verschieben wir auf später, so in 20 Jahren könnte Zeit sein. Das ging nicht an die Substanz, da war gar keine mehr. Und doch: es reichte nicht. Irgendwann musste ich ein Nein geben. Und dann war es nicht mehr gut genug. Aber mehr ging nicht.
Und ich ertappte mich ab und an, den Vater zu beneiden. Mit seiner Freiheit. Mit seiner vielen Zeit für sich und seine Dinge. Ein „keine Zeit“ von ihm war fast Grund, ihn noch mehr zu verehren. Ein „keine Zeit“ von mir Grund, zu toben. Wer immer da ist, hat verloren, er steht auf verlorenem Posten. War ich zu rücksichtsvoll? Habe ich mich selber zu sehr untergeordnet, zu viel getan? Wo ist der Dank? Braucht es ihn? Müssen Kinder dankbar sein? Sie fragten nie danach, auf diese Welt zu kommen, wir haben sie hineingeworfen. Ist es also nicht an uns Eltern, ihnen das Leben auch schön zu machen? Ist es nicht meine (Herzens)Pflicht, ein glückliches Kind zu haben?
Kürzlich sprach ich mit einer kinderlosen Frau übers Kinder Haben. Ich beneidete ihre Unabhängigkeit, ihre Freiheit. Sie war dabei, sich langsam damit anzufreunden, dass Kinder wohl kein Thema mehr sind in ihrem Leben – was aber nicht tragisch war, einfach irgendwie anders gedacht, nun aber durchaus auch positiv gesehen. Sie sagte beiläufig: Auf der anderen Seite des Zauns ist das Gras immer grüner. Und mir war schlagartig klar: Das ist so. Ich beneide die Freiheit der Kinderlosen, beneide den Thron des unabhängigen Vaters, beneide all die, welche sich und ihre Bedürfnisse ausleben können, während ich meine immer zurückstecke, meine Kräfte ausreize, um dann doch zu unterliegen. Den Launen eines Kindes.
Doch genau dieses Kind sagt mir, dass es mich liebt. Dass es mich braucht. Sagt mir inmitten eines heftigen Streits, dass es nirgends anders als bei mir sein möchte. Es ist leicht, nach Freiheit zu schielen, wenn man die Liebe hat. Hätte man sie nicht, wäre die Freiheit wohl einsam. Oder man stilisierte Kinderärmchen hoch, die sich um den Nacken schlingen. Fände feuchte Küsse erstrebenswert.
Ist es nicht immer so im Leben, dass man das andere, das, was man nicht hat, ersehnt? Da sieht man die Vorzüge, das, was im eigenen Leben abgeht. Und dem anderen geht es genau so. Er hat zwar die von einem gewünschten Vorzüge, ihm fehlen aber die, welche man selber hat. Und so sind wir immer damit beschäftigt, nach dem zu schielen, was wir nicht haben. Kurze lichte Momente zeigen auch das Gute, keine Frage. Das hilft, weiter zu machen. Der Mensch braucht ja die kleinen positiven Bestätigungen.
Was ist nun also richtig oder falsch? Welches Lebensmodell das beste? Während ich das schreibe, schläft das Kind, welches vorher lautstark protestierte, dass es zu früh sei, um zu Bett zu gehen. Kein anderes Kind müsse so früh zu Bett, vor allem, da gerade Ferien und zudem Feiertag sei – noch dazu Nationalfeiertag. Eben dieses Kind hatte am Morgen einen Spaziergang zu einem On-and-off-Happening für Motzanfälle gemacht, die gefallenen Worte werden hier aus Hygienegründen nicht erwähnt. Eben dieses Kind kriegte dann doch das ersehnte Feuerwerk, weil das liebende Herz ein Einsehen hatte, die Prinzipien schweigen mussten. Eben dieses Kind konnte bis fast halb elf aufbleiben, während die Mutter fast unter den Tisch fiel vor Müdigkeit. Weil man es dem Kind recht machen wollte. Und? Am Schluss Toben. Es war mal wieder nicht genug.
Doch dann… das Kind geht zu Bett. Man merkt ihm das schlechte Gewissen förmlich an. Man hört, es liebe einen. Spürt die Ärmchen. Den Kuss. Weiss, es schläft. Und ist versöhnt. Und hofft auf bessere Tage. Im Wissen, es wird wieder so. Aber was wäre besser? Besser gibt es nicht. Anders. Aber nicht besser. Was ist nun richtig? Was falsch? Einmal mehr gibt es das nicht. Es ist, was es ist.
Sehr richtig, es gibt kein falsch und kein richtig. So oft ich selbst denke „Warum kriegst du das einfach nicht hin mit eigenen Kindern?!“ so oft denke ich auch „Puh, wenn jetzt noch ein Kind ‚an dir dran‘ wäre, ging gar nicht“. Es ist was es ist, gemeckert wird immer, gezweifelt wird immer und sich gefreut und wohl gefühlt auch.Und wenn man sich ersteinmal darauf eingelassen hat, dass es kein richtig und falsch gibt, dann kann das sogar ganz befreiend sein.
Oder um den abgespacktesten aller Sätze zu bemühen: Das Leben findet nicht im Konjunktiv statt…;-)
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Der einzige Weg ist wohl wirklich der, anzunehmen, was ist. Alles andere bringt nur Frust, weil man ständig damit beschäftigt ist, was sein könnte (eben den Konjunktiv) auszumalen und wieder zu vergessen, weil er nicht eintraf.
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„Und so sind wir immer damit beschäftigt, nach nach dem zu schielen, was wir nicht haben.“
Nicht schielen – schauen. Nicht nach dem, was wir nicht haben – auf das, was wir haben. Und dabei die tiefe Ruhe spüren.
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Zum Glück. Ab und an innehalten, sehen, was ist, dankbar sein dafür und die Ruhe spüren, die damit einher geht.
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